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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Feiningers Fahrrad und Coronas Schrein

Lyo­nel Fei­nin­ger fuhr gern Rad. Der Bau­haus­künst­ler erkun­de­te auf die­se Wei­se vor­zugs­wei­se in den Som­mer­mo­na­ten die Ost­see­kü­ste, wes­halb es heu­te auf Use­dom einen nach ihm benann­ten und gut aus­ge­schil­der­ten Rad­weg gibt. Er ver­bin­det vier­zig Sta­tio­nen, an denen Fei­nin­ger einst gemalt oder nur Rast gemacht hat. In Rib­nitz-Dam­gar­ten gibt es einen »Fei­nin­ger-Rund­weg«. Und der »Fei­nin­ger-Rad­weg« um Wei­mar, wo der Mann drei Jahr­zehn­te lang eben­falls in die Peda­le trat, reicht knapp 28 Kilo­me­ter weit, ist mit­hin nur halb so lang wie jener auf der Insel Use­dom. Inzwi­schen plant man eine Fei­nin­ger-Rad­rou­te von Ahren­shoop auf dem Darß über Stet­tin bis Kol­berg. Dort über­all war der Deutsch-Ame­ri­ka­ner sei­ner­zeit mit Skiz­zen­block und Staf­fe­lei unterwegs.

Einer sei­ner Draht­esel – und die Bezeich­nung für das spar­ta­ni­sche Gefährt ist mehr als ange­mes­sen: kein Licht, kei­ne Brem­se, kein Schutz­blech, kein Gepäck­trä­ger – ist das größ­te Expo­nat der aktu­el­len Aus­stel­lung in der Fei­nin­ger-Gale­rie am Fuße des Schloss­ber­ges in Qued­lin­burg. Es gab vor eini­gen Jah­ren dort mal eine Expo­si­ti­on, die den bezie­hungs­rei­chen Titel trug »Nar­ren­rad und Räder­narr«. Das Muse­um für gra­fi­sche Kün­ste ist Fei­nin­gers ein­zi­ges welt­weit, obgleich er nie­mals in die­ser Stadt war.

Dass die­se Ein­rich­tung exi­stiert, hat irgend­wie mit der DDR zu tun. Im Jahr der deut­schen Reichs­grün­dung 1871 in New York gebo­ren, stu­dier­te Fei­nin­ger in Ham­burg, Ber­lin und Paris und lehr­te seit 1919, seit Grün­dung des Bau­hau­ses, dort unter Wal­ter Gro­pi­us. Erst in Wei­mar, dann in Des­sau, wo er eines der Mei­ster­häu­ser bewohn­te. Die Nazis war­fen sei­ne Kunst­wer­ke als »ent­ar­tet« aus den Muse­en und schließ­lich ihn selbst (und sei­ne jüdi­sche Frau Julia) aus dem Land.

Einer sei­ner Schü­ler, der von 1929 bis 1932 bei ihm stu­dier­te und mit dem Fei­nin­ger inzwi­schen befreun­det war, sicher­te pri­vat die in Deutsch­land ver­blie­be­nen sech­zig Ölbil­der, Gra­fi­ken und ande­re Kunst­wer­ke. Der Ret­ter, Her­mann Klumpp, ein kunst­sin­ni­ger Archi­tekt, stamm­te aus Qued­lin­burg und leb­te auch dort. Klumpp über­leb­te die unap­pe­tit­li­che juri­sti­sche Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen dem geld­gie­ri­gen US-Anwalt der 1970 in den USA ver­stor­be­nen Wit­we und dem Kul­tur­mi­ni­ste­ri­um der DDR, wie er auch dank­bar die Kurs­kor­rek­tur der DDR bei der Rezep­ti­on des Bau­hau­ses erleb­te. Mit cou­ra­gier­ter Aus­dau­er wur­den auch sei­ne lang­jäh­ri­gen Bemü­hun­gen um ein Fei­nin­ger-Muse­um von Erfolg gekrönt. 1986 öff­ne­te die Lyo­nel-Fei­nin­ger-Gale­rie in Qued­lin­burg. Weni­ge Mona­te spä­ter starb Klumpp im Alter von 85 Jahren.

