Am 9. März 1919 unterschrieb der damalige Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) – zwecks Bekämpfung revolutionärer Unruhen in Berlin – folgenden Befehl: »Jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.«
Der irische Historiker Mark Jones bemerkte hierzu in seinem 2016 erschienenen Buch »Founding Weimar« (deutscher Titel: »Am Anfang war Gewalt«): »Es war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu den Schrecken des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges. (…) Ein Moment am Anfang der Weimarer Republik, der funktionell der Gewalt der Nationalsozialisten am Anfang des Dritten Reiches entsprach. Insofern gehört diesem Schießbefehl eine zentrale Position in der Debatte über die Rolle von Gewalt in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.« Doch statt diese »zentrale Position« zu übernehmen, geriet der Tatbestand in den Orkus des Vergessens – oder soll man sagen, des Verschweigens?
Klaus Gietinger, der sich vielfach publizistisch mit der gewaltförmigen Entstehungsphase der Weimarer Republik beschäftigt hat, wird nicht müde zu betonen, dass es sich hierbei keineswegs um eine Form des Standrechts, sondern um gar kein Recht handelte. Noskes Schießbefehl habe eine Vorbildfunktion für Hitlers Kommissarbefehl und dessen Kriegsgerichtsbarkeitserlass aus dem Jahr 1941 gehabt.
Eigentlicher Initiator des von Noske erlassenen Schießbefehls war der Freikorpsführer Waldemar Pabst, der auch eine zentrale Rolle bei der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts sowie im Kapp-Putsch spielte. Über Pabst hat Gietinger eine ausführliche Biografie verfasst (»Der Konterrevolutionär«) und sich in weiteren Publikationen intensiv mit dem Thema »Novemberrevolution« und der Entstehungsphase der Weimarer Republik auseinandergesetzt. Dabei taucht immer wieder die Freikorpsbewegung als ein zentrales Element auf.
Die Freikorps waren paramilitärische Einheiten, die das nach dem 1. Weltkrieg zerfallene deutsche Heer ersetzen sollten. Sie wurden von den damaligen SPD-Regierungsmitgliedern um Ebert und Noske benutzt, um aufständische sozialistische Bewegungen niederzuschlagen und den »Grenzschutz« im Osten zu betreiben. Ob die Freikorps als eine Vorhut des Faschismus betrachtet werden können – »Vanguard of Nazism«, wie der kanadische Historiker Robert G. L.Waite ein 1952 erschienenes Buch betitelte –, ist in der Historikerzunft umstritten. Klaus Gietinger macht sich nun gemeinsam mit Norbert Kozicki in »Freikorps und Faschismus – Lexikon der Vernichtungskrieger« auf, den strittigen Zusammenhang wiederum zu bekräftigen.
Mit einer »kurzen Geschichte deutscher staatlicher Gewalt«, welche die Autoren von den sogenannten Freiheitskriegen gegen Napoleon 1813 an schildern, dem späten, aber dafür massiven imperialistischen Drang nach Außen und dem Griff nach Osten, legen sie Grundlagen der Freikorpsbewegung dar. Sie schildern die Entstehung der Verbände und verfolgen deren Blutspur über Berlin, München, das Baltikum, Oberschlesien sowie ihre Rolle im Kapp-Putsch und darauffolgend im Ruhrgebiet. Wer sich über die dortigen Geschehnisse konzentriert informieren möchte, ist hier gut aufgehoben, während die Einsätze in Mitteldeutschland und der Bremer Räterepublik eher knapp geraten sind.
Die Autoren porträtieren wichtige Freikorpsverbände in Kürze, um sodann exemplarisch und ausführlich den präfaschistischen Freikorpsterror am Beispiel des »Freikorps Aulock« zu schildern, das vor allem in Schlesien sein Unwesen trieb. Gietinger/Kozicki ist zu verdanken, dieses im Geschichtsbewusstsein weniger als marginal vorhandene Geschehen ins Blickfeld zu rücken.
