Noch ehe Joe Biden verbindlich erklärt hat, wie er sich das künftige Verhältnis der USA zu den europäischen Verbündeten vorstellt, hat sich die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer dem gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten und Hauptfinancier der NATO zu Füßen geworfen. Natürlich sei Deutschland bereit, künftig tiefer in die Tasche zu greifen, bekräftigte sie in einer Grundsatzrede an der Hamburger Bundeswehr-Akademie, sehe aber für sich auch »neue Optionen« in der internationalen Politik.
Neue Optionen? Was sollen wir uns darunter vorstellen? Was haben wir von einer »internationalen Verteidigungsdiplomatie« zu erwarten, die es ermöglicht, »aus einer Position der Stärke« für Freiheit, Frieden und Konfliktlösung zu agieren? Wen schauderte nicht bei dem Gedanken, dass Konflikte weiterhin durch militärische Gewalt nach afghanischem Muster gelöst werden sollen. Was versteht Frau Kramp-Karrenbauer unter einem »vernetzten Politikverständnis«, ohne das Deutschland und Europa angeblich nicht richtig »weltpolitikfähig« werden können. Reicht es nicht, dass bewaffnete amerikanische Drohnen von deutschem Boden aus ins Ziel gesteuert werden?
Angesichts dieser Vernetzung mutet es merkwürdig an, dass die Verteidigungsministerin argwöhnt, Amerika könnte sein Interesse an der Verteidigung Europas verlieren. Die USA haben ihre eigenen Interessen nie aus den Augen verloren, und sie haben sich das seit jeher etwas kosten lassen. Den deutschen Steuerzahlern braucht deswegen niemand ein schlechtes Gewissen zu machen. Dass die Vereinigten Staaten, wie die Ministerin hervorhebt, 75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten stellen, hat nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, sondern ist reines Machtkalkül. Dasselbe gilt für die nukleare Abschreckung.
Wo sie Recht hat, hat sie Recht: Selbstverständlich sind und bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika auf absehbare Zeit der wichtigste Verbündete, ohne den Deutschland und Europa sich nicht schützen können. Schützen vor wem eigentlich? Für Konrad Adenauer war Soffjet-Russland der gottgegebene Feind, dessen Divisionen stündlich bereit gewesen sein sollen, bei uns einzumarschieren. Heute wird das strategische Gleichgewicht, so die deutsche Verteidigungsministerin, durch Putins Russland empfindlich gestört. Deshalb sei es gut, dass es über die politischen Lager hinweg einen Konsens für »mehr Verantwortung« Deutschlands und Europas gebe. Allerdings müssten wir auch mehr für unsere eigene Sicherheit tun.
Damit ist der neuralgische Punkt benannt: die Bereitschaft der Bundesregierung, demnächst zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die NATO-Kasse zu zahlen. Um die bittere Pille zu versüßen, erklärte Kramp-Karrenbauer, die Kosten einer strategischen Autonomie im Sinne einer vollkommenen Loslösung von den USA würden ungleich höher ausfallen als die vorgesehenen zwei Prozent. Jetzt liegt die Marge bei rund 1,6 Prozent. Die Militärausgaben Deutschlands erreichen damit in diesem Jahr die Rekordsumme von 50,4 Milliarden Euro. Die vom französischen Präsidenten favorisierte Idee einer eigenen europäischen Streitmacht tat die Ministerin, sehr zum Ärger Emmanuel Macrons, als »eine Vision von vielen« ab.
An die Adresse des gewählten amerikanischen Präsidenten gerichtet, erklärte Kramp-Karrenbauer, Biden müsse davon ausgehen, dass Europa für die USA ein starker Partner auf Augenhöhe sei und kein hilfsbedürftiger Schützling. Sie halte es für wichtig, dass die Europäer der kommenden US-Administration »ein gemeinsames Angebot, einen New Deal vorlegen«. Wie ist das gemeint? Der Begriff New Deal hat mit der Sache, um die es hier geht, nämlich um die Neuverteilung militärischer Lasten, nichts zu tun. Er wird mit den Wirtschafts- und Sozialreformen Franklin D. Roosevelts zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg assoziiert und ist als positiv besetzter Begriff in den internationalen Sprachschatz eingegangen. In der englischen Sprache bedeutet die Redewendung so viel wie Neuverteilung der Karten. Das sei hier angefügt, damit sich Annegret Kramp-Karrenbauer nicht allzu sehr grämt.