Italien ist 2020 weitaus stärker von der Covid19-Pandemie heimgesucht und geschädigt worden als Deutschland. Eine den Querdenkern ähnliche Bewegung hat sich nicht gebildet, obwohl es auch hier Skeptiker gibt. Die seit Januar 2021 durchgeführte Impfkampagne wurde im Laufe des Jahres massiv verstärkt, und inzwischen sind weit mehr als 80 Prozent der über 12-jährigen voll geimpft, die Infektions- und Krankenzahlen konnten dadurch stark gesenkt werden. Dennoch gibt es aus vielerlei Motiven auch noch Ungeimpfte. Seit dem Sommer gewährt ein sogenannter Green Pass (mit 3 G) wieder Zugang zum öffentlichen Leben, der ab dem 15. Oktober auch Voraussetzung für alle Arbeitsplätze ist. Das hat Regierungschef Draghi in Übereinkunft mit den Unternehmern durchgesetzt, und die drei großen Gewerkschaften haben nach viel Hin und Her zugestimmt. Dadurch stehen nun allerdings circa 2,3 Mio. Arbeitskräfte, ganz überwiegend im Privatsektor, die eben noch nicht geimpft sind, vor erheblichen Problemen. Denn die Impfkampagne ist vor allem in den kleineren Betrieben noch nicht so angelaufen wie geplant, und wer die Nicht-Geimpften alle zwei Tage testen und die hohen Kosten tragen soll, ist noch umstritten.
Aber die Konflikte und Widersprüche, die in den beiden Pandemie-Jahren alle großen sozialen Probleme Italiens auf die Spitze getrieben haben, sind wesentlich komplexer. Dass sie sich in diesem Herbst entladen könnten und würden, war abzusehen. Und doch hatte offenbar niemand damit gerechnet, was sich am 9. Oktober bis in die tiefe Nacht im Zentrum Roms abgespielt hat: ein Ausbruch von Gewalt und Zerstörungswut wie schon lange nicht mehr. Für den Nachmittag war auf der Piazza del Popolo, eine bunt schattierte Impfgegner-Demonstration genehmigt worden, ohne genaue Begrenzung der Teilnehmerzahl. Es kamen weit mehr als 10.000 Teilnehmer aus ganz Italien zusammen, vor allem die offen faschistische Forza Nuova hatte dazu aufgerufen, via Telegram, das über 40 verschiedene Seiten der No-Vax Szene in Italien unterhält mit etwa 30.000 Followern. Diese Aufrufe nicht rechtzeitig realisiert zu haben, wird nun den Ordnungshütern vorgeworfen.
Die Piazza liegt unweit der Regierungsgebäude, die nicht extra abgesperrt waren, so dass nach den aufwiegelnden Reden von stadtbekannten und mehrfach vorbestraften Anführern der römischen Neofaschisten die Situation eskalieren konnte. Vor den No-Vax- und No-Green Pass-Versammelten hatten sie zum Sturm gegen die Regierung, gegen die Impfdiktatur, gegen Draghi, gegen die Gewerkschaft aufgerufen. Danach ging es kampfbereit in die Via del Corso Richtung Palazzo Chigi. Ein weiterer Trupp stürmte mit Hunderten von Demonstranten zum Hauptsitz der mitgliederstärksten (5 Mio.), einst kommunistischen Gewerkschaft CGIL im Corso Italia. Sie drangen ins Erdgeschoss ein und richteten dort Verwüstungen an. Die Video-Aufnahmen, mit denen sie sich selbst in den sozialen Medien brüsteten, ähneln fatal denen vom Sturm der Trump-Anhänger in Washington vor neun Monaten.
Die neofaschistische Subkultur gärt offenbar überall im Schutz heterogener populistischer Bewegungen, die sich in einer als immer bedrohlicher empfundenen Umwelt zum Widerstand formieren. Diese geballte Gewalt, die in Rom im Schatten einer anfangs friedlichen Demonstration ausbrach, kam also nicht von ungefähr, sondern war eine geplante Aktion der extremen Rechten.
Die Zerstörungswut setzte sich abends fort mit dem Eindringen in die Notaufnahme-Station des größten römischen Krankenhauses Umberto Primo, wo bereits Verletzte der Demo eingeliefert waren, die man »befreien« wollte. Erst in den Morgenstunden konnte der Betrieb dort wieder normalisiert werden.
Am nächsten Tag meldeten sich viele Politiker zu Wort, verurteilten die Gewalt und sprachen der CGIL ihre Solidarität aus, denn die politische und symbolische Dimension der Aktion vom Vortag war klar: Vor exakt hundert Jahren, 1921, hatte die faschistische Bewegung ihren Sturm auf den Staat mit Angriffen auf die damalige Gewerkschaftsbewegung eröffnet und landesweit die »Camere del lavoro« zerstört, Vorspiel zu Mussolinis Marsch auf Rom 1922.