In den neun­zi­ger Jah­ren wur­de das Haus aus- und umge­baut, klein, aber fein auch der moder­ne Anbau, der sich unauf­dring­lich in ein Hof­en­sem­ble fügt. Die von Klumpp zusam­men­ge­tra­ge­ne Samm­lung von Fei­nin­gers Gra­fi­ken, Radie­run­gen, Litho­gra­fien und Holz­schnit­ten ist die welt­weit umfang­reich­ste, damit reicht die Bedeu­tung der Ein­rich­tung weit über Sach­sen-Anhalt hin­aus. Im fen­ster­lo­sen Zwi­schen­ge­schoss des Hau­ses, das dem »Mei­ster der Moder­ne« Lyo­nel Fei­nin­ger gewid­met ist, fin­den zudem tem­po­rä­re Aus­stel­lun­gen statt – aktu­ell wer­den Wer­ke aus der Gra­fi­schen Samm­lung des Lan­des­mu­se­ums Olden­burg unter dem Titel »Von Rem­brandt bis Rich­ter« gezeigt. Und zu sehen sind immer die Dau­er­aus­stel­lung aus der Samm­lung von Dr. Her­mann Klumpp und jenes berühm­te Rad.

Vor dem Haus, unter einem Dach, ist eine Rei­he jahr­hun­der­te­al­ter Grab­stei­ne auf­ge­stellt. Die gro­ßen Stei­ne mit den Halb­re­li­efs und les­ba­ren Inschrif­ten sind zumeist aus Bruch­stücken zusam­men­ge­fügt, was ihnen jedoch nicht die Ansehn­lich­keit nimmt. Was steht aber vor die­sen histo­ri­schen Blöcken? An jedem ande­ren Ort wür­de man es Blas­phe­mie nen­nen – hier nicht. Näm­lich: Fahr­rä­der in einem Ständer.

Von der Fei­nin­ger-Gale­rie, in deren Nach­bar­schaft sich das Geburts­haus des Dich­ters Fried­rich Gott­lieb Klop­stock befin­det, geht es steil den Schloss­berg hin­auf. Oben thront die Stifts­kir­che St. Ser­va­ti­us, und das tut sie seit einer Ewig­keit. Die in den Fels ein­ge­las­se­ne Kryp­ta ist über tau­send Jah­re alt, das roma­ni­sche Bau­werk dar­über »ledig­lich« aus dem 12. Jahr­hun­dert. In der Gruft war 936 König Hein­rich I. bei­gesetzt wor­den. Er spiel­te als König der Ost­fran­ken, wie man heu­te weiß, eine ent­schei­den­de Rol­le bei der Her­aus­bil­dung des Deut­schen Rei­ches. Ein ande­rer Hein­rich, mit Nach­na­men Himm­ler, ver­klär­te ihn zum Stif­ter des deut­schen Vol­kes, »zum Füh­rer vor tau­send Jah­ren«, und sah sich selbst als des­sen Reinkar­na­ti­on. Da aber die Gebei­ne des Königs sich nicht mehr am Ort befan­den, wo sie einst bestat­tet wor­den waren, such­te die SS fie­ber­haft nach ihnen und fand sie auch frist­ge­recht 1936, also zu Hein­richs tau­send­stem Todes­tag. Die vor­geb­li­chen Kno­chen des ver­meint­li­chen Reichs­grün­ders wur­den in einer schau­ri­gen Insze­nie­rung der Nazis in der zu einer SS-Wei­he­stät­te umfunk­tio­nier­ten Kryp­ta neu­er­lich bei­gesetzt. Hein­richs angeb­li­che Gebei­ne waren, wie man heu­te sagen wür­de, ein voll­stän­di­ger Fake. Unter den Kno­chen, die ein­deu­tig von Frau­en stamm­ten, waren auch wel­che von Rin­dern. Und neben der Grab­plat­te hiel­ten Och­sen in schwar­zer Uni­form mit Stahl­helm und Kara­bi­ner Totenwache.

