Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

»Es wird Blut fließen, viel Blut«

Vor gut 10 Jah­ren, am 1. Okto­ber 2012 ist in Lon­don mit über 90 Jah­ren der bri­ti­sche Histo­ri­ker Eric Hobs­bawm fried­lich gestorben.

Sein Tod löste, wie sei­ne Wit­we Mar­le­ne Hobs­bawm in ihren Memoi­ren (»Meet Me in Bue­nos Aires«) bewegt schil­der­te, inter­na­tio­nal eine Wel­le von Ver­nei­gun­gen aus – bis hin zur The Times, die ihm sei­nen Auf­ma­cher wid­me­te. Über alle poli­ti­schen Lager hin­weg bestand Einig­keit dar­über, dass hier jemand sei­nen letz­ten Atem­zug getan hat­te, der sich in sei­nem wis­sen­schaft­li­chen Leben so tie­fe Ein­sich­ten in die Bewe­gungs­ge­set­ze mensch­li­cher Gesell­schaf­ten erar­bei­tet hat­te wie kein ande­rer Zeit­ge­nos­se. Das geschah, obwohl alle wuss­ten, dass er eben nicht nur Zeit­zeu­ge, son­dern Zeit­ge­nos­se war. Durch alle Wir­ren hin­durch und trotz sei­ner Kri­tik an den poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen der Bewe­gung, der er sich seit sei­nen Ber­li­ner Jugend­jah­ren zuge­hö­rig fühl­te, blieb er bis zum letz­ten Atem­zug eben Genos­se – Mit­glied der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei in Großbritannien.

Vor allem sei­ne drei­bän­di­ge Geschich­te des »lan­gen 19. Jahr­hun­derts« und sei­ne in nahe­zu alle Spra­chen über­setz­te Geschich­te des dar­auf­fol­gen­den kur­zen »Jahr­hun­derts der Extre­me« haben ihn welt­be­rühmt gemacht.

Sein zehn­ter Todes­tag ist, abge­se­hen von eher kur­zen Noti­zen in eher am lin­ken Rand ange­sie­del­ten Medi­en, kaum noch ver­merkt wor­den. Das hat ange­sichts der jün­ge­ren Ent­wick­lun­gen eine gewis­se Tra­gik. Denn sei­ne Ein­sich­ten könn­ten hel­fen, uns in die­sem Sturm, der über uns her­ein­zu­bre­chen droht, zurecht­zu­fin­den. In einem sei­ner letz­ten gro­ßen Inter­views warn­te Hobs­bawm, der flie­ßend Deutsch sprach, 2009 im Stern vor dem, was sich damals schon zusam­men­brau­te und jetzt zu ent­la­den beginnt: »Mei­ne geschicht­li­che Erfah­rung sagt mir, dass wir uns – ich kann das nicht aus­schlie­ßen – auf eine Tra­gö­die zu bewe­gen. Es wird Blut flie­ßen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Men­schen wird zuneh­men, auch die Zahl der Flücht­lin­ge. Und noch etwas möch­te ich nicht aus­schlie­ßen: einen Krieg, der dann zum Welt­krieg wer­den wür­de – zwi­schen den USA und China.«

In der Stadt, die selbst mit dem Slo­gan wirbt, sie sei »Stadt, die Wis­sen schafft«, in Göt­tin­gen also, haben sich ein paar Men­schen ganz unter­schied­li­chen Alters zusam­men­ge­tan, um den Schatz der Erkennt­nis­se, den uns Eric Hobs­bawm hin­ter­las­sen hat, zu heben, sei­ne Stu­di­en über die geschicht­li­chen Ent­wick­lun­gen frucht­bar zu machen für unse­re Zeit. Das wäre des­halb in sei­nem Sin­ne, weil er sich nie nur als berich­ten­der, son­dern immer als ein­grei­fen­der Histo­ri­ker ver­stan­den und in sei­ner Auto­bio­gra­fie in die Wor­te geklei­det hat: »Sozia­le Unge­rech­tig­keit muss immer noch ange­pran­gert und bekämpft wer­den. Von selbst wird die Welt nicht besser.«

Die Bemü­hun­gen, Hobs­bawm um unse­rer selbst wil­len nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu las­sen, begin­nen am Diens­tag, den 1. Novem­ber um 18:30 mit einem Vor­trag des han­no­ver­schen Histo­ri­kers Flo­ri­an Grams und einer anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on bei Wein und Gebäck im »Hol­born­schen Haus« in der Roten Stra­ße 34 in Göt­tin­gen. Die Ver­an­stal­tung wird gemein­sam von der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung Nie­der­sach­sen und der Marx-Engels-Stif­tung orga­ni­siert. Die Uni Göt­tin­gen bie­tet danach über das gesam­te Win­ter­se­me­ster ein Stu­di­en­se­mi­nar an, des­sen Ergeb­nis­se die Stu­die­ren­den im Febru­ar 2023 der Öffent­lich­keit prä­sen­tie­ren wollen.