Auf Seite 300 des opulenten Buches »Schwitters« liest man, dass Kunst nicht von ihrem Künstler, nicht von sich, nicht einmal von ihrem Gegenstand handele – sondern ihn erzeuge. Dies als Credo der Autorin Ulrike Draesner unterstellt, wird hier ein veritabler Kurt (in Hannover) und (in England) Körrt Schwitters (1887 bis 1948) erzeugt. Schwitters, ein Kunst-Genie – in Erinnerung vielleicht noch als Autor des Gedichtes »Anna Blume« und erfinderischer Gestalter begehbarer Skulpturen (MERZ-Bau), als Dada-Mann und Pop-Art-Vorläufer – erscheint dank der Sprachkunst der Autorin fast leibhaftig vor uns. Dabei hatte er nicht gewünscht, von jemandem »verbiografisiert« zu werden. Ulrike Draesner gelingt das wundersame Kunststück, einen Roman zu schreiben, der kein Roman ist, und eine Biografie, die keine Biografie ist, und doch den Leser zu fesseln.
Die Handlung beginnt 1936 in Hannover, in der Villa der Familie Schwitters. Da ist Kurt (»Truk«) beinahe fünfzig Jahre alt, von den Nazis zum »Entarteten« erklärt, als Werbetexter für die Stadt und Firmen nicht mehr erwünscht; er muss mitansehen, wie die Bedrohung selbst in seiner Straße immer näher rückt. Denn: »Fuhr ein Möbelwagen ohne Aufschrift vor, war man jüdisch.«
Seine Frau Helma überredet ihn zum Gang ins Exil, bleibt selbst in Hannover, kümmert sich um Werk, Besitz und die »Alten«; sie erlebt die Zerstörung ihres Heims, stirbt 1944 an Krebs. Diese Frauenfigur, eine Lebens- und Kunstorganisatorin des Herrn Schwitters, ist der Autorin wie keine andere des Buches gelungen.
Schwitters geht nach Norwegen, wo sich Sohn Ernst schon aufhält. Nach der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht flieht Schwitters übers Meer nach England. Im Internierungslager und im bombardierten London bekommt er die Bitternis des Exils erst recht zu schmecken. Daraus erlöst ihn, soweit ein Schwitters zu erlösen ist, wieder eine Frau: Edith Thomas, genannt Wantee.
Im englischen Lake District, in einer fremden Sprache und Lebensweise, versucht sich Schwitters an einem neuen »MERZ-Bau«, er fristet sein kümmerliches Leben von Porträtmalerei, ist abhängig von drachenhaften Vermieterinnen und windigen »Kunsttypen«. Seine Gesundheit verschlechtert sich rapide.
Es gehört zu den Vorzügen des Buches, dass trotz der oft traurigen Begebnisse nie Larmoyanz aufkommt. Im Gegenteil! Schwitters’ Spielen mit der neuen Sprache wird auf ironisch-humorvolle, aber nie zynische Weise vorgeführt und ist ein unbedingter Lesegewinn. Dass im zweiten Teil des Buches manchmal der Handlungsfluss stagniert, weil gar zu genau oder wiederholend erzählt wird, muss freilich auch gesagt werden. Dann schwitterst die Autorin gar zu heftig, und man wünscht sich mehr von der oft herrlichen Lakonie des ersten Teils.
Es waren anscheinend immer Frauen, die in Schwitters’ Leben gestaltend eingriffen, weil sie ihn so nahmen, wie er nun einmal war. Die verständnisvolle, eigentlich erotische Zuwendung kann man auch dem Buch Ulrike Draesners ablauschen – und wer weiß: Vielleicht wäre auch Kurt Schwitters froh, so »verbiografisiert« worden zu sein. Schön ist auch, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch das Äußere des Buches liebevoll gestaltet wurde.
Ulrike Draesner, »Schwitters«, Penguin Verlag, 480 Seiten, 25 €