Um von sich und ihrer Nähe zur Forza Nuova abzulenken, forderten die Vertreter der offiziellen Rechten, Lega und Fratelli d’Italia, umgehend und erneut den Rücktritt der Innenministerin, der sie seit langem ein – aus ihrer Sicht – mangelhaftes Durchgreifen bei der Abwehr von Flüchtlingen vorwerfen, die trotz aller Hindernisse die Küsten Italiens lebendig erreichen.
Berlusconis Forza Italia erhob sofort wieder Warnungen vor den »opposti estremismi«, den Extremisten von rechts und links – die alte Leier. Dabei war er es, der die Faschisten des Movimento Sociale salonfähig gemacht und erstmals nach dem Krieg in seine Regierung (1994) eingebunden hat. 1995 machte Gianfranco Fini die Partei dann zur Alleanza Nazionale, Vorgängerin der Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni.
Die Demokratische Partei und die 5-Sterne-Bewegung wiederholten die schon früher erhobene Forderung, endlich alle sich offen zum Faschismus bekennenden Gruppierungen aufzulösen und sie dem Verfassungsgebot entsprechend zu verbieten. Mit ungezählten Verwicklungen in umstürzlerische Aktionen begleiten faschistische Gruppierungen unter verschiedensten Namen die Geschichte der antifaschistischen Republik schon seit deren Anfängen. Doch dass es nun gerade der Draghi-Regierung, die sich ja auf eine »nationale Einheit« mit den Rechtsparteien stützt, gelingen sollte, aus dieser Koalition auch eine »antifaschistische Einheit« zu machen, steht mehr als dahin.
Die Verbindung der derzeit oppositionellen Fratelli d’Italia, die sich vorbereiten, nach den Neuwahlen 2023 eine Regierung der Rechten in Italien anzuführen, zu den »schmuddeligen« Rechtsextremen war und ist eng: »Man lebt zusammen, aber man heiratet nicht«, so bringt es die römische Tageszeitung Domani (12.10.) auf den Punkt.
Dieser 9. Oktober lag genau in der Mitte zwischen den beiden Terminen der Kommunalwahlen, aus der in Rom wenige Tage zuvor noch kein neuer Bürgermeister hervorgegangen war, denn nur noch weniger als die Hälfte der Berechtigten war zur Wahl gegangen (49 %) – die Stadt gilt vielen als unregierbar, nachdem sich auch die bisherige, wenig erfolgreiche 5-Sterne-Bürgermeisterin zurückgezogen hat, die sich mit den Stimmen der Rechten hatte wählen lassen. Am 17.10. erfolgte die Stichwahl zwischen einem sog. Mitte-links-Kandidaten (dem ehemaligen Finanzminister der Regierung Conte, Roberto Gualtieri) und einem Exponenten der Rechten, Enrico Michetti, insbesondere von den Fratelli d’Italia unterstützt. Deren Chefin, Giorgia Meloni, bezeichnete die No-Vax-Demonstranten als »Patrioten«, ganz im Trump-Jargon. Ihr Kandidat Michetti wurde bisher allerdings vor allem durch offen antisemitische Äußerungen bekannt. Er verglich die Impfmaßnahmen der Draghi-Regierung mit dem Staatsdoping der DDR, empfahl den römischen Mussolini-Gruß als der Pandemie angemessen und hält Covid 19 nach wie vor für eine Grippe-Variante. Er dürfte nach den jüngsten Ereignissen nun aber wohl doch weniger Chancen haben als zuvor. (Das Ergebnis der Wahl stand bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht fest.)
Aber das wird die Situation nur wenig entspannen, denn der aufgestaute Frust bei Vielen bleibt groß. Der vielbeschworene Wirtschaftsaufschwung der Draghi-Regierung lässt einen großen Teil der Arbeitenden außen vor, immerhin zählen landesweit inzwischen fast 30 Prozent von ihnen zu den sog. working poor, überwiegend im Süden, aber längst nicht nur. Sie verdienen bei Vollzeit weniger als 1000 € im Monat.
Die kommenden Wochen bergen also viel Konfliktpotential, denn die praktischen Probleme werden sich zuspitzen und die erfolgte Festnahme der Anführer der extremen Rechten lässt deren Anhänger keineswegs verstummen. Weiterer Widerstand auch der Impfgegner ist angesagt, über den explosiven 15./16.Oktober hinaus bis Ende Oktober, wenn das letzte Treffen des G-20 in Rom stattfinden soll. Aber nicht nur gegen den Green Pass wendet sich der Volkszorn, sondern die Union aus 15 Basisgewerkschaften, die am 11. Oktober den ersten landesweiten Streik gegen Draghis Regierungsmaßnahmen organisiert hatte, den Hunderttausend Protestierende in allen großen Städten unterstützten, möchten die Green Pass-Polarisierung unter den Arbeitenden entschärfen und Draghi einen »Pakt für Italien« vorschlagen. Der fordert unter anderem auch eine neue Lohnpolitik gegen die Hungerlöhne nicht nur der Prekarisierten, ein wirksames Gesetz gegen die Delokalisierung der Industriebetriebe und bessere soziale Absicherungen. Ein erneuter »heißer Herbst« hat schon begonnen.