Auch in Berlin gab es politische Schauprozesse, und an mindestens dreien war er beteiligt. Der erste fand im Frühjahr 1960 vorm Obersten Gericht der DDR statt. Und Wolff war dem wegen Mordes angeklagten Mann als Pflichtverteidiger beigeordnet. Der Beschuldigte war nicht erschienen und Wolffs Anwaltspost retourniert worden, nachdem sie in Bonn geöffnet und wieder verschlossen worden war. Kurioser Vermerk auf dem Kuvert: »Annahme nachträglich verweigert.«
Nun, überrascht hatte dies nicht. Wolffs Mandant gehörte seit sieben Jahren der Bundesregierung an, das von ihm geführte Haus hieß »Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte«, und das Land, aus dem der Brief kam, existierte in der Bundesrepublik nicht. Hinter dem angeschriebenen CDU-Politiker mit Namen Dr. Theodor Oberländer lag eine lange Nazikarriere, sie reichte bis zum Hitlerputsch 1923 in München zurück, in den er nach eigenem Bekunden allerdings »eher zufällig« hineingeraten sein wollte. Die Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, hatte er knapp zwanzig Jahre später als Offizier im »Bataillon Nachtigall« begangen – eben jenem Mordkommando, das vom deutschen Geheimdienst im Wesentlichen aus ukrainischen Nationalisten formiert worden war, die man bereits vor dem Überfall auf die Sowjetunion rekrutiert hatte. (Die antisemitischen Kollaborateure waren maßgeblich beteiligt an jüdischen Pogromen in und um Lemberg, das man »judenfrei« an die einrückende Wehrmacht übergab. Nebenbei: Kommandeur der Verbrecherbande war der Terrorist Roman Schuchewytsch, der 2007 postum zum »Helden der Ukraine« erklärt wurde. 2017 benannte der Kiewer Stadtrat unter Bürgermeister Klitschko eine Straße in der ukrainischen Hauptstadt nach ihm – sie trug bis dahin den Namen von Nikolai Watutin. Der Armeegeneral der Roten Armee hatte seinerzeit Kiew von den faschistischen Okkupanten befreit und war 1944 von einem Schuchewytsch-Kommando ermordet worden.)
Oberländer erschien also nicht zum Prozess in Berlin. So pflichtverteidigten seine beiden Anwälte – Friedrich Wolff aus Berlin hatte Verstärkung durch Gerhard Rinck aus Erfurt erhalten – einen leeren Platz. Denn auch für abwesende Kriegsverbrecher galt zunächst die Unschuldsvermutung, und auch sie hatten Rechte, auf deren Einhaltung die Verteidiger achteten. An elf Verhandlungstagen hörte das Gericht 35 Zeugen und ein halbes Dutzend Sachverständige und wälzte Akten ohne Ende. Am 29. April 1960 wurde Oberländer schließlich wegen der Erschießung von mehreren tausend Juden und Polen in Lemberg zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt.
Selbstverständlich war das ein Schauprozess, sagte später* Friedrich Wolff. »Für wen waren denn Gerichtsverfahren ohne physische Anwesenheit der Angeklagten? Natürlich doch für die Öffentlichkeit, um auf bestimmte Sachverhalte hinzuweisen und um ein moralisches Urteil zu fällen, das sich an strafrechtlichen Maßstäben orientierte. Also ein Schauprozess im Sinne von Aufklärung und gesellschaftlicher Ächtung, ein politisches Hilfsmittel im antifaschistischen Kampf der DDR gegen Nazis.«
Oberländer wurde am 24. November 1993 vom Landgericht Berlin rehabilitiert. Ohne Prüfung der Vorwürfe der Anklage von damals hob man das DDR-Urteil auf – aus formalen Gründen, »weil die Hauptverhandlung rechtswidrig in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt wurde«.
Zur Wahrheit gehört auch: Eine Woche nach dem DDR-Urteil 1960 musste Oberländer als Bundesminister seinen Hut nehmen, er gehörte allerdings weiter, bis 1965, der CDU-Fraktion des Deutschen Bundestages an. Große Teile seiner Akten in den USA – er hatte sich 1945 sofort dem US-Geheimdienst CIC zur Verfügung gestellt – waren noch in den neunziger Jahren gesperrt: aus Gründen der Nationalen Sicherheit der USA, wie es hieß. Vermutlich sind sie es noch immer.
Im Juli 1963 verteidigte Friedrich Wolff in einem weiteren Schauprozess Hans Globke, den Chef des Bundeskanzleramtes, die »Graue Eminenz« in Bonn und Adenauers Intimus. Der Generalstaatsanwalt der DDR klagte den Schreibtischtäter an, »in Berlin und an anderen Orten von November 1932 bis zur Zerschlagung der faschistischen Gewaltherrschaft im Jahre 1945 gemeinschaftlich handelnd Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen begangen zu haben«. Insbesondere warf ihm das Oberste Gericht der DDR vor, an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassengesetze und einer Vielzahl anderer Gesetze mit rassistischem Inhalt beteiligt gewesen zu sein.
