Am Sonntagabend, dem 13. Dezember, sollte zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union nach monatelangen beinharten Verhandlungen und trotz mehrmals gerissener Entscheidungsfristen wieder einmal Schluss mit verhandlungslustig sein. Jedenfalls wollten Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an jenem 3. Advent »eine feste Entscheidung« über die Zukunft der Verhandlungen über ein Handelsabkommen treffen und verkünden. Einige Tage zuvor hatten sie nach einem Arbeitsessen in Brüssel beide bezweifelt, dass ein Abkommen über geregelte künftige Beziehungen bis zum Ablauf des Übergangszeitraums am Jahresende zustande kommen würde. Premier Johnson kommentierte das Geschehen sibyllinisch mit den Worten, es gebe »eine hohe Wahrscheinlichkeit« für eine Lösung, die »eher der australischen mit der EU entspricht als der kanadischen« – wohlgemerkt, mit Australien gibt es keinen Handelsvertrag. Und was geschah entscheidungstechnisch, als diesseits und jenseits des Ärmelkanals auf den Adventskränzen die dritte Kerze mit angezündet wurde? Der Premier und die Kommissionspräsidentin führten ein Telefonat und verkündeten anschließend in einer gemeinsamen Stellungnahme, sie fänden es verantwortungsvoll, noch eine letzte Anstrengung zu unternehmen, und hätten deshalb die Unterhändler beauftragt, die Verhandlungen fortzusetzen, um zu prüfen, »ob ein Abkommen zu diesem späten Zeitpunkt« noch erreicht werden könne.
Die EU legt ihren Verhandlungen die mit dem Königreich gemeinsam vereinbarte »Politische Erklärung« zugrunde. Nach wie vor bestehen in einigen Bereichen substantielle Differenzen, und einfach so werden die beiden Seiten gewiss nicht handelseinig. Boris Johnson beschrieb einen der entscheidenden Knackpunkte der anhaltenden Hängepartie jüngst bildhaft so: »Wenn die EU beschließt, eine teure Handtasche zu kaufen, dann muss das Vereinigte Königreich auch eine teure Handtasche kaufen, sonst drohen Zölle.« Zum Hintergrund: Offenbar will die EU dem – noch vereinigten – Königreich ab 2021 nur dann weiterhin einen zollfreien Zugang zu ihrem Binnenmarkt gewähren, wenn es die in der Union geltenden Standards im Arbeits-, Sozial-, Umwelt- und Wettbewerbsrecht einhält und keine unfairen Vorteile etwa mittels Staatsbeihilfen erringt. Das aber seien Bedingungen, so Johnson, die »kein Premierminister dieses Landes akzeptieren sollte«. Abwarten und Tee trinken.
Als das Vereinigte Königreich am 31. Januar die Europäische Union nach 47-jähriger Mitgliedschaft verlassen hatte, um gemäß dem Slogan »Take Back Control« fortan in uneingeschränkter Souveränität agieren zu können, begann gerade das eingeschleppte Corona-Virus seinen tödlichen Siegeszug durch England, Wales, Schottland und Nordirland. In der global absolut vernetzten Welt unserer Tage, das lehrt nicht zuletzt die Pandemie, ist die von Boris Johnson und den Brexiteers ersehnte absolute staatliche Souveränität nichts als Fiktion. Und daran würde selbst ein nach wie vor nicht auszuschließender No-Deal-Brexit nichts ändern. Für den übrigens durchaus Vorkehrungen getroffen werden. So bereitet in Brüssel die von Michel Barnier geleitete Taskforce für die Beziehungen zum Vereinigten Königreich (UKTF) emsig Maßnahmen für den Fall vor, dass kein förmliches (und schließlich auch ratifiziertes) Abkommen über die künftige Partnerschaft zustande kommt. Die Regierung in London wiederum hat bereits Details ihrer No-Deal-Planung veröffentlicht und ein Strategiebuch entwickelt, in dem angeblich »jedes einzelne vorhersehbare Szenario« berücksichtigt wird. Dass ab dem 1. Januar 2021 kilometerlange Staus auf den Straßen zum wichtigen Fährterminal in Dover – und auf dem Kontinent zum Terminal Calais – sowie zu den Ladestellen des Eurotunnels unvermeidbar sind, steht schon deshalb fest, weil generell spezifische Warenkontrollen nötig werden – schließlich ist das Königreich für die EU und die 27 verbliebenen Mitgliedstaaten nichts anderes als ein Drittstaat. Sollte bis Silvester kein Abkommen zustande kommen, werden die ab dem neuen Jahr erhobenen Zölle und Mengenbeschränkungen beziehungsweise die damit verbundenen Formalitäten und Kontrollen den Handelsverkehr erst einmal erheblich entschleunigen und aufstauen.
Am 31. Dezember endet der Übergangszeitraum, während dem das EU-Recht für das Vereinigte Königreich weiter gilt und sich für die Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen, Investoren, Studenten und Wissenschaftler auf dem Kontinent und der Insel nichts geändert hat, denn dann verlässt das Vereinigte Königreich auch den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion – mit oder ohne Abkommen welcher Art auch immer. Ab 0:00 Uhr treten generell zahlreiche neue Vorschriften für alle möglichen Vorgänge zwischen den in der EU verbliebenen Mitgliedstaaten und dem abtrünnigen Inselreich in Kraft. Für alle diejenigen, die Handel treiben, hat die britische Regierung einschlägige Informationen vorsichtshalber sogar in deutscher Sprache ins Internet gestellt – siehe www.gov.uk.
