Lyonel Feininger fuhr gern Rad. Der Bauhauskünstler erkundete auf diese Weise vorzugsweise in den Sommermonaten die Ostseeküste, weshalb es heute auf Usedom einen nach ihm benannten und gut ausgeschilderten Radweg gibt. Er verbindet vierzig Stationen, an denen Feininger einst gemalt oder nur Rast gemacht hat. In Ribnitz-Damgarten gibt es einen »Feininger-Rundweg«. Und der »Feininger-Radweg« um Weimar, wo der Mann drei Jahrzehnte lang ebenfalls in die Pedale trat, reicht knapp 28 Kilometer weit, ist mithin nur halb so lang wie jener auf der Insel Usedom. Inzwischen plant man eine Feininger-Radroute von Ahrenshoop auf dem Darß über Stettin bis Kolberg. Dort überall war der Deutsch-Amerikaner seinerzeit mit Skizzenblock und Staffelei unterwegs.
Einer seiner Drahtesel – und die Bezeichnung für das spartanische Gefährt ist mehr als angemessen: kein Licht, keine Bremse, kein Schutzblech, kein Gepäckträger – ist das größte Exponat der aktuellen Ausstellung in der Feininger-Galerie am Fuße des Schlossberges in Quedlinburg. Es gab vor einigen Jahren dort mal eine Exposition, die den beziehungsreichen Titel trug »Narrenrad und Rädernarr«. Das Museum für grafische Künste ist Feiningers einziges weltweit, obgleich er niemals in dieser Stadt war.
Dass diese Einrichtung existiert, hat irgendwie mit der DDR zu tun. Im Jahr der deutschen Reichsgründung 1871 in New York geboren, studierte Feininger in Hamburg, Berlin und Paris und lehrte seit 1919, seit Gründung des Bauhauses, dort unter Walter Gropius. Erst in Weimar, dann in Dessau, wo er eines der Meisterhäuser bewohnte. Die Nazis warfen seine Kunstwerke als »entartet« aus den Museen und schließlich ihn selbst (und seine jüdische Frau Julia) aus dem Land.
Einer seiner Schüler, der von 1929 bis 1932 bei ihm studierte und mit dem Feininger inzwischen befreundet war, sicherte privat die in Deutschland verbliebenen sechzig Ölbilder, Grafiken und andere Kunstwerke. Der Retter, Hermann Klumpp, ein kunstsinniger Architekt, stammte aus Quedlinburg und lebte auch dort. Klumpp überlebte die unappetitliche juristische Auseinandersetzung zwischen dem geldgierigen US-Anwalt der 1970 in den USA verstorbenen Witwe und dem Kulturministerium der DDR, wie er auch dankbar die Kurskorrektur der DDR bei der Rezeption des Bauhauses erlebte. Mit couragierter Ausdauer wurden auch seine langjährigen Bemühungen um ein Feininger-Museum von Erfolg gekrönt. 1986 öffnete die Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg. Wenige Monate später starb Klumpp im Alter von 85 Jahren.
In den neunziger Jahren wurde das Haus aus- und umgebaut, klein, aber fein auch der moderne Anbau, der sich unaufdringlich in ein Hofensemble fügt. Die von Klumpp zusammengetragene Sammlung von Feiningers Grafiken, Radierungen, Lithografien und Holzschnitten ist die weltweit umfangreichste, damit reicht die Bedeutung der Einrichtung weit über Sachsen-Anhalt hinaus. Im fensterlosen Zwischengeschoss des Hauses, das dem »Meister der Moderne« Lyonel Feininger gewidmet ist, finden zudem temporäre Ausstellungen statt – aktuell werden Werke aus der Grafischen Sammlung des Landesmuseums Oldenburg unter dem Titel »Von Rembrandt bis Richter« gezeigt. Und zu sehen sind immer die Dauerausstellung aus der Sammlung von Dr. Hermann Klumpp und jenes berühmte Rad.
