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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Faschistischer Aufruhr in Italien

Ita­li­en ist 2020 weit­aus stär­ker von der Covi­d19-Pan­de­mie heim­ge­sucht und geschä­digt wor­den als Deutsch­land. Eine den Quer­den­kern ähn­li­che Bewe­gung hat sich nicht gebil­det, obwohl es auch hier Skep­ti­ker gibt. Die seit Janu­ar 2021 durch­ge­führ­te Impf­kam­pa­gne wur­de im Lau­fe des Jah­res mas­siv ver­stärkt, und inzwi­schen sind weit mehr als 80 Pro­zent der über 12-jäh­ri­gen voll geimpft, die Infek­ti­ons- und Kran­ken­zah­len konn­ten dadurch stark gesenkt wer­den. Den­noch gibt es aus vie­ler­lei Moti­ven auch noch Unge­impf­te. Seit dem Som­mer gewährt ein soge­nann­ter Green Pass (mit 3 G) wie­der Zugang zum öffent­li­chen Leben, der ab dem 15. Okto­ber auch Vor­aus­set­zung für alle Arbeits­plät­ze ist. Das hat Regie­rungs­chef Draghi in Über­ein­kunft mit den Unter­neh­mern durch­ge­setzt, und die drei gro­ßen Gewerk­schaf­ten haben nach viel Hin und Her zuge­stimmt. Dadurch ste­hen nun aller­dings cir­ca 2,3 Mio. Arbeits­kräf­te, ganz über­wie­gend im Pri­vat­sek­tor, die eben noch nicht geimpft sind, vor erheb­li­chen Pro­ble­men. Denn die Impf­kam­pa­gne ist vor allem in den klei­ne­ren Betrie­ben noch nicht so ange­lau­fen wie geplant, und wer die Nicht-Geimpf­ten alle zwei Tage testen und die hohen Kosten tra­gen soll, ist noch umstritten.

Aber die Kon­flik­te und Wider­sprü­che, die in den bei­den Pan­de­mie-Jah­ren alle gro­ßen sozia­len Pro­ble­me Ita­li­ens auf die Spit­ze getrie­ben haben, sind wesent­lich kom­ple­xer. Dass sie sich in die­sem Herbst ent­la­den könn­ten und wür­den, war abzu­se­hen. Und doch hat­te offen­bar nie­mand damit gerech­net, was sich am 9. Okto­ber bis in die tie­fe Nacht im Zen­trum Roms abge­spielt hat: ein Aus­bruch von Gewalt und Zer­stö­rungs­wut wie schon lan­ge nicht mehr. Für den Nach­mit­tag war auf der Piaz­za del Popo­lo, eine bunt schat­tier­te Impf­geg­ner-Demon­stra­ti­on geneh­migt wor­den, ohne genaue Begren­zung der Teil­neh­mer­zahl. Es kamen weit mehr als 10.000 Teil­neh­mer aus ganz Ita­li­en zusam­men, vor allem die offen faschi­sti­sche For­za Nuo­va hat­te dazu auf­ge­ru­fen, via Tele­gram, das über 40 ver­schie­de­ne Sei­ten der No-Vax Sze­ne in Ita­li­en unter­hält mit etwa 30.000 Fol­lo­wern. Die­se Auf­ru­fe nicht recht­zei­tig rea­li­siert zu haben, wird nun den Ord­nungs­hü­tern vorgeworfen.

Die Piaz­za liegt unweit der Regie­rungs­ge­bäu­de, die nicht extra abge­sperrt waren, so dass nach den auf­wie­geln­den Reden von stadt­be­kann­ten und mehr­fach vor­be­straf­ten Anfüh­rern der römi­schen Neo­fa­schi­sten die Situa­ti­on eska­lie­ren konn­te. Vor den No-Vax- und No-Green Pass-Ver­sam­mel­ten hat­ten sie zum Sturm gegen die Regie­rung, gegen die Impf­dik­ta­tur, gegen Draghi, gegen die Gewerk­schaft auf­ge­ru­fen. Danach ging es kampf­be­reit in die Via del Cor­so Rich­tung Palaz­zo Chi­gi. Ein wei­te­rer Trupp stürm­te mit Hun­der­ten von Demon­stran­ten zum Haupt­sitz der mit­glie­der­stärk­sten (5 Mio.), einst kom­mu­ni­sti­schen Gewerk­schaft CGIL im Cor­so Ita­lia. Sie dran­gen ins Erd­ge­schoss ein und rich­te­ten dort Ver­wü­stun­gen an. Die Video-Auf­nah­men, mit denen sie sich selbst in den sozia­len Medi­en brü­ste­ten, ähneln fatal denen vom Sturm der Trump-Anhän­ger in Washing­ton vor neun Monaten.

