Plötzlich steht da mitten im Text der Vorschau auf die dreiteilige Serie über Schachspiel und Schachsport, die in diesem Monat vom Deutschlandfunk ausgestrahlt wird, zu lesen: »Schach mutet an, wie von Außerirdischen beim interstellaren Picknick am Wegesrand hinterlassen.« Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic hat diesen für viele Leserinnen und Leser sicherlich kryptischen Satz geschrieben. Sein »Versuch über einen unfassbaren Sport«, der weder Spiel noch Wissenschaft sei, womöglich Kunst, bildet den abschließenden Teil der Sendereihe.
ПИКНИК НА ОБОЧИНЕ. 1972 veröffentlichte die Leningrader Zeitschrift Aurora diese kurz zuvor fertiggestellte utopische Erzählung der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki. Auf Deutsch erschien sie 1976 im Verlag »Das Neue Berlin« unter dem von Aljonna Möckel wörtlich übersetzten Titel Picknick am Wegesrand.
Außerirdische hatten 13 Jahre vor Beginn der Romanhandlung, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist, die Erde besucht und sich dabei wie menschliche Ausflügler oder Touristen verhalten und ihren Müll zurückgelassen. Weltweit wurden in sechs Gebieten unerklärliche Artefakte, Maschinen und Erscheinungen entdeckt. (Ein Schachspiel war allerdings nicht dabei.) Wer diese Wesen waren, woher sie kamen oder wohin sie gingen, bleibt rätselhaft. Niemand hat sie gesehen. Und was ihre Hinterlassenschaften angeht, um die sich das »Internationale Institut für außerirdische Kulturen und Phänomene« kümmert, so ist unklar, ob sie ein Segen für die Menschheit sein können oder eine furchtbare Bedrohung sind.
Diese Fundsachen wecken Begehrlichkeiten, und so mancher wird bei der Suche von anderen Motiven angetrieben als von wissenschaftlichen. Vielleicht befinden sich ja Waffen unter den außerirdischen Objekten, allem irdischen Rüstungsgut überlegen? Oder Erfindungen, die einen bisher unbekannten Vorteil und Macht bringen? Ein Run setzt ein, und ein neuer »Beruf« entsteht: der des Schatzgräbers. Diese holen die außerirdischen Gegenstände aus den Besuchszonen, in denen unbekannte, tödliche Gefahren lauern. Sie riskieren ihr Leben, sei es auf eigene Rechnung oder im Auftrag. Die intensivste Suche gilt einer goldenen Kugel, die angeblich irgendwo versteckt ist und die, so heißt es, wie Aladins Wunderlampe dem Besitzer alle Wünsche erfüllen kann.
Aber, auch wenn man von den Schatzgräbern etwas will, werden sie wie Ausgestoßene behandelt. Und am Ende erweist sich, wie schwer es ist, ein Mensch zu sein, wenn man der Aufforderung nachkommen möchte, »das Gute aus dem Schlechten zu machen«, weil man ja nichts anderes habe, woraus man es machen könne, wie es in dem vorausgestellten Motto heißt. Das Zitat stammt von dem amerikanischen Pulitzer-Preisträger Robert Penn Warren, dessen berühmter Roman All the King’s Men/Das Spiel der Macht 1971 in russischer Übersetzung erschienen war, just zu der Zeit, als die Strugatzkis ihren Roman schrieben.
»Schatzgräber« wurden diese Abenteurer und Glücksritter so lange in den deutschen Ausgaben genannt, bis der »Stalker« das Licht der literarischen und cineastischen Welt erblickte.
Es war im Jahr 1973, kurz nach der Veröffentlichung des Buches, als der sowjetische Regisseur Andrei Tarkowski in seinem Tagebuch notierte: »Habe eben den Roman Picknick am Wegesrand der Brüder Strugatzki gelesen. Daraus ließe sich ein bemerkenswertes Drehbuch machen.«
Tarkowski war schon zu jener Zeit ein international bekannter Filmemacher. 1972, als Picknick am Wegesrand erschien, kam sein Solaris in die Kinos, die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Stanislaw Lem (siehe Ossietzky 13/2021, »Hinreißend. Unerschöpflich«) Zuvor hatte der Regisseur unter anderem mit Filmen wie Andrej Rubljow oder Iwans Kindheit international reüssiert. Aus dem Kontakt zu den Schriftstellern entwickelte sich nach der Genehmigung der Produktion durch die sowjetische Filmbehörde eine intensive Zusammenarbeit. Die Brüder lieferten in der ersten Phase statt eines Drehbuches eine neue, auf ihrem Roman basierende Erzählung mit dem Titel Die Wunschmaschine. Am Ende liegen davon neun Versionen vor, aus denen schließlich das Drehbuch entsteht. Tarkowskis Stalker ist daher keine Verfilmung des »Picknicks«, sondern basiert auf Motiven, die von den Schriftstellern und dem Regisseur gemeinsam herausgearbeitet wurden.