Vor dem Haus, unter einem Dach, ist eine Reihe jahrhundertealter Grabsteine aufgestellt. Die großen Steine mit den Halbreliefs und lesbaren Inschriften sind zumeist aus Bruchstücken zusammengefügt, was ihnen jedoch nicht die Ansehnlichkeit nimmt. Was steht aber vor diesen historischen Blöcken? An jedem anderen Ort würde man es Blasphemie nennen – hier nicht. Nämlich: Fahrräder in einem Ständer.
Von der Feininger-Galerie, in deren Nachbarschaft sich das Geburtshaus des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock befindet, geht es steil den Schlossberg hinauf. Oben thront die Stiftskirche St. Servatius, und das tut sie seit einer Ewigkeit. Die in den Fels eingelassene Krypta ist über tausend Jahre alt, das romanische Bauwerk darüber »lediglich« aus dem 12. Jahrhundert. In der Gruft war 936 König Heinrich I. beigesetzt worden. Er spielte als König der Ostfranken, wie man heute weiß, eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung des Deutschen Reiches. Ein anderer Heinrich, mit Nachnamen Himmler, verklärte ihn zum Stifter des deutschen Volkes, »zum Führer vor tausend Jahren«, und sah sich selbst als dessen Reinkarnation. Da aber die Gebeine des Königs sich nicht mehr am Ort befanden, wo sie einst bestattet worden waren, suchte die SS fieberhaft nach ihnen und fand sie auch fristgerecht 1936, also zu Heinrichs tausendstem Todestag. Die vorgeblichen Knochen des vermeintlichen Reichsgründers wurden in einer schaurigen Inszenierung der Nazis in der zu einer SS-Weihestätte umfunktionierten Krypta neuerlich beigesetzt. Heinrichs angebliche Gebeine waren, wie man heute sagen würde, ein vollständiger Fake. Unter den Knochen, die eindeutig von Frauen stammten, waren auch welche von Rindern. Und neben der Grabplatte hielten Ochsen in schwarzer Uniform mit Stahlhelm und Karabiner Totenwache.
Wo Heinrichs Knochen tatsächlich abgeblieben sind, wissen die Archäologen und Geschichtsforscher bis heute nicht – die Zeit Heinrichs, mit der das sogenannte ottonische Zeitalter anbrach (Otto, Sohn Heinrichs aus zweiter Ehe, erbte das ganze Reich), gilt in der Fachwelt als die quellenärmste Phase des gesamten Mittelalters in Europa. Vielleicht deshalb bedeckt heute schamhaft ein Tuch die Grabplatte, in der die Namen Heinrich und Mathilde eingemeißelt sind.
Zum Quedlinburger Dom gehört natürlich auch ein Domschatz, zu dem man durch eine schwere Kirchenpforte gelangt. Deren ungewöhnliche Messing-Klinke – halb Hund, halt Schwein – stammt von einem weiteren Heinrich. Dieser Heinrich Apel, Bildhauer und Restaurator aus der DDR, vor zwei Jahren verstorben, hinterließ vornehmlich in Sachsen-Anhalt eine Vielzahl Brunnen, Standbilder, Skulpturen, Denkmale und Büsten (darunter auch die von Franz Mehring vorm Gebäude des Neuen Deutschland in Berlin, die seit geraumer Zeit verschwunden ist, weil die Grünanlage vorm Haus mit schwerem Gerät umgestaltet wird).
In den Schatzkammern – links und rechts oberhalb der Krypta zu besichtigen – kann man die Preziosen bestaunen, die im Laufe der Jahrhunderte vom hier ansässigen frommen Frauenstift gesammelt wurden. Einige Kostbarkeiten klaute 1945 ein US-Soldat und schickte sie mit der Post an seine Heimatadresse in Texas – zehn (von zwölf vermissten) Stücken kehrten erst 1993, nach dem Untergang der DDR, an ihren angestammten Platz im Domschatz zurück.
