Dies ist ein neues Kapitel in der seit Jahrzehnten immer wiederkehrenden Geschichte vom Schwanz, der mit dem Hund wedelt.
In diesem Jahr begann die Geschichte bundesweit vor aller Augen im Sommer. Plötzlich standen diese 3,70 m x 2,90 m großen Plakatwände überall im öffentlichen Raum, an Ein- und Ausfallstraßen, vor Supermärkten, an belebten Straßenkreuzungen oder einfach mitten in der Landschaft, oben links mit dem Aufdruck »Freie Demokraten«. Zwei Zauberworte, wer hört sie nicht gern: »frei« und »Demokraten«. Und darunter in Versalien: »WIE ES IST, DARF ES NICHT BLEIBEN«. Ganz rechts unten auf dem Billboard forderte ein Button in Gelb und Rot: »Alle Stimmen für die Freiheit«. Und im Bild, fast drei Meter hoch, mit Mehr-Tages-Bart und geföhntem Haar der namenlose Parteichef, im Anzug, mit weißem Hemd und Windsor geknoteter Krawatte, mit dezentem Lächeln um Vertrauen werbend, als wolle er uns einen Gebrauchtwagen verkaufen.
Dabei hat er uns schon einige Ammenmärchen verkauft. Nehmen wir als Beispiel sein Sommer-Interview im ZDF vom 15. August, Stichwort Klimawandel. Seine Zielvorgabe, freiheitlich gewendet, lautete: Vorrang für Innovation, keine Verbote. »Wir wollen mehr Freude am Erfinden als am Verbieten in unserem Land.« Weniger Subventionen für Elektroautos, kein frühes Ende von Verbrennungsmotoren, denn: »(In) den Verbrennungsmotor können wir auch synthetisches Benzin, das mit erneuerbarer Energie in Chile produziert wird, einfüllen. Und das müssen wir auch, denn wir haben ja Millionen Autos auf den deutschen Straßen. Wenn wir warten, bis die alle durch elektrische Autos ersetzt sind, dann haben wir die Zeit verloren.«
Synthetisches Benzin aus Chile, für Autos in Deutschland und anderswo? Am Tag nach dem Interview unterzog das ZDF die Aussagen des Porsche-Fahrers Lindner einem Faktencheck, überprüfte ihren Realitätsgehalt. Ergebnis: Synthetische Kraftstoffe hätten durchaus einen Markt, seien im Moment jedoch wesentlich teurer als die batteriebetriebenen Fahrzeuge. Es gebe derzeit auch schlicht zu wenig synthetischen Kraftstoff. Fazit des vom ZDF befragten Forschers: »Einen wirklich großen Durchbruch zu haben in Richtung auf private PKW, das sehe ich im Moment nicht. Ich würde da nicht meine ganze Hoffnung daraufsetzen.«
Schauen wir auf eine weitere Behauptung Lindners: Die von der FDP mitgetragene Bundesregierung – die schwarzgelbe Koalition Merkel II aus CDU, CSU und FDP, 2009 bis 2013 im Amt – habe »2009, 2010 die deutschen Klimaziele verschärft. Die sind verschärft worden gegenüber dem, was von Rot-Grün und der vorherigen großen Koalition beschlossen war.«
Das ZDF dazu: »Damit hat Lindner recht. Die Klimaziele wurden im schwarz-gelben Koalitionsvertrag von 2009 in der Tat verschärft. Aber: Dieses Versprechen wurde von den FDP-Wirtschaftsministern nicht umgesetzt. Der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle wehrte sich zum Beispiel 2010 vehement gegen EU-Pläne, mehr CO2 einzusparen.« Sein Nachfolger Philipp Rösler habe statt mehr Klimaschutz mehr Kohlekraftwerke gewollt. Er habe sein Ministerium dafür sogar eine eigene Werbekampagne entwerfen lassen: »Kraftwerke? Ja bitte!« Einmal mehr wedelte der Schwanz mit dem Hund.
In der Welt hatte Lindner sich einige Wochen zuvor gar gebrüstet, die FDP habe das »ambitionierteste Klimaschutz-Programm in Deutschland«. Dazu die ZDF heute-Redaktion lapidar: »Der Realitäts-Check zeigt: Lindners Pläne sind weder ambitioniert noch realistisch genug, um die Klimaziele zu erreichen.«
Zurück zur Freiheit, die sie meinen. Felix Klopotek hat im November-Heft von konkret die neoliberalen Zuckerbonbons in dem »dürftigen Wahlprogramm« der Christian-Lindner-Partei aufgezählt: »Schnellere Digitalisierung, Bürokratieabbau, Steuerentlastungen, Kritik der Corona-Maßnahmen«, im Kern also nichts anderes als das pure Versprechen der »Förderung der individuellen Bewegungsfreiheit«. »Diese Bewegungsfreiheit wissen nur die zu nutzen, (…) die etwas damit anfangen können: die Innovativen, Leistungsbereiten, Risikofreudigen, kurzum: die künftigen Gewinner. Mehr Technologie, mehr Innovation, mehr Netto vom Brutto. Für junge Leute (…) ist das eine verlockende Option.«
Der Ausgang der Bundestagswahl im September zeigte, dass die Lockrufe der Neoliberalen und die Propaganda auf den Billboards bei den Erstwählerinnen und Erstwählern sowie den Jungwählerinnen und Jungwählern zwischen 18 und 24 Jahren verfingen. Sie machten besonders häufig ihr Kreuz bei FDP und Bündnis ’90/Die Grünen. Beide Parteien konnten mit 23 Prozent jeweils knapp ein Viertel ihrer Stimmen auf sich vereinigen, im Vergleich zu der Bundestagswahl 2017 jeweils ein Plus von ungefähr 10 Prozent.
