Der Schweizer Maler Ferdinand Hodler eine »Berliner Größe«?, fragte Stefanie Heckmann, Kuratorin der Hodler-Ausstellung in der Berlinischen Galerie, und verwies auf die vielfältigen Beziehungen, die diesen mit der Berliner Kunstszene verbunden haben. Selbst schon ein gefeierter Künstler, der in Paris, München, Wien Aufträge erhielt und zu Ausstellungen eingeladen wurde, stellte er zwar bereits 1898 und 1905 in Berlin aus, aber erst 1911 – nun hatte der Expressionismus in Berlin Fuß gefasst – bekam er seine erste große Einzelschau im Kunstsalon Paul Cassirer. Die anfängliche Skepsis gegenüber Hodlers symbolistischer Figurenmalerei schlug bald in enthusiastische Anerkennung um. Besonders engagierte sich Herwarth Walden in seiner Zeitschrift Sturm für ihn. Weil Hodler unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkrieges zusammen mit anderen Künstlern und Intellektuellen in Genf einen Protest gegen die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen unterschrieb, schlug ihm in Deutschland eine Welle der Entrüstung entgegen. Doch gegen Kriegsende – Hodler verstarb 1918 – geriet er wieder in den Focus des Interesses. Über vierzig Mal war er zu Lebzeiten auf Ausstellungen von Künstlervereinigungen und Kunsthandlungen in Berlin vertreten.
An exemplarischen Werken wird jetzt in der Ausstellung »Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne« demonstriert, wie dieser Künstler im Spannungsfeld von Symbolismus und Jugendstil und in Vorbereitung des Expressionismus den Nerv der Zeit traf. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Einheit von Mensch und Natur, die Abfolge wie Polarität von Leben und Tod, die Öffnung des endlich begrenzten Raumes ins Unendliche, die eigene Physiognomie und die seiner Zeitgenossen und überhaupt das Lebensgefühl von Angst, Unsicherheit und Ohnmacht einer von Krisen geschüttelten Gesellschaft – das waren seine Themen, die er immer wieder aufgriff und veränderte. Hodler transzendierte Wirklichkeit und schuf eine von ihr losgelöste, absolute Welt der Imagination. Seinen Werken zugesellt sind Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihm in Berlin ausgestellt haben.
Zwei monumentale Bilder hängen jeweils an den Stirnseiten eines Saales: »Die Nacht« (1889-1890) und »Der Tag« (1899-1900). Das erste: Sieben männliche Figuren liegen schlafend auf einem Felsgrund; die Mittelfigur, die Hodlers Züge trägt, wacht erschreckt auf, weil sie eine schwarz verhüllte Gestalt – der Tod – bedroht. Die Figuren verkörpern verschiedene Haltungen des Schlafes. Dieses Prinzip der abgeänderten Wiederholung, der Wiederholung gleicher Elemente gleicher Bedeutung, der Reihung, aber hier auch der Wechsel von nackten zu schwarz umhüllten Figuren, sollte einer Idee Hodlers Ausdruck verleihen, den so genannten »Parallelismus«, wodurch die persönlichen Lebensempfindungen des Künstlers ins Allgemeingültige erhoben werden sollen. »Die Nacht« spiegelt die existenziellen Verunsicherungen, die Hodler durch den Tod seiner engsten Familienangehörigen erfahren hatte, ebenso wider wie die Stimmung bedrohlicher Ungewissheit des Fin-de-Siècle. Das Bild entfachte damals in Genf einen Skandal. Auf der »Großen Berliner Kunstausstellung« war Hodler mit diesem Bild 1898 erstmals in Berlin präsent.
Zehn Jahre später – 1899/1900 – symbolisiert »Der Tag« einen neuen Lebensabschnitt. Der Sonnenaufgang hat das nächtliche Dunkel, das Doppelerlebnis von Schlaf und Tod, Todesabwehr und Todesangst abgelöst. Fünf nackte Frauen verkörpern die einzelnen Phasen des Tagesanbruchs. Indem sie ihre Körper zunehmend aufrichten und ihre Glieder entfalten, steigert sich die Helligkeit, die in der Zentralfigur – dazu saß Hodler seine Gattin Bertha Modell – ihren Höhepunkt findet. Der lichte Tag, der die Schönheit der Natur offenbart, ist ein späteres Gegenstück zu dem Entsetzen des aufgeschreckten Schläfers in der »Nacht«.