Dass Adolf Hitler der Freikorpsbewegung eher misstrauisch gegenüberstand, da er deren seiner Meinung nach »unpolitischen« Söldnercharakter und die in gewisser Weise vorhandene Missachtung von Autorität kritisierte, ändert nach Gietinger/Kozicki nichts an ihrer faschistischen Vorreiterrolle: »Die Freikorps waren (…) entscheidende Durchlauferhitzer für die SA, die SS und die Vernichtungskrieger vor Ort, an den Generalstabskarten und an den Schreibtischen, sie waren aber auch Impulsgeber für die neue Gewaltstufe, die die jüngeren Jahrgänge (…), die auch ohne Kriegs- und Freikorpserfahrung praktizierten.« Die Autoren weisen nach, dass etliche Personen mit Freikorpsvergangenheit in den Führungspositionen der SS, der SA, des Reichssicherheitshauptamtes, den Generalstäben, den Einsatzgruppen und auch dem medizinischen und rassenbiologischen Bereich (»Aktion T4«, »Vernichtung unwerten Lebens«) vertreten waren, darunter Himmler und Heydrich nur als die Bekanntesten. Durch in dem Buch veröffentlichten Namen, Daten und Tabellen wird klar, »dass alle wichtigen Apparate des deutschen Faschismus im Wesentlichen durchsetzt waren von ehemaligen Freikorpskämpfern (…). Der Einfluss der alten Kämpfer auf den Vernichtungskrieg war immens. Und dies sowohl in personeller als auch in ideologischer, ‹weltanschaulicher› und sozialpsychologischer Hinsicht.«
Nach der fast 150 Seiten ausführlichen »Einleitung« in die Thematik folgen im lexikalischen Teil etwa 800 kurze, manchmal auch etwas umfangreichere Biografien von Freikorpsmitgliedern, die im 3. Reich eine Rolle spielten. Mit einer wahrhaft herkulischen Fleißarbeit in Archiven und Literatur haben die Autoren die wesentlichen Fakten akribisch und prägnant zusammengetragen. Sehr interessant ist auch, dass der Werdegang der betreffenden Personen nach 1945 erwähnt wird. So erfahren wir, dass der oben erwähnte Freikorpsführer Aulock, 1948 aus der US-Gefangenschaft entlassen, im Weiteren niemals juristisch belangt wurde. Dieser Sachverhalt ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Immer wieder tauchen zwar längere verhängte Haftstrafen auf, die jedoch nach 2, spätestens 3 Jahren außer Kraft gesetzt wurden. Ganz abgesehen von den Tätern, die – wenig erstaunlich – an ihre alten Karrieren anknüpfen konnten.
Der Zusammenhang von Freikorpsbewegung und Faschismus lässt an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig. Die Leugnung dieser Verbindung erfolgt vor allem durch den »Trick«, den Faschismus in einer Art »Engführung« auf den Begriff »Nationalsozialismus« zu reduzieren. Standen nämlich einige Freikorpskämpfer den Naziführern distanziert gegenüber, begriffen sie sich doch ganz überwiegend weiterhin selbst als Faschisten.
Eine Anmerkung. Die mentale wie personelle Verbindung von Freikorps und Faschismus ließe sich ergänzen durch eine Betrachtung deutscher Kolonialgeschichte. Denn viele Freikorpsführer waren zuvor in den deutschen Kolonialgebieten tätig, in denen sie Gewaltexzesse einübten, bis zum Völkermord an den Herero und Nama im südlichen Afrika. Damit erhielt der Begriff der »Vernichtung« eine konkrete Bedeutung, womit sich eine nicht nur psychologische Blutspur bis in das 3. Reich ergab. Die Autoren erwähnen dies am Rande. Dies zu vertiefen, würde allerdings ein weiteres Buch erfordern.
Klaus Gietinger, Norbert Kozicki: Freikorps und Faschismus – Lexikon der Vernichtungskrieger, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2022, 440 S., 24,80 €.