EU-Außenbeauftragter Josep Borrell übt sich in grotesker Realitätsverweigerung: »Europa ist ein Garten.« Hier herrsche politische Freiheit, wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Zusammenhalt. Aber dieser Garten Eden werde bedroht: »Der größte Teil der restlichen Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen«, so Borrell. Bei seiner Rede in einer Akademie baut der Außenbeauftragte Luftschlösser für die EU-BürgerInnen. Da fällt einem doch der alte Psychiater-Kalauer ein: Der Neurotiker baut Luftschlösser, der Psychotiker wohnt darin – und der Psychiater kassiert die Miete. Dass Borrell die EU – wie die meisten Politfunktionäre –, also den wirtschaftlich-politischen Zusammenschluss von 27 von insgesamt 47 europäischen Staaten beharrlich mit »Europa« gleichsetzt: geschenkt. Schlimmer ist der dümmliche Rassismus, den der EU-Chefdiplomat hier kundtut.
Die PolitikerInnen sind unfähig und/oder nicht willens, die sich in der EU aufbauende Bedrohung wahrzunehmen, geschweige denn ihr entgegenzuwirken. Zwei Drittel bis drei Viertel der EU-BürgerInnen sehen die Korruption in ihren Ländern als weit verbreitet an, wie eine aktuelle Umfrage zeigt. Die Menschen haben die Nase voll von solchen Berufsganoven und ihren Machenschaften. Ein Teil der herrschenden Politikerriege von Berlusconi bis Kurz, von Rajoy über Sarkozy bis Orbán haben offensichtlich die Leute übers Ohr gehauen, um sich zu bereichern und ihre Macht zu festigen. In einigen EU-Staaten herrschen Verbrecher und Oligarchen, in anderen betreiben sie mehr oder weniger offensichtlich Politik im Interesse von Banken und Konzernen. Das weiß jede und jeder in der EU auch ohne tiefere Analysen. Ist das die politische Freiheit, die Borrell meint?
Der von ihm gepriesene (oder halluzinierte) wirtschaftliche Wohlstand gilt für immer weniger Menschen. In einigen Ländern haben massive Proteste bereits begonnen, gegen die Verelendung, die Verrottung der öffentlichen Daseinsvorsorge, die Altersarmut, die Wohnungsnot bei gleichzeitiger schamloser Bereicherung der Machtelite. Aber auch die Zahl der Resignierten wächst, die nicht einmal mehr zur Wahl gehen: Sie haben die Konsequenz aus der Erfahrung gezogen, dass man mit Wahlen an den Verhältnissen nichts ändern kann und dass auch die Regierungen gegen die Macht der Finanzmärkte und einer korrupten EU nichts ausrichten können. Die Angst vor eigener Verarmung wächst ebenso wie die vor dem drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch infolge der selbstmörderischen Versuche, Russlands Wirtschaft zu ruinieren. Von dieser Stimmung profitieren in erster Linie Nationalisten und Faschisten, wie man das derzeit bei Wahlen in Frankreich, Italien, Schweden und Spanien verfolgen kann – teilweise mit Unterstützung der Konservativen. So warb etwa EVP-Chef Manfred Weber im italienischen Wahlkampf für den notorischen Silvio Berlusconi. Und die als »Postfaschistin« titulierte, neue italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wurde von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg freundlich beglückwünscht: »Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Die Glaubwürdigkeit der EU, das Vertrauen in ihre Politik und ihre Institutionen sind hoffnungslos zerstört. Die Menschen sind desillusioniert. Umfragen zeigen eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Zustimmung zur Demokratie und der weit verbreiteten Überzeugung, dass sie nicht verwirklicht wird. In dieser Stimmungslage versucht ausgerechnet Deutschland, aus der desolaten Lage Profit zu schlagen. Einerseits verlangt es von den Nachbarn Solidarität bei der Beschaffung von dringend benötigtem Erdgas, weil der eigene Anteil an Gas aus Russland vor dem selbst durchgesetzten Wirtschaftskrieg am größten war. Andererseits verweigert es die Solidarität und will sich mit einem ökonomischen »Doppelwumms« Vorteile verschaffen – ein Versuch, den Ungarns Präsident Orbán mit der Bemerkung quittiert: »Beginn des Kannibalismus in der EU.«
Selbst angeschlagen, plustert sich Deutschland auf: Es beansprucht die Rolle einer Führungsmacht in Europa. Nein, nicht auf dem Gebiet der Friedens-, der Klima- oder der Sozialpolitik, sondern des Militärs. Der Krieg (nicht nur) in der Ukraine tobt und soll auch weiter angeheizt werden, um Russland zu schwächen. Da verlangt Bundesministerin Lambrecht: Deutschland muss militärische Führungsmacht werden! Die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende ist zu übersetzen als schnelle Militarisierung der BRD und der EU. Aber für geopolitische Geltung ist das Land allein zu schwach. Also fordert Alterspräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble: »Europa braucht rasch eigene Atomwaffen!« Die Friedensnobelpreisträgerin EU bleibt auf Kriegskurs, beteiligt sich an der Atombomben-Übung Steadfast Noon der Nato und bildet im Rahmen von EUMAM ukrainisches Militär aus, womit sie nicht mehr nur indirekt zur Kriegspartei wird. Je korrupter, zerrissener, undemokratischer oder gar faschistischer die Länder der EU werden, umso dringlicher pocht die Kommission auf globalen wirtschaftlichen und militärischen Einfluss.