Die neo­fa­schi­sti­sche Sub­kul­tur gärt offen­bar über­all im Schutz hete­ro­ge­ner popu­li­sti­scher Bewe­gun­gen, die sich in einer als immer bedroh­li­cher emp­fun­de­nen Umwelt zum Wider­stand for­mie­ren. Die­se geball­te Gewalt, die in Rom im Schat­ten einer anfangs fried­li­chen Demon­stra­ti­on aus­brach, kam also nicht von unge­fähr, son­dern war eine geplan­te Akti­on der extre­men Rechten.

Die Zer­stö­rungs­wut setz­te sich abends fort mit dem Ein­drin­gen in die Not­auf­nah­me-Sta­ti­on des größ­ten römi­schen Kran­ken­hau­ses Umber­to Pri­mo, wo bereits Ver­letz­te der Demo ein­ge­lie­fert waren, die man »befrei­en« woll­te. Erst in den Mor­gen­stun­den konn­te der Betrieb dort wie­der nor­ma­li­siert werden.

Am näch­sten Tag mel­de­ten sich vie­le Poli­ti­ker zu Wort, ver­ur­teil­ten die Gewalt und spra­chen der CGIL ihre Soli­da­ri­tät aus, denn die poli­ti­sche und sym­bo­li­sche Dimen­si­on der Akti­on vom Vor­tag war klar: Vor exakt hun­dert Jah­ren, 1921, hat­te die faschi­sti­sche Bewe­gung ihren Sturm auf den Staat mit Angrif­fen auf die dama­li­ge Gewerk­schafts­be­we­gung eröff­net und lan­des­weit die »Came­re del lavoro« zer­stört, Vor­spiel zu Mus­so­li­nis Marsch auf Rom 1922.

Um von sich und ihrer Nähe zur For­za Nuo­va abzu­len­ken, for­der­ten die Ver­tre­ter der offi­zi­el­len Rech­ten, Lega und Fra­tel­li d’Italia, umge­hend und erneut den Rück­tritt der Innen­mi­ni­ste­rin, der sie seit lan­gem ein – aus ihrer Sicht – man­gel­haf­tes Durch­grei­fen bei der Abwehr von Flücht­lin­gen vor­wer­fen, die trotz aller Hin­der­nis­se die Küsten Ita­li­ens leben­dig erreichen.

Ber­lus­co­nis For­za Ita­lia erhob sofort wie­der War­nun­gen vor den »oppo­sti estre­mis­mi«, den Extre­mi­sten von rechts und links – die alte Lei­er. Dabei war er es, der die Faschi­sten des Movi­men­to Socia­le salon­fä­hig gemacht und erst­mals nach dem Krieg in sei­ne Regie­rung (1994) ein­ge­bun­den hat. 1995 mach­te Gian­fran­co Fini die Par­tei dann zur Alle­an­za Nazio­na­le, Vor­gän­ge­rin der Fra­tel­li d’Italia von Gior­gia Meloni.

Die Demo­kra­ti­sche Par­tei und die 5-Ster­ne-Bewe­gung wie­der­hol­ten die schon frü­her erho­be­ne For­de­rung, end­lich alle sich offen zum Faschis­mus beken­nen­den Grup­pie­run­gen auf­zu­lö­sen und sie dem Ver­fas­sungs­ge­bot ent­spre­chend zu ver­bie­ten. Mit unge­zähl­ten Ver­wick­lun­gen in umstürz­le­ri­sche Aktio­nen beglei­ten faschi­sti­sche Grup­pie­run­gen unter ver­schie­den­sten Namen die Geschich­te der anti­fa­schi­sti­schen Repu­blik schon seit deren Anfän­gen. Doch dass es nun gera­de der Draghi-Regie­rung, die sich ja auf eine »natio­na­le Ein­heit« mit den Rechts­par­tei­en stützt, gelin­gen soll­te, aus die­ser Koali­ti­on auch eine »anti­fa­schi­sti­sche Ein­heit« zu machen, steht mehr als dahin.

Die Ver­bin­dung der der­zeit oppo­si­tio­nel­len Fra­tel­li d’Italia, die sich vor­be­rei­ten, nach den Neu­wah­len 2023 eine Regie­rung der Rech­ten in Ita­li­en anzu­füh­ren, zu den »schmud­de­li­gen« Rechts­extre­men war und ist eng: »Man lebt zusam­men, aber man hei­ra­tet nicht«, so bringt es die römi­sche Tages­zei­tung Doma­ni (12.10.) auf den Punkt.

