Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Frieden schaffen statt »Selbstkritik«

Der Krieg in der Ukrai­ne erschüt­tert die Welt gegen­wär­tig mehr als ande­re gleich­zei­tig statt­fin­den­de Krie­ge. War­um? Weil er mit­ten in Euro­pa statt­fin­det? Weil er wie aus hei­te­rem Him­mel fällt? Weil Wal­d­imir Putin den Frie­den, den der Westen für die Welt sichern will, mit Füßen tritt?

Die Empö­rung über den völ­ker­rechts­wid­ri­gen rus­si­schen Ein­marsch in die Ukrai­ne schlägt höch­ste Wel­len. In Zukunft heißt es, kön­ne Frie­den und Sicher­heit nicht mehr mit nur noch gegen Russ­land gesi­chert wer­den. Ein gigan­ti­scher Sank­ti­ons­feld­zug gegen Russ­land, eine Auf­rü­stungs­spi­ra­le ohne Glei­chen, eine schon ans Ras­si­sti­sche gren­zen­de Aus­gren­zung alles Rus­si­schen wur­de in Gang gesetzt. Wem nützt das?

Hal­ten wir doch für einen Augen­blick inne: War es denn wirk­lich so, dass der Westen, die EU, spe­zi­ell auch Deutsch­land seit dem Ende der Sowjet­uni­on alles dafür getan hat, mit Russ­land anstel­le des zusam­men­ge­bro­che­nen Systems des »Kal­ten Frie­dens« eine neue Sicher­heits­ar­chi­tek­tur für einen dau­er­haf­ten Frie­den auf­zu­bau­en, wie von Russ­land immer wie­der vor­ge­schla­gen? War­um muss­te die Ukrai­ne zwi­schen Euro­päi­scher Uni­on und Russ­land zer­ris­sen wer­den? War­um muss die Nato bis in die Ukrai­ne vor­drin­gen? War­um kann die Ukrai­ne nicht das sein, was sie aus ihrer geschicht­li­chen Natur als Durch­zugs­raum zwi­schen Osten und Westen, zwi­schen Nor­den und Süden sein könn­te: eine Brücke, die in ihrer kul­tu­rel­len, geschicht­li­chen und gei­sti­gen Viel­falt Russ­land und Euro­pa verbindet?

Über die­se Fra­gen könn­ten wir mit­ein­an­der spre­chen, statt uns an der Ver­tie­fung der ohne­hin schon ent­stan­de­nen Grä­ben zu betei­li­gen und der Hyste­rie der ideo­lo­gi­schen und mate­ri­el­len Auf­rü­stung zu verfallen.

Zum bes­se­ren Ver­ständ­nis des­sen, was die Zeit von Men­schen jetzt for­dert, denen das Bau­en von Brücken am Her­zen liegt, wird es gut sein, sich zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, was der deut­sche Bun­des­prä­si­dent Stein­mey­er nach den Ereig­nis­sen in But­scha, offen­bar getrie­ben von der mili­tan­ten Agi­ta­ti­on des ukrai­ni­schen Bot­schaf­ters Andrij Mel­nyk, glaub­te, die Öffent­lich­keit wis­sen las­sen zu müs­sen – selbst­kri­tisch, wie er es wohl ver­stan­den haben möch­te, näm­lich: er habe sich in Putin geirrt.

Wört­lich erklär­te er: »Wir sind geschei­tert mit der Errich­tung eines gemein­sa­men euro­päi­schen Hau­ses, in das Russ­land ein­be­zo­gen wird. Wir sind geschei­tert mit dem Ansatz, Russ­land in eine gemein­sa­me Sicher­heits­ar­chi­tek­tur ein­zu­bin­den« (FAZ, 5.4.2022).

Das klingt nach radi­ka­ler Selbst­kri­tik, wobei aller­dings unklar bleibt, wen er mit der ersten Per­son Plu­ral, mit »wir«, wohl gemeint haben könn­te. Aber radi­kal ist an die­ser »Selbst­kri­tik« nur die Ver­keh­rung der tat­säch­li­chen Ent­wick­lung und die bigot­te Selbst­ver­ges­sen­heit der Rol­le, die Stein­mey­er selbst als Mit­glied der deut­schen Poli­tik in die­ser Ent­wick­lung ein­ge­nom­men hat.

