Wer besinnungs-los Abschied vom Gestern nimmt, dem fehlt für morgen die wegweisende Gesinnung. Wen die Geschichte nichts lehren konnte, der wird womöglich dazu verurteilt sein, dieselbe Tragödie erneut zu erleben. Und sei es als Farce.
Im Mai 1957, als die »zornigen jungen Männer« mit John Osborns Theaterstück Look Back in Anger die Weltbühne betraten, war Christian Schultz zwölf Jahre alt. 15 Jahre später war er selbst ein Angry Young Men. Er fügte seinem Namen den Zusatz Gerstein bei, »um zu bekunden, dass er darunter litt, Sohn eines NS-Richters zu sein und gerne einen Mann wie den Widerstandskämpfer Kurt Gerstein zum Vater gehabt hätte«. Das Zitat stammt von dem ebenfalls 1945 geborenen und im Dezember 2018 gestorbene Publizisten Wolfgang Pohrt. Zu finden ist es in Pohrts Vorwort zu der nach 34 Jahren von Klaus Bittermann in seinem verdienstvollen Verlag Edition Tiamat wieder aufgelegten Sammlung von Porträts, Essays, Reportagen und Glossen Schultz-Gersteins. Titel: »Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten«.
Die Zornigen jungen Männer, kurz Angries genannt, hatten den Zweiten Weltkrieg nicht mehr miterlebt und blickten daher umso (gesellschafts-)kritischer auf die Nachkriegskultur. So wurden der schriftstellernde Bernward Vesper, Sohn des Nazi-Autors Will Vesper, und der österreichische Schriftsteller, Widerstandskämpfer und KZ-Häftling Jean Améry zu Vorbildern Schultz-Gersteins. Beide hatten ihre Lehre aus der Geschichte gezogen und wollten nicht, dass sie sich wiederholt.
Schultz-Gerstein studierte Germanistik und Theologie in Hamburg und Tübingen, verdiente sein Geld als Tennislehrer und schrieb ab 1970 als freier Autor für die Zeit. Zwischen 1976 und 1984 war er als Kulturredakteur beim Spiegel angestellt und anschließend für kurze Zeit beim Stern. Als er im Frühjahr 1987 mit 42 Jahren starb, krähte aus all diesen Blättern unserer ansonsten geschwätzigen Zunft kein Hahn nach ihm. Wenn überhaupt, beschränkten sich die Nachrufe auf wenige Zeilen im einspaltigen Bereich. Auch heute hält sich die Anzahl der Rezensionen des wieder aufgelegten Sammelbandes in all diesen Blättern in Grenzen. Den Grund benannte Peter Nowak im nd am 2. Januar 2022: Schultz-Gerstein war ein »Provokateur und stetiger Kritiker einer sich rechts wendenden liberalen Kulturelite«. Seine Texte seien heute »Diagramme einer verschütteten Welt«.
Versetzen wir uns also lesend zurück in die 1970er und 1980er Jahre, »in die nun endgültig vergangene gute Zeit, in der selbst Mumien noch Funken sprühen, weil ein Schultz-Gerstein sich an ihnen rieb« (Porth). Lesen wir, was von jenen Tagen übrigblieb. Entdecken wir, warum Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau fragte, ob dieser Mann »noch zurechnungsfähig« sei, warum sich Ulrich Greiner in der Zeit in einem langen Artikel gegen ihn positionierte und Buchverleger dem Spiegel mit Anzeigenboykott drohten.