Einer dieser Reliquiare heißt, halten Sie sich fest, Coronaschrein. Es ist eine Kiste aus Eichenholz, einen reichlichen Meter lang und ringsum mit aus Gold getriebenen Figuren verziert. Die Truhe mit dem Spitzdach stammt aus dem 15. Jahrhundert, eine unmittelbare Verbindung zur aktuellen Corona-Pandemie ist also auszuschließen. Gleichwohl: Eine indirekte Beziehung gibt es schon: Das Virus SARS-CoV 2 heißt bekanntlich deshalb Corona, weil es unterm Elektronenmikroskop wie ein Kranz oder eine Krone ausschaut; und die heißen im Lateinischen corona.
Die Heilige Corona, deren Knochen im Schrein sein sollen, war eine frühchristliche Märtyrerin, die auf etlichen Abbildungen mit Strahlenkrone gezeigt wird: auf einem Bleiglasfenster von 1270 im Straßburger Münster ebenso wie einst im Dom zu Siena auf einem Gemälde aus dem 14. Jahrhundert (heute zu sehen im Museum in Kopenhagen).
Und was machte die junge Frau, die sich mit angeblich siebzehn Jahren für ihren christlichen Glauben geopfert hatte, zur Märtyrerin? Man weiß weder den Ort ihrer Geburt noch den ihres Todes, wohl aber die Art, wie sie im Wortsinne aus dem Leben gerissen worden sein soll. Der ägyptische (?) Statthalter Roms habe sie kopfüber mit Armen und Beinen an zwei nach unten gezogene Palmen binden lassen, und nachdem sich Corona endgültig geweigert hatte, den römischen Göttern statt des einen Gottes zu huldigen, durchschlugen Söldner die Seile, die die Bäume zu Boden zogen. Diese schnellten in die Ausgangslage zurück und zerrissen anno 177 u. Z. die Frau. Im Jahre 964 gelangten ihre Knochen nach Quedlinburg unweit des Harzes. Und dort befinden sie sich noch immer, solange die Legende nicht gestorben ist.
Nach so viel Totenerinnerung und -geschichten eilten wir hinaus ins Freie an die frische Luft, vorbei an vielen Gerüsten und Bauzäunen. Seit drei Jahren wird auf dem Schlossberg saniert und restauriert, und es werden wohl noch einige Jahre ins Land gehen, bis das gesamte Ensemble wieder ohne Umhüllung zu sehen sein wird. Ein Plateau ganz in Grün bietet einen fantastischen Blick auf die Dächer von weit über zweitausend Fachwerkhäusern und die Türme von vielleicht einem Dutzend romanischer, gotischer und neogotischer Kirchen. Sie erklären, weshalb Quedlinburg als eines der größten Flächendenkmale Deutschlands auf die UNESCO-Liste kam und sich seither offiziell Welterbestadt nennt.
Oben, beim Ausblick auf die Altstadt, breiten sich schützend zwei Bronzehände über ein Häuschen. »Zu Ehren Prof. Dr. Gottfried Kiesow und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz« steht in Erz geschrieben, »Welterbestadt Quedlinburg 2019«. Nun, der aus Sachsen-Anhalt 1950 geflüchtete Pastorensohn Kiesow hat sich als Denkmalschützer nachweislich einen Namen und um die Rettung verschiedener historischer Orte im Osten verdient gemacht – nicht grundlos verliehen ihm Görlitz (1995), Quedlinburg (1998), Stralsund (2004), Wismar (2004) und Zittau (2005) die Ehrenbürgerwürde. Kiesows Credo bestätigt sich beim anschließenden Spaziergang durch die verwinkelten Gassen und Straßen Quedlinburgs auf jeden Schritt: »Denkmalschutz ist der Dank an die Vergangenheit, die Freude an der Gegenwart und unser Geschenk an die Zukunft.«
Die Frage aber ließ auch er unbeantwortet: Welche Zukunft hinterlassen wir?