Wer will die angestrebte geopolitische Macht der EU unter deutscher Führung? Die Bevölkerung hierzulande bleibt skeptisch: Laut Umfrage der Körber-Stiftung wollen nur 29 Prozent der Bevölkerung eine militärische Führungsrolle Deutschlands, während 68 Prozent sie ablehnen. Zwar plädieren 41 Prozent der Befragten für Einmischung in internationale Krisen, aber 65 Prozent in Form von mehr diplomatischer Aktivität; nur 14 plädieren für mehr militärische Einmischung. Also muss die Bevölkerung – es drohen Proteste und wachsender Widerstand – auf Kurs gebracht werden. Die halbstaatliche Initiative »Zeitenwende on Tour« führt Propagandaveranstaltungen durch, um die militaristische Sicherheitspolitik unters Volk zu bringen: »Die deutsche Außen-, Sicherheits- und Europapolitik muss sich jetzt verändern, um unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Wohlstand auch in Zukunft zu sichern.« Hauptakteur ist die Münchner Sicherheitskonferenz, gefördert vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft. Zielgruppen der Propagandakampagnen sind SchülerInnen und junge Erwachsene – sowie die Redaktionen verschiedener Medien.
Die Menschen können sich auf verstärkte Propaganda gefasst machen – als wirkte ein Teil der meinungsmachenden Medien nicht jetzt schon militaristisch gleichgeschaltet. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, ein militärpolitischer Think Tank der Bundesregierung, will für mehr Wehrhaftigkeit (kein Schreibfehler) sorgen, um Deutschland die verdiente militärische Führungsposition und die Akzeptanz in der Bevölkerung zu verschaffen. Ein neues Soldatenbild müsse verankert werden. Im Zentrum: »Kämpfen, Töten, Sterben!« Die Zeitenwende bedeute beschleunigte Militarisierung und Ausrichtung auf einen Krieg gegen eine Groß- und Nuklearmacht (Russland) – ergänzt durch einen Mentalitätswandel. Ein Wandel im Mindset müsse erreicht werden: die Bereitschaft zum Kampf (»Zeitenwende in den Köpfen«, pressanza.com, 23.10.22).
Während die Kriegsgefahr in Europa wächst, die Welt wegen wachsender Armut, Klimakatastrophen und Kriegen unter der westlichen Vorherrschaft leidet, spielt sich die EU neben den USA (auch gegen das aufstrebende China) als globale Wirtschafts- und Militärmacht auf. Darauf hat der globale Süden gerade noch gewartet, der sich noch gut an Kolonialismus und Rassismus erinnert, der zwei Weltkriege, die von Deutschland ausgingen, nicht vergessen kann und der unter dem Imperialismus vor allem westlicher Mächte zu leiden hat. Europa und die Welt benötigen eine Zeitenwende ganz anderer Art: zu Mitmenschlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und Kooperation – auch mit Russland. Ganz offensichtlich wird der Kampf für Frieden und eine Welt ohne Ausbeutung zu einer Existenzfrage. Die EU hat nur als Friedensmacht eine Berechtigung und eine Zukunft.