1982, das Feuilleton ist aus dem Häuschen: Botho Strauß hat ein neues Buch geschrieben, »endlich wieder eine Sprache, die man in der deutschen Literatur lange vermisst hat«. Joachim Kaiser in der Süddeutschen Zeitung: »Das Erscheinen dieses Buches ist ein historisches Datum.« Schultz-Gerstein dagegen im Spiegel: Strauß laufe jeder Mode nach, um sie anschließend als Mode zu denunzieren: »Diese Philosophie ist genau das Evangelium, das der Literaturbetrieb deshalb so inbrünstig anbetet, weil es den Opportunismus der Saison-Denker, die noch in jeder Tendenzwende mit kritischem Bewusstsein sich mitgewendet haben, zur höheren Vernunft nonkonformer Intellektueller erklärt.«
Über Günter Grass schrieb Schultz-Gerstein 1986 im Stern: »Seit dem Erfolg seines 1959 erschienenen Romans Die Blechtrommel (…) neigt Günter Grass dazu, jedes Goethe-Institut, das ihn einlädt, mit dem Weißen Haus zu verwechseln und bei öffentlichen Auftritten wie sein Kollege im Vatikan urbi et orbi zu sprechen.«
Peter Handke, Rainald Goetz (»Der rasende Mitläufer«), Urs Jaeggi (»Ein Radikaler für alle Fälle«), Hans Christoph Buch, André Heller (»Melancholie ist sein Parfüm«), Peter Schneider (»Ein Genosse auf der Suche nach sich selbst«) finden sich auf dem Seziertisch wieder, um nur einige auch heute noch bekannte Namen zu erwähnen. Und selbstverständlich kriegt auch Marcel Reich-Ranicki (»Ein furchtbarer Kunst-Richter«) sein Fett weg, 1978 im Spiegel: »Mit dieser Offiziers-Kasino-Bildung des ›333 – bei Issos Keilerei‹, immer irgendeinen Ritterkreuzträger des Geistes zitierend, als wären Lessing oder Schiller Zuchtmeister und ihre Sätze Rohrstöcke, mit denen man Kinder zur Räson bringt, die ihre Suppe nicht essen wollen – nichts weiter tut Reich-Ranicki, als sich aus dem Arsenal kultureller Drohgebärden nach Herzenslust zu bedienen.«
Aber im Tagewerk Schultz-Gersteins geht es nicht nur um Literatur. Er befasst sich mit Michael Kühnen, einem Anfang der 1980er Jahre bekannten Neonazi. Spiegel 1982: »Wenn Neonazis gefährlich sind, dann in ihrer Eigenschaft als Verlierer, die Verlierer hassen.« Auf diesen Neonazi folgt passenderweise im Buch der Text über den ehemaligen baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger, Spiegel 1978: »So sehr man sich im Lauf der Jahrzehnte auch daran gewöhnt hat, dass es in Deutschland [keine] Nationalsozialisten (…) gab, geschweige denn gibt, schon gar nicht in allerhöchsten Ämtern des öffentlichen Dienstes.« Der »Richter und Strafverfolger im Dienste Adolf Hitlers« wird journalistisch gerichtet.
Der längste Text in diesem Lese-Buch enthält ein Gespräch Schultz-Gersteins mit dem von ihm bewunderten Jean Améry aus dem Jahr 1976, dessen Buch »Hand an sich legen« gerade erschienen war, ein Plädoyer für den Freitod. Verleger Klaus Bittermann schreibt dazu im Nachwort: Améry »war zurückhaltend, höflich, nachdenklich, grüblerisch. Améry löste damit bei Schultz-Gerstein etwas aus. War er bis dahin noch eingeschüchtert von der Elite mit ›ihrem herrisch-larmoyanten Gefasel vom mangelnden Geschichtsbewusstsein der Nachkriegsjugend‹, die nicht mitreden konnte, weil sie das alles nicht mitgemacht habe, jetzt stieg eine Wut in Schultz-Gerstein hoch, und diese Wut, so schrieb er, war er sich und Améry schuldig. Noch im gleichen Jahr kam es zum Bruch mit seiner Familie und zu einer Anstellung beim Spiegel, wo er an einem zentralen Ort des kulturellen Betriebs seiner Wut Ausdruck verlieh, beherrscht, treffend, mit großer Eleganz und kaltblütig.«
Das alles können Sie jetzt ja selber lesen, in diesem bemerkenswerten Band mit den vielen Portraits des »Inventars einer Menagerie namens BRD« (Pohrt).
Christian Schultz-Gerstein: Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten, 448 S., Edition Tiamat, Berlin 2021, 26 €.
Klaus Bittermann: Der Intellektuelle als Unruhestifter – Wolfgang Pohrt, eine Biographie, Edition Tiamat, Berlin 2022, 696 Seiten, 36 €.