Wo Hein­richs Kno­chen tat­säch­lich abge­blie­ben sind, wis­sen die Archäo­lo­gen und Geschichts­for­scher bis heu­te nicht – die Zeit Hein­richs, mit der das soge­nann­te otto­ni­sche Zeit­al­ter anbrach (Otto, Sohn Hein­richs aus zwei­ter Ehe, erb­te das gan­ze Reich), gilt in der Fach­welt als die quel­len­ärm­ste Pha­se des gesam­ten Mit­tel­al­ters in Euro­pa. Viel­leicht des­halb bedeckt heu­te scham­haft ein Tuch die Grab­plat­te, in der die Namen Hein­rich und Mat­hil­de ein­ge­mei­ßelt sind.

Zum Qued­lin­bur­ger Dom gehört natür­lich auch ein Dom­schatz, zu dem man durch eine schwe­re Kir­chen­pfor­te gelangt. Deren unge­wöhn­li­che Mes­sing-Klin­ke – halb Hund, halt Schwein – stammt von einem wei­te­ren Hein­rich. Die­ser Hein­rich Apel, Bild­hau­er und Restau­ra­tor aus der DDR, vor zwei Jah­ren ver­stor­ben, hin­ter­ließ vor­nehm­lich in Sach­sen-Anhalt eine Viel­zahl Brun­nen, Stand­bil­der, Skulp­tu­ren, Denk­ma­le und Büsten (dar­un­ter auch die von Franz Meh­ring vorm Gebäu­de des Neu­en Deutsch­land in Ber­lin, die seit gerau­mer Zeit ver­schwun­den ist, weil die Grün­an­la­ge vorm Haus mit schwe­rem Gerät umge­stal­tet wird).

In den Schatz­kam­mern – links und rechts ober­halb der Kryp­ta zu besich­ti­gen – kann man die Pre­zio­sen bestau­nen, die im Lau­fe der Jahr­hun­der­te vom hier ansäs­si­gen from­men Frau­en­stift gesam­melt wur­den. Eini­ge Kost­bar­kei­ten klau­te 1945 ein US-Sol­dat und schick­te sie mit der Post an sei­ne Hei­mat­adres­se in Texas – zehn (von zwölf ver­miss­ten) Stücken kehr­ten erst 1993, nach dem Unter­gang der DDR, an ihren ange­stamm­ten Platz im Dom­schatz zurück.

Einer die­ser Reli­quia­re heißt, hal­ten Sie sich fest, Coro­naschrein. Es ist eine Kiste aus Eichen­holz, einen reich­li­chen Meter lang und rings­um mit aus Gold getrie­be­nen Figu­ren ver­ziert. Die Tru­he mit dem Spitz­dach stammt aus dem 15. Jahr­hun­dert, eine unmit­tel­ba­re Ver­bin­dung zur aktu­el­len Coro­na-Pan­de­mie ist also aus­zu­schlie­ßen. Gleich­wohl: Eine indi­rek­te Bezie­hung gibt es schon: Das Virus SARS-CoV 2 heißt bekannt­lich des­halb Coro­na, weil es unterm Elek­tro­nen­mi­kro­skop wie ein Kranz oder eine Kro­ne aus­schaut; und die hei­ßen im Latei­ni­schen coro­na.

Die Hei­li­ge Coro­na, deren Kno­chen im Schrein sein sol­len, war eine früh­christ­li­che Mär­ty­re­rin, die auf etli­chen Abbil­dun­gen mit Strah­len­kro­ne gezeigt wird: auf einem Blei­glas­fen­ster von 1270 im Straß­bur­ger Mün­ster eben­so wie einst im Dom zu Sie­na auf einem Gemäl­de aus dem 14. Jahr­hun­dert (heu­te zu sehen im Muse­um in Kopenhagen).