Die­ser 9. Okto­ber lag genau in der Mit­te zwi­schen den bei­den Ter­mi­nen der Kom­mu­nal­wah­len, aus der in Rom weni­ge Tage zuvor noch kein neu­er Bür­ger­mei­ster her­vor­ge­gan­gen war, denn nur noch weni­ger als die Hälf­te der Berech­tig­ten war zur Wahl gegan­gen (49 %) – die Stadt gilt vie­len als unre­gier­bar, nach­dem sich auch die bis­he­ri­ge, wenig erfolg­rei­che 5-Ster­ne-Bür­ger­mei­ste­rin zurück­ge­zo­gen hat, die sich mit den Stim­men der Rech­ten hat­te wäh­len las­sen. Am 17.10. erfolg­te die Stich­wahl zwi­schen einem sog. Mit­te-links-Kan­di­da­ten (dem ehe­ma­li­gen Finanz­mi­ni­ster der Regie­rung Con­te, Rober­to Gual­tie­ri) und einem Expo­nen­ten der Rech­ten, Enri­co Michet­ti, ins­be­son­de­re von den Fra­tel­li d’Italia unter­stützt. Deren Che­fin, Gior­gia Melo­ni, bezeich­ne­te die No-Vax-Demon­stran­ten als »Patrio­ten«, ganz im Trump-Jar­gon. Ihr Kan­di­dat Michet­ti wur­de bis­her aller­dings vor allem durch offen anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen bekannt. Er ver­glich die Impf­maß­nah­men der Draghi-Regie­rung mit dem Staats­do­ping der DDR, emp­fahl den römi­schen Mus­so­li­ni-Gruß als der Pan­de­mie ange­mes­sen und hält Covid 19 nach wie vor für eine Grip­pe-Vari­an­te. Er dürf­te nach den jüng­sten Ereig­nis­sen nun aber wohl doch weni­ger Chan­cen haben als zuvor. (Das Ergeb­nis der Wahl stand bis zum Redak­ti­ons­schluss die­ser Aus­ga­be noch nicht fest.)

Aber das wird die Situa­ti­on nur wenig ent­span­nen, denn der auf­ge­stau­te Frust bei Vie­len bleibt groß. Der viel­be­schwo­re­ne Wirt­schafts­auf­schwung der Draghi-Regie­rung lässt einen gro­ßen Teil der Arbei­ten­den außen vor, immer­hin zäh­len lan­des­weit inzwi­schen fast 30 Pro­zent von ihnen zu den sog. working poor, über­wie­gend im Süden, aber längst nicht nur. Sie ver­die­nen bei Voll­zeit weni­ger als 1000 € im Monat.

Die kom­men­den Wochen ber­gen also viel Kon­flikt­po­ten­ti­al, denn die prak­ti­schen Pro­ble­me wer­den sich zuspit­zen und die erfolg­te Fest­nah­me der Anfüh­rer der extre­men Rech­ten lässt deren Anhän­ger kei­nes­wegs ver­stum­men. Wei­te­rer Wider­stand auch der Impf­geg­ner ist ange­sagt, über den explo­si­ven 15./16.Oktober hin­aus bis Ende Okto­ber, wenn das letz­te Tref­fen des G-20 in Rom statt­fin­den soll. Aber nicht nur gegen den Green Pass wen­det sich der Volks­zorn, son­dern die Uni­on aus 15 Basis­ge­werk­schaf­ten, die am 11. Okto­ber den ersten lan­des­wei­ten Streik gegen Draghis Regie­rungs­maß­nah­men orga­ni­siert hat­te, den Hun­dert­tau­send Pro­te­stie­ren­de in allen gro­ßen Städ­ten unter­stütz­ten, möch­ten die Green Pass-Pola­ri­sie­rung unter den Arbei­ten­den ent­schär­fen und Draghi einen »Pakt für Ita­li­en« vor­schla­gen. Der for­dert unter ande­rem auch eine neue Lohn­po­li­tik gegen die Hun­ger­löh­ne nicht nur der Pre­ka­ri­sier­ten, ein wirk­sa­mes Gesetz gegen die Delo­ka­li­sie­rung der Indu­strie­be­trie­be und bes­se­re sozia­le Absi­che­run­gen. Ein erneu­ter »hei­ßer Herbst« hat schon begonnen.