In diesem Jahr erinnern wir uns an den 30. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs in Europa, der jahrzehntelang den Kontinent in Ost und West gespalten hat. Das Europäische Parlament hat bereits im Herbst 2005 mit großer Mehrheit aus allen Mitgliedstaaten und allen Fraktionen meinem Antrag zugestimmt, der die Kommission und die Mitgliedstaaten auffordert, »die Initiative ›Iron Curtain Trail‹ umzusetzen, […], um die europäische Identität zu fördern«.
Sichtbare Erinnerung gibt es bereits mit dem »Berliner Mauerweg«, der seit 2001 vom Berliner Senat ausgeschildert und fahrradfreundlich ausgebaut und vom rot-rot-grünen Senat 2018 zum Denkmal erklärt wurde, und dem »Deutsch-Deutschen Radweg«. Er führt von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze an zahlreichen Flüssen und Seen entlang und überwindet die Höhen des Harzes sowie die des Thüringer Waldes. Er passiert viele Denkmäler und Grenzlandmuseen wie auch manche der noch verbliebenen Wachtürme.
Die Geschichte der europäischen Spaltung beginnt nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern mit Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939, als deutsche Soldaten in Polen einmarschierten. Ohne den von Nazi-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg wäre Europa nicht gespalten worden.
Nach dem Vorbild des Berliner Mauerwegs und des Deutsch-Deutschen Radwegs entsteht nun entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs auf dem früheren Todesstreifen ein Rad- und Wanderweg, auf dem man europäische Geschichte, Politik, Natur und Kultur im wahrsten Sinne des Wortes erfahren kann. Das 10.000 Kilometer lange »Grüne Band« von der Barentssee zum Schwarzen Meer steht seit 2002 unter der Schirmherrschaft von Michail Gorbatschow, der seit 1993 Präsident von Green Cross International (GCI) ist.
Am »Europa-Radweg Eiserner Vorhang« (Iron Curtain Trail) sind 20 Länder beteiligt, darunter 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beginnend an der Barentssee verläuft der Rad- und Wanderweg an der Westgrenze der ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrags bis zum Schwarzen Meer. Man radelt an der norwegisch-russischen und finnisch-russischen Grenze entlang bis zur Ostsee und passiert dort die Küstenstreifen von Russland, Estland, Lettland, Litauen, Kaliningrad, Polen und Ostdeutschland. Von der Halbinsel Priwall bei Travemünde bis zum sächsisch-bayerisch-tschechischen Dreiländereck folgt die Route dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen. Dann führt sie über die Höhen des Böhmerwalds, vorbei an Mähren und der slowakischen Hauptstadt Bratislava, um dort die Donau zu überqueren. Entlang der Südgrenze Ungarns führt der Weg über Slowenien und Kroatien. Zwischen Rumänien und Serbien folgt die Strecke weitgehend dem Lauf der Donau, um schließlich über Bulgarien, Mazedonien und Griechenland am nördlichsten Punkt der Türkei an der bulgarischen Schwarzmeerküste zu enden.
Die Strecke verläuft durch mehrere Nationalparks mit einer interessanten Flora und Fauna und verbindet eine Vielzahl einzigartiger Landschaften, die in der Sperrzone lagen und nahezu unberührt geblieben sind. Sie verbindet aber auch zahlreiche Mahnmale, Museen und Freiluft-Einrichtungen, die an die Geschichte der Spaltung Europas und deren Überwindung erinnern.
Wie beim »Berliner Mauerweg« und dem »Deutsch-Deutschen Radweg« können auch beim »Europa-Radweg Eiserner Vorhang« die teilweise noch vorhandenen asphaltierten Patrouillenwege der Grenzanlagen genutzt werden. In vielen Ländern und Regionen Europas wird an dem Projekt gearbeitet, zahlreiche Abschnitte sind schon ausgeschildert und fahrradfreundlich ausgebaut.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich im Grünen Band mit dem Fahrrad zu bewegen. Ob auf der westlichen oder der östlichen Seite, ob näher an der Grenze oder weiter entfernt, ob auf Kolonnenwegen mit Lochplatten oder auf Asphalt. Die vorgeschlagene Route wurde nach den folgenden fünf Kriterien ausgewählt: möglichst nahe an der ehemaligen Grenze; vorzugsweise auf komfortabel zu befahrenden Wegen; stark befahrene Straßen vermeidend; die ehemalige Grenze häufig querend; viele Zeugnisse der Geschichte integrierend.
Die Zusammenarbeit mit der europäischen Initiative europeangreenbelt (www.greenbelt.eu), die gemeinsam mit Naturschützern aus den mittel- und osteuropäischen Ländern das Projekt »Green Belt« ins Leben gerufen hat, ist eng und produktiv.
Seit dem Fall der Mauer in Berlin und des Eisernen Vorhangs in Europa sind nunmehr fast 30 Jahre vergangen. Gemäß der Aussage von Wilhelm von Humboldt, »Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft«, müssen wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Deshalb pflegen wir mit Dankbarkeit die Erinnerung an die Friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa, ohne die jahrzehntelange Spaltung unseres Kontinents zu vergessen.
Das Projekt ist keine Vision mehr, sondern schon heute Realität. Es wurde als »EV 13« in das EuroVelo-Konzept der Europäischen Kommission aufgenommen und war unter dem Titel »Unbuilding Walls« Bestandteil im Deutschen Pavillon der Biennale 2018 in Venedig. Die im österreichischen Verlag Esterbauer vor zehn Jahren von mir verfassten drei Bücher über den »Europa-Radweg Eiserner Vorhang« wurden überarbeitet und sind nun als fünfbändiges Produkt in Deutsch und Englisch erhältlich. Sie werden am 4. April 2019 im Europäischen Haus der Geschichte in Brüssel vom ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments (2007 – 2009), Hans-Gert Pöttering, vorgestellt.
Michael Cramer ist 69 Jahre. Seit 2004 ist er für Bündnis 90/Die Grünen Abgeordneter im Europäischen Parlament und war dort zwischen 2014 und Januar 2017 Vorsitzender im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr.