Wolfgang Herzberg Flucht aus Afghanistan
P. wurde 2000 in einem kleinen Dorf in Afghanistan geboren, etwa 200 km von Kabul entfernt. Sein Vater war dort Ortspolizist, seine Mutter Hausfrau. Er hat zwei kleinere Schwestern und drei Brüder, die alle noch zur Schule gehen. P. ist der älteste Sohn. Er hat mir seine Geschichte in einem Krankenhaus erzählt und auf seinem kaputten Handy Szenen seiner Flucht gezeigt.
Sein Vater war ziemlich autoritär. Einmal, als er P. beim Onanieren erwischte, drohte er, ihn zu erschießen. Dieses Tabu existiert immer noch im strengeren Islam, Christentum und Judentum. Eines Tages wurde sein Vater von den Taliban entführt, ob er noch lebt, weiß P. nicht. Der Vater scheint sein Unheil geahnt zu haben, denn kurz zuvor riet er seinem Sohn noch, zu fliehen, um nicht von den Taliban verschleppt zu werden und für sie als Soldat kämpfen und eventuell sterben zu müssen.
So begann P.s Flucht 2016 aus Afghanistan, als er 16 Jahre alt war, ganz überwiegend zu Fuß, nur selten mit Autos oder Bussen. Er teilte sein Schicksal mit Hunderten und Aberhunderten von anderen jungen afghanischen Menschen – Männern wie Frauen –, alle unterwegs in Richtung Europa, durch viele Länder hindurch. Etwa 40 Millionen, die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit, sind Jugendliche unter 18 Jahren.
Sie überquerten zu Fuß zunächst die schneebedeckten, hohen Berge nach Pakistan, immer auf der Hut vor der Grenzpolizei auf beiden Seiten, die offenbar Anweisung hat, auf Flüchtlinge zu schießen. Von Pakistan ging es nach Syrien, von dort in den Iran, schließlich durch die Türkei. Oft wusste P. nicht, in welchem Land er sich gerade befand. In Bulgarien waren die Fluchthelfer sogar bewaffnet. Dort wurden sie von Polizei oder Militär verfolgt, unterstützt von deutschen Frontex-Polizisten. Während die Deutschen wohl humaner waren, schossen auch die Bulgaren auf die Flüchtlinge. P. wurde von einem Polizeihund blutig gebissen.
Beim Überqueren eines Flusses mit starker Strömung hielt sich die Fluchtgruppe an den Händen. Doch die Menschenkette riss, und sein Freund und andere Flüchtlinge wurden vom eiskalten Wasser mitgezogen und ertranken vor seinen Augen in den Fluten. Als P. mir diese Episode erzählte, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Später zwängte er sich mit 15 anderen Männern acht Stunden lang, dicht gedrängt, in einen PKW, so dass sich das Blut in seinen Adern schmerzhaft staute. Doch das Auto verunglückte, und viele Insassen starben. P. überlebte und floh weiter durch Griechenland, Rumänien, Serbien und Ungarn, also die sogenannte Balkanroute entlang. Schließlich gelangte er nach Österreich, wo er nach zwei Jahren in Salzburg aber wieder ausgewiesen wurde. Schließlich gelangte er nach Frankreich und lebte dort mit Hunderten von Flüchtlingen monatelang unter den Brücken von Paris in billigen Mini-Zelten, immer von den Razzien der französischen Polizei bedroht – in der nassen Kälte dieses Corona-Winters.
Als es P. dort vor Kälte und Elend nicht mehr aushielt, setzte er sich in einen Flixbus und fuhr, trotz Polizeikontrollen, nach Deutschland. Hier bekam er schließlich einen Behelfsausweis und arbeitete kurzzeitig als Putzkraft in Berlin, wurde aber Corona-bedingt wieder arbeitslos und landete in einem Flüchtlingsheim außerhalb Berlins.
P. ist nicht sicher, ob er wieder nach Kabul »abgeschoben« wird. Er hat sich zwar nichts zu Schulden kommen lassen, aber sein »ungeklärter Flüchtlingsstatus« versetzt ihn in solche Angst, dass er begann, sich seine Arme mit einem Messer aufzuschlitzen. Deshalb kam er ins Krankenhaus.
Wenn man ihn wieder ins umkämpfte Kabul abschiebt, befürchtet er, dass er dort nie weiß, mit wem er es zu tun bekommt: mit Taliban-Spionen oder mit Leuten von der Kabuler Regierung oder mit Nato-Kundschaftern. Er hätte Angst, dort in ein Auto oder Bus zu steigen, auf Fahrzeuge werden Anschläge verübt, oder er könnte von den Taliban entführt werden
P. wusste nicht, als er mir seine Geschichte erzählte, dass er als psychisch kranker Kriegsflüchtling, jedenfalls nach der Genfer Kriegsflüchtlingskonvention, nicht abgeschoben werden darf. Er spricht bisher nur ein paar Brocken Deutsch und Englisch. Er würde gern arbeiten, darf aber nicht. Und er fragte mich, wie er eine Frau kennenlernen könnte, die er lieben und heiraten möchte, also nicht bloß, um mit ihr zu schlafen. Denn viele junge Männer in den Flüchtlingsheimen, wusste er zu berichten, wollten vor allem unbedingt »ficken«.
P.s Schicksal wird von 3,7 Millionen Flüchtlingen aus Afghanistan geteilt. Sie fliehen aus ihrem Land, um zu überleben, oder auch »nur« in der Hoffnung, irgendwo, oft in Europa, ein besseres Leben führen zu können.
In Afghanistan und anderswo führten die USA, assistiert von der Nato, also auch mit Deutschlands Hilfe, seit dem Anschlag auf das »Word Trade Center« einen gescheiterten Krieg gegen die Taliban und andere islamistische Gruppierungen. Das ist überwiegend das Ergebnis der Spätfolgen einer gründlich gescheiterten westlichen Kolonial- und Kriegspolitik, übrigens auch in Syrien, dem Irak und Libyen, Venezuela, Südsudan und Myanmar. Die späte Entkolonialisierung hinterließ eine Rückständigkeit, die sich oft in interethnischen Bürger- und Verteilungskriegen entlud, in die der Westen aber militärisch und neokolonial verwickelt ist und die schließlich auf ihn zurückschlagen. Denn die Millionen Flüchtlinge wollen in ihrer Not vielfach ins reiche Westeuropa und Nordamerika. Aber auch die islamistischen Terroristen schlagen hier bekanntlich immer wieder zu. Das ruft wiederum die Nationalisten und Rassisten auf den Plan, die die bürgerlichen Demokratien von rechts infrage stellen. Statt Waffenexporte und Militärinterventionen kann auf Dauer nur eine Politik des globalen sozialen Ausgleichs das Flüchtlingselend zurückdrängen. Das wäre zugleich eine Art »Wiedergutmachung« für eine Jahrhunderte währende koloniale Ausbeutungs- und Völkermordpolitik, die die Eliten der westlichen Industriestaaten wohlhabend machte, auf Kosten der viel ärmeren Völker der Welt.