Dem Schriftsteller Sebestyén Paulich, im Buch meistens Sebi genannt, sind familiäre Zwistigkeiten so unangenehm wie wohl den meisten von uns. Doch scheinen weder er noch seine neun Geschwister darauf verzichten zu können, der greise Vater, der seine Bekundungen gern mit »Pax!« beschließt, schon gar nicht. Friedfertig sind nur wenige der Figuren des Buches, am meisten vielleicht noch die Mutter. Die aber stirbt, während der Rest der Familie munter weiter Fehden ausficht. Vielleicht ist die Ursache ihres Todes zu diagnostizieren als »das Unausgesprochene«. Denn gleichgültig, wie wenig oder wie viel in der Familie gesprochen wird, übereinander und untereinander, auf das Wesentliche kommt man kaum. Das ist wohl in den meisten Familien der Welt so: Schweigen dominiert.
Hier jedoch unternimmt der Philosophiehistoriker, Wachmann und Schriftsteller Sebestyén Paulich einen Versuch, das familiäre Schweigen oder das Aneinander-Vorbeireden zu brechen – und veröffentlicht ein Buch über seine Familie mit dem etwas monströsen Titel »Ontogenea«. Darin nennt er seinen Vater das, was er ist, nämlich einen Tyrannen. Die Folgen sind ein Wutanfall des Alten und eine Strafaktion: Sebi wird ignoriert. Freilich hat der alte Herr das Buch gar nicht gelesen, er bezieht seine Kränkung aus einer Kritik, die in der Zeitung Népszabadság erschien. Die gibt es bekanntlich seit 2016 nicht mehr, im FIDESZ-Ungarn Victor Orbáns wurde das Blatt überraschend eingestellt. Andererseits scheint die erzählte Geschichte, so tief sie auch in die Vergangenheit mit vielen Schrecknissen zurückreicht, in der unmittelbaren Gegenwart zu spielen. Vielleicht gehört das zum Verwirrspiel Barnás‘, der eindringlich betont, dass alles nur Erfindung sei – wobei man sich einen so absurden familiären Irrsinn, wie er im Buch verhandelt wird, wohl nicht nur ausdenken kann.
Der Schreibanlass für das Buch, den Sebi, 50 Jahre alt, nennt, ist äußerst interessant und einleuchtend: »… in diesem Alter kann ich die Fiktion meiner eigenen Wirklichkeit nicht mehr vor mir selbst verleugnen (…), und zu dieser Fiktion gehörte auch die Fiktion von der Geschichte meiner eigenen Familie.« Sätze wie dieser machen die Lektüre zu einem Gewinn. Auch die Rückblicke in die Vergangenheit, meist von Schweigen umhüllt, haben diese Wirkung.
Freilich tut der Autor manchmal des Guten zu viel. Um es klar und deutlich zu sagen: Das Buch ist zu lang, es wird zu viel hineingestopft. Zugegebenermaßen lässt sich die Geschichte einer derart großen Familie nicht im Kurzroman erzählen. Aber manches wird zu breit ausgewalzt, etwa die Prostata-Erkrankung Sebis, die Schilderung der Indonesien-Aufenthalte mit seiner Freundin Lil. Diese werden gegen Ende des Buches zu bloßen Reiseberichten, die kaum noch etwas mit der Familiengeschichte der Paulichs zu tun haben. Dabei ist diese im besten Sinne des Wortes spannend.
Lil ist viel jünger als Sebi, da zunächst keine Heiratspläne geschmiedet werden, steht die katholische Familie der Frau ziemlich distanziert gegenüber. Freilich führen die Geschwister, sofern sie denn verheiratet sind, auch nicht gottgefällige Ehen, leben als Spieler oder Spekulanten wohl nicht nach den 10 Geboten.
Lil wird aber vom alten Paulich geschätzt und akzeptiert. Sie beginnt, bei einem Politiker zu arbeiten, der sich für den Erhalt der Demokratie in seinem Lande einsetzt. Ein wenig naiv wirkt dabei allerdings, dass mehrfach dessen guten Beziehungen nach Amerika bemüht werden. Da sie exzellente Sprach- und Landeskenntnisse hat, steigt Lil in den diplomatischen Dienst ihres Landes auf, was eben die indonesischen Exkurse auslöst. Sebi hingegen hält sich vom politischen Geschäft penibel fern, wenngleich seine Gründe mehr zu ahnen sind, als dass sie klar benannt würden. Aber das hat vielleicht mit der gegenwärtigen Situation Ungarns zu tun. Es ist eben gesellschaftlich und kulturell so zerrissen wie Sebis Familie. Deren wechselvolle, turbulente Geschicke werden flott und unterhaltsam erzählt, und nicht selten fällt dadurch ein scharfes Licht auf gegenwärtige ungarische Verhältnisse.
Ferenc Barnás: Bis ans Ende unserer Leben. Deutsch von Eva Zador, Schöffling Verlag 2022, 512 S., 28 €.