Dass die Grünen einen Zuwachs zu erwarten hatten, war klar: Fridays for Future!, die Generation Greta, hat ihren Teil dazu beigetragen, in der Hoffnung auf »eine lebenswerte Zukunft und eine Politik, die die Bewältigung der Klimakrise ernsthaft angeht«. Die Regierungsrealität wird zeigen, was von dieser Hoffnung übrigbleiben wird, wie stark der Schwanz mit dem Hund wedeln kann.
Woher aber kam der überraschende Zulauf der FDP? Eine Antwort finde ich in dem im Oktober erschienenen »Magazin für Beteiligung und direkte Demokratie«, dass sich ohne Wenn und Aber demokratie nennt. Hier erklärt mir Marie Jünemann (25), Bundesvorstandssprecherin des die Zeitschrift herausgebenden Vereins Mehr Demokratie, was junge Menschen zu Lindners Gehilfen werden ließ: »Für uns (…) ist das für die nächsten Jahre eine Chance: Mit einer FDP in der Regierung können wir endlich eine digitale Demokratie und eine Demokratisierung des Digitalen voranbringen.«
Und weiter: »Die FDP besetzt das Feld der Digitalisierung, und sie weiß dieses auch gut zu nutzen. Erstwählerinnen und Erstwähler gehörten bei dieser Bundestagswahl zu den Jahrgängen 1999 bis 2003, also zur sogenannten Generation Z.« (Nach dem Vorläufer, der Generation Y, auch Digital Natives genannt, nun also Generation Z, sozusagen Digital Natives 2.0. Anm. K.N.) Bei dieser Altersgruppe seien Plattformen wie TikTok, YouTube und Snapchat besonders beliebt, würden häufiger als zehn Mal am Tag genutzt. »Und gerade auf TikTok war die FDP weitaus besser aufgestellt als alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien.« Als Beispiel führt Jünemann den Bundestagsabgeordneten Thomas Sattelberger an, der über Platz 5 der Landesliste der bayerischen FDP in den Bundestag einzog. Trotz seiner 72 Jahre sei der ehemalige Telekom-Manager »mit mehr als 140 000 Followern zeitweise der prominenteste deutscher Politiker auf TikTok« gewesen.
Als weitere Pluspunkte der FDP nennt Jünemann, dass sich die Partei für ein Wahlrecht ab 16, für eine liberale Drogenpolitik und gegen staatliche Überwachung einsetze.
Beim Stichwort »Überwachung:« kommt Corona ins Spiel. Es war kein Geringerer als der FDP-Bundestagsabgeordnete Kubicki, der, wie bei FAZ Online am 23. September zu lesen stand, den »Rechtsstaat desavouierte«. Zitat: »Wolfgang Kubicki, immerhin Vizepräsident des Bundestags und stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, hat nun, ausdrücklich mit Blick auf die Stammtische, kundgetan, dass er ›selbstverständlich‹ (›Was denn sonst!‹) in Kneipen gewesen sei, die pandemiebedingt nicht hätten öffnen dürfen. Unsinnige Corona-Regeln führten nur zu Verdruss. Was will man da machen? ›Ich habe von meinem Recht auf autonomes Handeln Gebrauch gemacht‹, so Kubicki.« Anscheinend hat er die Kampagne der Jungen Liberalen »Zukunft nur mit Freiheit« voll verinnerlicht.
Waren Sprüche wie die Kubickis und der FDP-Jugendorganisation Vorbild und Hoffnung zugleich für Jungwählerinnen und Jungwähler, ließen solche Widerborstigkeiten die ehemalige Drei-Pünktchen-Partei für die Jugend attraktiv werden? Der Hamburger Polizeipräsident Ralf Martin Mayer bestätigte diese Wahrnehmung in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt vom 1. Oktober: »Machen wir uns nichts vor: Jugendliche haben die Pandemie anders erlebt, sie fühlten sich meist wenig gefährdet, aber massiv eingeschränkt.«
Und weiter: »Wir hatten in den vergangenen eineinhalb Jahren verstärkt mit der Mitte der Gesellschaft zu tun. (…) Plötzlich hatten viele Menschen sehr niedrigschwellig Kontakt mit der Polizei, etwa wenn der Sohn im Park angehalten wurde und eine Rechnung über 150 Euro bekam. Da erlebt die Mitte der Gesellschaft plötzlich die Polizei und damit den Staat vielfach nur in negativen Zusammenhängen. Das erzeugt Stress und nervt.«
Und so wurde aus Lindner einer der Kanzlermacher. Und wie die zurzeit laufenden Koalitionsverhandlungen zeigen, wedelt schon wieder der Schwanz mit dem Hund, momentan vor allem in der Corona-Politik.
Dass dieser Text am 11. 11. geschrieben wurde, am Tag des Beginns des Närrischen Treibens der Session 2021/22, ist purer Zufall. Ebenso ist es purer Zufall, dass diese Ossietzky-Ausgabe punktgenau an dem Tag erscheint, an dem vor vier Jahren, 2017, die FDP die Gespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition mit CDU, CSU und den Grünen abbrach. Der Schlusssatz der damals von Lindner verlesenen Erklärung wurde inzwischen zu einem geflügelten Wort: »Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.« Und er fügte hinzu: »Auf Wiedersehen.« Zumindest diese Aussage würde einen Faktencheck überstehen.