So als Lebensfries, den sein eigentlicher Schöpfer, der norwegische Maler Edvard Munch, »Dichtung über Leben, Liebe und Tod« genannt hat, können wohl auch die meisten monumentalen Werke von Hodler bezeichnet werden. »Die enttäuschten Seelen« (1892): Fünf Männer sitzen mit vornüber geneigtem Kopf auf einer Bank – in spiegelbildlicher Aufteilung und in paarweise identischen Posen. Als Modelle dienten Hodler Arbeitslose und Randexistenzen der Gesellschaft. Mit demselben Thema – der Erwartung des Todes – beschäftigte sich Hodler in »Die Lebensmüden« (um 1892). Doch jetzt ergeben sich die Männer »ruhig der Zukunft«, so Hodler, er hat sie in ihren weißen Gewändern »schon ins Jenseits gesetzt«. Drei Jahre später, 1894/95, hat der diesen Gedanken in »Eurhythmie« erneut aufgenommen: Fünf weiße Priester schreiten in einer Reihe im Abendlicht die blätterübersäte leere Straße entlang. Daran anknüpfend »Die Empfindung« (um 1909): Vier Frauen, in hellblaue Gewänder gehüllt, ziehen tänzerischen Schritts durch eine stilisierte Landschaft; die rhythmische Bewegung und die Gestik ihrer Hände lassen in jeweils anderer Weise eine starke seelische Erregung jeder einzelnen Gestalt spüren.
Das Doppelthema der aufbrechenden Liebe und Natur zeigt »Der Frühling« (1910): rechts, nackt der Knabe – sein Sohn Hector saß Hodler hier Modell –, links das vom Kind zur Jugendlichen erwachte Mädchen im blauen Kleid vor einem mit Tupfen besetzten Blütenteppich. Der im anbrechenden 20. Jahrhundert im Zeichen von Jugend und Jugendstil beschworene Neubeginn ebnete diesem Bild Hodlers den Weg zur begeisterten Aufnahme in der Wiener Secession, deren Zeitschrift Ver Sacrum den »Frühling« programmatisch im Titel trug.
In der Darstellung der Einzelfigur war Hodler nicht weniger bahnbrechend. Ungewöhnlich schon sein Selbstbildnis »Der Zornige« (1881): Hodler fixiert das ihn noch ignorierende Publikum aggressiv, verächtlich mit der Drehung des Kopfes über die Schulter nach hinten. Zwischen Erschrecken, Erstaunen und Sorge oszilliert dagegen die physiognomisch ausdrucksstarke Porträtstudie von 1912. Das Gemälde »Der Holzfäller« (1910) hat die mit der Axt weit ausholende Figur im Moment höchster Anspannung eingefroren, wobei die zwei seitenparallel angeordneten Bäume wie Säulen die Szene einrahmen und zum symbolischen Akt erhöhen.
1914/15 stellte Hodler seine Geliebte Valentine Godé-Darel während ihrer schweren Krankheit in zahlreichen erschütternden Zeichnungen und Gemälden dar. Er erfasste den physischen Verfall der Schwerkranken, die Veränderung ihrer Physiognomie, ihre verschränkten Hände, ihren mit Angst erfüllten Blick, den flachen, immer mehr schwindenden Körper – ein bewegendes Gleichnis menschlichen Leidens. Am Ende führt er die Kranke im scharfen Profil wieder nah und direkt an den Betrachter heran und zeigt sie im Zustand der Agonie als eines der ausdrucksstärksten Bilder eines sterbenden Menschen.
Auch die Landschaft sucht er symbolistisch zu erfassen und mit Darstellungen wie »Thunersee von Leissingen aus« (1904) die aus dem Moment gewonnene Sicht durch die bildparallele und flächige Komposition in ihrer unwandelbaren Schönheit zu erfassen und festzuhalten. Das Bild zeigt eine Seelandschaft mit Spiegelung, die eine doppelte bilaterale Symmetrie über zwei Achsen erlaubt. In den späten Genfersee-Bildern mit dem Montblanc verzichtet Hodler auf alle Details und steigert die majestätisch ruhenden Gebirgszüge zu weiten, horizontalen Rhythmen; Himmel wie See sind in das intensiv farbige Licht der Morgendämmerung – kosmischen Schwingungen gleich – eingetaucht. Die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten in der Natur führte Hodler zur Vision einer alles durchdringenden kosmischen Einheit: »Ist Ihnen nicht, als ob Sie am Rand der Erde stünden und frei mit dem All verkehrten?«
Ferdinand Hodler und die Berliner Moderne. Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, 10969 Berlin, Mi-Mo 10-18 Uhr, Di geschlossen, bis 17. Januar 2022. Katalog (Wienand Verlag Köln) 34.80 € (Museumsausgabe).