War es nicht Michail Gor­bat­schow, der 1989 den Vor­schlag des »euro­päi­schen Hau­ses« mach­te? War es nicht Boris Jel­zin, der in die Nato ein­tre­ten woll­te? War es nicht Wla­di­mir Putin, der anbot, die nach dem Ende der Sowjet­uni­on auf­ge­lö­ste Sicher­heits­ord­nung des Kal­ten Krie­ges durch ein Sicher­heits­ab­kom­men für ganz Eura­si­en zu erneu­ern? Waren es nicht Putin und sein Inte­rims­nach­fol­ger Dmit­ri Med­we­dew, die seit­dem immer aufs Neue den gera­de­zu schon zum Kanon gewor­de­nen Vor­schlag einer »Sicher­heits­ar­chi­tek­tur von Wla­di­wo­stok bis Lis­sa­bon« an die Nato, den »Westen« her­an­tru­gen? War es nicht Russ­land, das die­se Vor­schlä­ge vor der jet­zi­gen Eska­la­ti­on noch ein­mal, zuletzt auch ulti­ma­tiv vor­trug? Und sind nicht all die­se Bemü­hun­gen, die von rus­si­scher Sei­te kamen, schlicht gekon­tert wor­den durch die Nato-Erwei­te­run­gen, durch die EU-Erwei­te­run­gen bis an die Gren­zen Russ­lands, durch die Unter­stüt­zung bun­ter Revo­lu­tio­nen bis hin zur För­de­rung der putsch­ar­ti­gen Über­nah­me der Ukrai­ne durch die Mai­dan-Rech­te 2014 und die sich dar­an anschlie­ßen­de Blockie­rung einer Umset­zung der Mins­ker Beschlüs­se sei­tens der von der deut­schen Bun­des­re­gie­rung, der Nato und den USA geför­der­ten Kie­wer Regie­rung? Da hät­te nie­mand »ein­ge­bun­den« wer­den müs­sen, man hät­te nur bereit sein müs­sen die Vor­schlä­ge auf­zu­grei­fen und die neue Ord­nung, wel­che die Sicher­heits­be­dürf­nis­se Russ­lands und der EU berück­sich­tigt, auf Augen­hö­he mit­ein­an­der auszuhandeln.

Aber nun ist aus dem ukrai­ni­schen Bür­ger­krieg, der seit dem Mai­dan 2014 als »anti­ter­ro­ri­sti­sche Akti­on« von Kiew her gegen den Osten des Lan­des geführt wird, ein veri­ta­bler Krieg gewor­den, der die Neu­ord­nung Euro­pas, dar­über hin­aus Eura­si­ens als Gan­zem und welt­weit zu chao­ti­sie­ren droht.

Hal­ten Sie ein! kann man da nur dem zur Selbst­kri­tik berei­ten deut­schen Prä­si­den­ten und der gegen­wär­ti­gen deut­schen Regie­rung zuru­fen. Schön, wenn Sie, Herr Stein­mey­er, an so pro­mi­nen­ten Platz wie den eines Bun­des­prä­si­den­ten gestellt, Ihren Irr­tum erken­nen und ihn auch noch öffent­lich beken­nen! Der Irr­tum bestand aller­dings nicht dar­in, Russ­land nicht in »unse­re« Sicher­heits­ar­chi­tek­tur »ein­ge­bun­den« zu haben. Er bestand viel­mehr dar­in, die Vor­schlä­ge und Bemü­hun­gen um eine gemein­sa­me eura­si­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur, wie sie von Russ­land vor­ge­schla­gen wur­den, pene­trant bei­sei­te­ge­scho­ben und mit hem­mungs­lo­ser Erwei­te­rungs­po­li­tik beant­wor­tet zu haben, statt sie als Ein­la­dung zu Erar­bei­tung einer neu­en Frie­dens­ord­nung Eura­si­ens anzu­neh­men, die in der Lage gewe­sen wäre, die zer­fal­le­ne Ord­nung des Kal­ten Krie­ges zu erset­zen. Genau dar­um, um eine Ver­hand­lungs­lö­sung, muss es wei­ter­hin gehen, um den aku­ten, sinn­lo­sen Krieg zu been­den und eine durch immense Rüstungs­an­stren­gun­gen vor­be­rei­te­te Erwei­te­rung des Krie­ges abzuwenden.