Vorbei ist ab der ersten Neujahrssekunde das bislang gültige Recht von uns EU-Bürgerinnen und Bürgern, im Vereinigten Königreich ohne Einschränkungen arbeiten zu können. Boris Johnson und seine Anti-EU-Mannen und -Frauen nutzen den Brexit dazu, Einwanderungswillige mittels eines Punktesystems in erwünschte und nicht erwünschte Personen zu sortieren. Voraussetzung für die Bewilligung eines Arbeitsvisums ist künftig das Erlangen von 70 Punkten. Vierzig Punkte gibt es für den Nachweis eines Arbeitsvertragsangebots für eine qualifizierte Stelle durch einen dafür lizensierten Arbeitgeber. Zehn Punkte gibt es für passable Englischkenntnisse. Die fehlenden 20 Punkte können durch den Nachweis erlangt werden, mindestens 25.600 Pfund (oder in besonderen Fällen mindestens 20.480 Pfund) im Jahr zu verdienen. Möglich ist auch der mit 20 Punkten vergütete Nachweis des Doktorgrades oder einer besonders dringend benötigten Fachausbildung. Touristen werden für eine Aufenthaltsdauer von mehr als sechs Monaten Visa zur Einreise benötigen.
Für die Briten werden die Reisen auf den Kontinent komplizierter – sie werden beim Grenzübertritt schärfere Passkontrollen erleben und länger anstehen müssen, dürfen sich nach der Einreise im Schengen-Raum maximal 90 Tage ohne Visum aufhalten, benötigen für das Auto Versicherungsbestätigungen und müssen – nachdem sie jahrzehntelang von der Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC) profitiert haben – befürchten, ab 2021 keine gleichwertigen medizinischen Leistungen bei Besuchen auf dem Kontinent zu erhalten. (Wer in Deutschland gesetzlich versichert ist, hat automatisch eine Europäische Krankenversicherungskarte. Sie bildet die Rückseite der Versichertenkarte.)
Viele Britinnen und Briten werden das Jahr 2020 vor allem wegen der Corona-Krise in keiner guten Erinnerung behalten. Die Wirtschaft geriet in die schwerste Krise seit dem Jahrtausendwinter 1708/9. Sie musste sowohl den Einbruch des Privatkonsums als auch schwache und bislang sogar sinkende Bruttoanlageinvestitionen verkraften. Die Wirtschaftsleistung wird zum Jahresende um mehr als zehn Prozent unter dem Niveau von 2019 bleiben. Zwar gewährte der Staat umfangreiche Hilfskredite und finanzierte Fördermaßnahmen, aber dennoch warnen Analysten vor einer heftigen Insolvenz- und Entlassungswelle. Immerhin verhindert die Verlängerung des britischen Kurzarbeitsmodells bis Ende März 2021 eine rasant steigende Arbeitslosigkeit. Allerdings bleibt mit 9,6 Millionen kurzarbeitenden Arbeitnehmern das Entlassungspotential extrem hoch, denn es sollen sich bereits mehr als eine halbe Million Unternehmen in großen finanziellen Schwierigkeiten befinden. Die neue Zollgrenze zur EU – mit oder ohne Einigung auf ein Freihandelsabkommen – erhöht für sie demnächst erheblich den bürokratischen Aufwand. Ganz zu schweigen von den bisher ungekannten Hürden beim Dienstleistungsexport, etwa beim grenzüberschreitenden Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Apropos Wirtschaft. Die britischen Hilfsmaßnahmen – einschließlich des »Furlough«-Programms, über das 80 Prozent des Lohns (bis maximal 2500 Pfund pro Monat) an Beschäftigte ausgezahlt werden, die wegen des Lockdowns nicht wie üblich arbeiten können – kommen weit weniger den Betroffenen zugute, als es den Anschein haben soll. Laut dem Institute for Public Policy Research (IPPR), einer als fortschrittliche Denkfabrik wirkenden Wohltätigkeitsorganisation, schützen Hilfsmaßnahmen der regierenden Tories vor allem die Banken und die Bezieher von Kapitaleinkünften, also von Einkommen, die etwa von Immobilienbesitzern durch Mieten erzielt werden. So fließen gut 45 Prozent des »Furlough«-Rettungsgeldes für arbeitende Menschen in Form von Miet-, Hypotheken- und Kreditzahlungen auf die Konten von Vermietern und Banken, geraten besonders einkommensschwache Britinnen und Briten finanziell zunehmend in die Bredouille. Dass die Maßnahmen gegen die Corona-Krise die Wohlstands- und Machtungleichgewichte zwischen den arbeitenden Armen und den Vermögensbesitzern verschärfen, belegen diverse Forschungsergebnisse. Gegenwärtig stecken im Vereinigten Königreich circa 14 Millionen Menschen in der Armut fest – mehr als ein Fünftel der Bevölkerung. Unter ihnen sind vier Millionen Kinder und zwei Millionen Rentnerinnen und Rentner. Die Corona-Krise hat bislang an die 600.000 Erwachsene und 120.000 Kinder zusätzlich in die Armut gerissen. Schwer vorstellbar, dass sich die Verhältnisse nach der völligen Loslösung von der Europäischen Union spürbar bessern werden. Auf kleine Firmen und einkommensschwache Haushalte, die ohnehin einen erheblichen Teil der Pandemiekosten tragen müssen, kommen offenbar große soziale und wirtschaftliche Risiken zu – von wegen: Take Back Control.
Gerade erschienen: Johann-Günther König: »Friedo Lampe. Eine Biographie«, Wallstein Verlag, 390 Seiten, 28 €