Österreich gegen Italien. Eine historische Konstellation. Schon im Gebirgskrieg zwischen Österreich-Ungarn und Italien von 1915 bis 1917 verlief die Front durch die Dolomiten. Ich habe vor einigen Jahren in Ossietzky darüber geschrieben. In dem Krieg fiel am auch im tiefsten Winter bei härtestem Frost umkämpften Berg Paternkofel bei Sexten im Hochpustertal der Großvater meiner dortigen Hotelwirtin, ein bekannter Bergsteiger. Er kämpfte auf österreichischer Seite. Nach ihm ist seit wenigen Jahren die Drei-Zinnen-Hütte benannt, ist er doch für die Einheimischen noch immer ein Freiheitskämpfer.
Für viele der Südtiroler und Südtirolerinnen begann die Unfreiheit 1918 mit der Auflösung der Doppelmonarchie. Der völkerrechtliche Weg führte weg von den historisch gewachsenen Bindungen vor allem an Österreich, aber auch an Deutschland. Südtirol gehörte von da an zu Italien, heute als Autonome Provinz Bozen-Südtirol.
Für viele der heutigen Südtiroler und Südtirolerinnen dauert die Unfreiheit an. Das zeigten exemplarisch die letzten Wochen. Als sich am Freitag, dem 11. Juni, zum 60. Mal die »Feuernacht« jährte, »dieses für ganz Tirol prägende Ereignis, einer der wichtigsten Einschnitte in die Südtiroler Geschichte des 20. Jahrhunderts« (Südtirol NEWS), ließ der Südtiroler Schützenbund im ganzen Land Strommasten rot beleuchten: als »Dank und Anerkennung für jene Männer und Frauen, die für die Freiheit unseres Landes so große Opfer gebracht haben«.
Die rote Beleuchtung sollte »aber auch an die Polizeigewalt erinnern, der damals das Südtiroler Volk ausgesetzt war. Durch die Polizeigewalt gab es Verletzte und Tote. Bis heute hat sich das offizielle Italien noch nie für diese Taten entschuldigt.« Die Beleuchtung soll jedoch zugleich »für die gewaltfreie Umsetzung des Strebens nach mehr Freiheit und Unabhängigkeit« gestanden haben. Ein Nachsatz wie ein Feigenblatt, zusätzlich betont mit einem Hinweis auf die demokratische Gesinnung der Schützen.
Toni Ebner, Chefredakteur der Tageszeitung Dolomiten, sah sich veranlasst, dagegen zu halten. In einem Leitartikel benannte er »die Opfer und die wahren Helden der Feuernacht«: »Die Sprengung der Strommasten hat zwar für internationales Aufsehen gesorgt. Die Durchsetzung der berechtigten Forderungen der Südtiroler wurde mit diesen Anschlägen aber gefährdet.«
Ebner: »Damals wurde Südtirol zu einem Pulverfass. Verschiedene Kräfte in Österreich, Deutschland und Italien versuchten die Lunte zu zünden, damit es zum Bürgerkrieg kommt. Was oft idealistisch gesinnte Männer und Frauen mit Anschlägen auf Strommasten, Gebäude und Denkmäler begonnen hatten, endete im Terror. Nationalisten beider Seiten schürten den Konflikt, und Geheimdienste aus Ost und West mischten fleißig mit. Man wollte den Bürgerkrieg mit vielen Toten wie im Baskenland oder in Nordirland.«
»33 Tote, über 60 Verletzte, zerstörte Familien, verzweifelte Ehefrauen und verschreckte Kinder auf beiden Seiten sowie durch Folter gedemütigte Männer, harte Gefängnisstrafen, die Verpflichtung, viele Milliarden Lire Schaden zu ersetzen, und daher mit Hypotheken belastete Höfe, Häuser und Wohnungen. Die Leidtragenden der Südtiroler Bombenjahre waren die Familien auf beiden Seiten, die Tote zu beklagen hatten. Und Opfer waren die Mütter und Väter, Frauen und Kinder der Attentäter der 60er Jahre.«
Und er mahnt: »Die Attentate und somit die Gewalt sollten daher nicht verherrlicht werden. Es sollte viel mehr derer gedacht werden, die unter diesen Attentaten gelitten haben und teilweise auch heute noch leiden. Das sind die wahren Helden der Feuernacht.«
14 Tage später schreiben wir den 26. Juni. Es ist ein Samstag, und erneut heißt es: Österreich gegen Italien. Diesmal bei der Fußball-Europameisterschaft. Es geht um den Einzug ins Viertelfinale. Und die Südtiroler sehen sich in der Bredouille, zumindest die Heim-ins-(Öster)-Reich-Tiroler. Toni Ebners Zeitung bringt das Problem auf den Punkt: »Da spielen aus Südtiroler Sicht viele Emotionen mit. In welcher Fangruppe im Londoner Wembley-Stadion würden Sie stehen, und welche Nationalelf werden Sie von daheim aus anfeuern?« Kurzum: »Wem drücken Sie die Daumen?«
Das Ergebnis der Umfrage ist mir nicht bekannt, das des Fußballspiels schon: 2:1 für Italien. Trostpflaster für die Österreich-Anhänger: Die ÖFB-Elf konnte bis zur 96. Minute der Verlängerung der Squadra Azzurra standhalten.
In der Nacht nach dem italienischen Achtelfinal-Sieg kam es in der Südtiroler Landeshauptstadt Bozen zu Unruhen. »100 bis 150 gewaltbereite Personen«, so heißt es, »Störenfriede der ansonsten friedlichen Siegesfeierlichkeiten«, griffen die mit »Schild, Helm und Schlagstöcken ausgerüsteten Ordnungshüter« an. Als Unruhestifter wurden die »Tifosi« genannt, italienischen Fans. Andere »Aggressoren« wurden erkennungsdienstlich und durch die Auswertung von Videomaterial als »Personen mit Wurzeln im Ausland, die aber in Italien geboren wurden«, identifiziert. Man nimmt es genau: keine Südtiroler dabei, zumindest keine echten. Und Schützen mit Sicherheit auch nicht. Bozens Bürgermeister nannte die Vorfälle einen »kulturellen Rückschritt«.
Nach dem fußballerischen Brexit Englands im Endspiel um die Europameisterschaft überwog allerdings die Freude über den Sieg Italiens (3:2 im Elfmeterschießen). In Bozen wurde ausgelassen gefeiert, Krawalle blieben diesmal aus.
Siehe auch: Ossietzky, Heft 14/2014 »Bauern, Bergführer, Bomben« und Heft 5/2021 »A la Tyrolienne«.