Und was mach­te die jun­ge Frau, die sich mit angeb­lich sieb­zehn Jah­ren für ihren christ­li­chen Glau­ben geop­fert hat­te, zur Mär­ty­re­rin? Man weiß weder den Ort ihrer Geburt noch den ihres Todes, wohl aber die Art, wie sie im Wort­sin­ne aus dem Leben geris­sen wor­den sein soll. Der ägyp­ti­sche (?) Statt­hal­ter Roms habe sie kopf­über mit Armen und Bei­nen an zwei nach unten gezo­ge­ne Pal­men bin­den las­sen, und nach­dem sich Coro­na end­gül­tig gewei­gert hat­te, den römi­schen Göt­tern statt des einen Got­tes zu hul­di­gen, durch­schlu­gen Söld­ner die Sei­le, die die Bäu­me zu Boden zogen. Die­se schnell­ten in die Aus­gangs­la­ge zurück und zer­ris­sen anno 177 u. Z. die Frau. Im Jah­re 964 gelang­ten ihre Kno­chen nach Qued­lin­burg unweit des Har­zes. Und dort befin­den sie sich noch immer, solan­ge die Legen­de nicht gestor­ben ist.

Nach so viel Tote­n­erin­ne­rung und -geschich­ten eil­ten wir hin­aus ins Freie an die fri­sche Luft, vor­bei an vie­len Gerü­sten und Bau­zäu­nen. Seit drei Jah­ren wird auf dem Schloss­berg saniert und restau­riert, und es wer­den wohl noch eini­ge Jah­re ins Land gehen, bis das gesam­te Ensem­ble wie­der ohne Umhül­lung zu sehen sein wird. Ein Pla­teau ganz in Grün bie­tet einen fan­ta­sti­schen Blick auf die Dächer von weit über zwei­tau­send Fach­werk­häu­sern und die Tür­me von viel­leicht einem Dut­zend roma­ni­scher, goti­scher und neo­go­ti­scher Kir­chen. Sie erklä­ren, wes­halb Qued­lin­burg als eines der größ­ten Flä­chen­denk­ma­le Deutsch­lands auf die UNESCO-Liste kam und sich seit­her offi­zi­ell Welt­erbe­stadt nennt.

Oben, beim Aus­blick auf die Alt­stadt, brei­ten sich schüt­zend zwei Bron­ze­hän­de über ein Häus­chen. »Zu Ehren Prof. Dr. Gott­fried Kiesow und der Deut­schen Stif­tung Denk­mal­schutz« steht in Erz geschrie­ben, »Welt­erbe­stadt Qued­lin­burg 2019«. Nun, der aus Sach­sen-Anhalt 1950 geflüch­te­te Pasto­ren­sohn Kiesow hat sich als Denk­mal­schüt­zer nach­weis­lich einen Namen und um die Ret­tung ver­schie­de­ner histo­ri­scher Orte im Osten ver­dient gemacht – nicht grund­los ver­lie­hen ihm Gör­litz (1995), Qued­lin­burg (1998), Stral­sund (2004), Wis­mar (2004) und Zit­tau (2005) die Ehren­bür­ger­wür­de. Kiesows Cre­do bestä­tigt sich beim anschlie­ßen­den Spa­zier­gang durch die ver­win­kel­ten Gas­sen und Stra­ßen Qued­lin­burgs auf jeden Schritt: »Denk­mal­schutz ist der Dank an die Ver­gan­gen­heit, die Freu­de an der Gegen­wart und unser Geschenk an die Zukunft.«

Die Fra­ge aber ließ auch er unbe­ant­wor­tet: Wel­che Zukunft hin­ter­las­sen wir?