Die Anklage und der Eröffnungsbeschluss stützte sich auf Artikel 6 des Londoner Statuts für das Internationale Militärtribunal in Verbindung mit Artikel 5 Abs. 1 der Verfassung der DDR. Am 23. Juli 1963 erhielt Globke eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Ein Vierteljahr später musste auch er zurücktreten, bekam aber noch rasch das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Globke wollte als Pensionär in die Schweiz übersiedeln, seine Frau hatte in den fünfziger Jahren eine Immobilie am Genfersee im Kanton Waadt erworben. Das Kantons-Parlament erklärte allerdings, nachdem Globkes Absicht bekannt wurde, es werde ihm keine Aufenthaltsgenehmigung erteilen, was damals nicht nur der Schweizer Bundespräsident mit sichtlicher Erleichterung quittierte.
»Ich agierte mit etwas mehr Routine als im Oberländer-Prozess, aber keinesfalls erfolgreicher«, resümierte Wolff in dem bereits erwähnten Gesprächsband. »An Stichworten, die ich mir für mein Plädoyer gemacht hatte, habe ich später, als ich an meinen Memoiren arbeitete, sehen können, dass dieses Verfahren im Zeichen der ‚Vergangenheitsbewältigung’ stand. So hieß es auf meinen Zetteln. Ich glaubte bis dahin, dass dieser Terminus erst nach 1990 kreiert worden sei. Es war aber alles schon einmal da, nur eben ganz anders.«
Und schließlich sein dritter, eben ganz anderer Schauprozess. Da hieß sein Mandant Erich Honecker. Und der war physisch im Gerichtssaal zugegen, weil ihn der russische Präsident an die deutsche Justiz ausgeliefert hatte. Honecker war vom Flugplatz in Tegel gleich nach Moabit eskortiert worden. Im Unterschied zu seinem Anwalt Wolff, der noch nie zuvor in dieser Haftanstalt gewesen war, kannte er diesen Knast bereits. Die Nazis hatten 1935 den Antifaschisten hier inhaftiert. Honecker beging am 25. August 1992 in dieser JVA seinen 80. Geburtstag, am 12. November eröffnete das Landgericht das Tribunal. Es lebe der Unterschied, schrieb anderntags die Berliner Zeitung: »Am Montag dieser Woche erhob sich das politische Berlin im alten Reichstag von seinen Sitzen. Es galt, einen neuen Ehrenbürger der Bundeshauptstadt zu feiern. Michail Gorbatschow badete im Jubel der politischen Klasse. Am Donnerstag erhoben sich die Zuschauer und Prozessbeobachter im Kriminalgericht Moabit. Erich Honecker, ein alter Ehrenbürger der Hauptstadt der DDR, stand vor seinem irdischen Richter«, hieß es in der Zeitung. »Und so geht die Geschichte zu Ende: Berlin hat einen neuen Ehrenbürger und Moabit einen neuen Häftling. Vergangenheitsaufarbeitung auf gut Deutsch: per Ehrenbürgerbrief und Anklageschrift.«
Friedrich Wolff erinnerte sich an die Erklärung, die der krebskranke Erich Honecker am 3. Dezember abgab. Sein Mandant habe diese »klar, fest und getragen von einer unerschütterlichen Überzeugung« abgegeben. Keine Zeichen von Schwäche, Krankheit oder gar Todesnähe habe er ausmachen können. »Meine Damen und Herren, ich werde dieser Anklage und diesem Gerichtsverfahren nicht dadurch den Anschein des Rechts verleihen, dass ich mich gegen den offensichtlich unbegründeten Vorwurf des Totschlags verteidige. Verteidigung erübrigt sich auch, weil ich Ihr Urteil nicht mehr erleben werde. Die Strafe, die Sie mir offensichtlich zudenken, wird mich nicht mehr erreichen. Das weiß heute jeder. Ein Prozess gegen mich ist schon aus diesem Grunde eine Farce. Er ist ein politisches Schauspiel.«
Und mit einigem Sarkasmus merkte Honecker an: »Man nennt die heute Verbrecher, die man gestern ehrenvoll als Staatsgäste und Partner in dem gemeinsamen Bemühen, dass nie wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgeht, begrüßt hat.«
Friedrich Wolff, als Anwalt wie als Zeitzeuge eine Legende, wird am 30. Juli einhundert Jahre alt. Dort, am Ufer des Wandlitzsees, wird es an jenem Sommertag keinen Prozess geben. Vermutlich jedoch eine Prozession von Freunden, Weggefährten, einstigen Mandanten und Genossen. Und wahrscheinlich wird er die Gäste mit seinem feinen jüdischen Humor zu unterhalten wissen, mit dem er auch sein letztes Buch beendete. Auf die Frage nämlich, ob er noch einmal jung sein wolle, sagte er: »Alles noch mal von vorn? Ich weiß nicht. Aber ich würde gern nicht sterben …«
* Friedrich Wolff/Egon Krenz: Komm mir nicht mit Rechtsstaat. Gespräch zwischen einem fast hundertjährigen Juristen und einem langjährigen DDR-Politiker, edition ost, 2021.