Die Strugatzkis schrieben später, von ihrer literarischen Vorlage seien lediglich die Termini »Stalker« und »Zone« übriggeblieben. Über den Film werde im In- und Ausland »viel und sehr verschiedenartig gesprochen. In einem jedoch sind sich alle einig: Er ist außerordentlich kompliziert und breit ausdeutbar. Außerdem bezweifelt niemand, dass es sich hier um eine Arbeit der internationalen Spitzenklasse handelt.«
Eine neue, vorzüglich gestaltete Ausgabe des Romans ist vor wenigen Monaten im Heyne Verlag erschienen, mit einem Vorwort des 1967 in Moskau geborenen und 1990 nach Deutschland ausgewanderten Schriftstellers Wladimir Kaminer (Russendisko). Er beschreibt darin die herausragende Rolle der Science-Fiction in der Sowjetunion. Sie sei in der Bevölkerung besonders beliebt gewesen: »Weil diese Romane alle jenseits unseres Landes, auf einem anderen Planeten, in einer anderen Galaxie oder in einer anderen Zeit spielten, hatten sie bessere Chancen, an der staatlichen Zensur vorbei das Leben auf unserem Planeten, in unserem Land, in unserer Zeit zu thematisieren. Und die ungekrönten Könige der sowjetischen Fantasten waren die Brüder Strugatzki.«
Die Neuauflage ist gleichzeitig eine Neuübersetzung aus dem Russischen. David Drevs hat den Roman nicht nur in eine frischere, zeitgemäße Sprache gefasst, sondern auch einige Verkürzungen früherer Übersetzungen behoben. Vielleicht konnte er aber auch auf eine von den Strugatzkis nach dem Ende der Sowjetunion überarbeitete Fassung zurückgreifen? Der Band enthält reichlich Bonusmaterial: einen Kommentar von Boris Strugatzki zur Entstehung und Publikationsgeschichte des Romans, Auszüge aus dem Arbeitstagebuch der Schriftsteller, die erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende erste Fassung der Wunschmaschine und ein Nachwort (Elisabeth Bösl, David Drevs) über das »multimediale Phänomen Stalker«. Inzwischen gibt es nämlich nicht nur den Roman und den Film, sondern Computerspiele selbigen Namens und eine Fortschreibung des Stalker-Motivs in der postapokalyptischen Metro-Trilogie von Dmitry Glukhowsky.
Wo aber kommt der Name »Stalker« her? In dem Roman Stalky & Co von Rudyard Kipling versucht eine Gruppe Jugendlicher im ersten Kapitel einige Ochsen von der Weide eines Hofes zu treiben. Einer will nicht mitmachen, weil ihm die Sache »nicht stalky genug« ist. »Stalky bedeutete in ihrem Schulvokabular schlau, überlegt und gerissen«, heißt es an dieser Stelle in meiner von Gisbert Haefs übersetzten Ausgabe.
Boris Strugatzki berichtete, dass er in jungen Jahren den Kipling-Roman seinem Bruder schenkte, der ihn sogleich ins Russische übersetzt habe. »Als wir das Wort Stalker erfanden, hatten wir also ganz sicher das Schlitzohr Stalky im Sinn, diesen abgebrühten, bisweilen sogar grausamen Satansbraten, dem aber eine Art jugendlicher Edelmut, ja, sogar eine gewisse Großhaftigkeit keineswegs abzusprechen ist. Nicht im Entferntesten aber dachten wir daran, dass man ihn in Wirklichkeit gar nicht Stal-ky, sondern Stoky ausspricht.«
Herkunft und Bedeutung der Bezeichnung des Titelheldens, der in der alten deutschen Übersetzung Roderic Schuchart heißt und in der neuen Redrick Shewhart, sind somit geklärt, auch wenn in Film und Roman vieles ungeklärt bleiben mag. Oder, um es mit den Worten des eingangs zitierten Thomas Glavinic zum Thema Schach zu sagen: »Schach bleibt rätselhaft. Zumindest mit Romanen scheint es eines gemeinsam zu haben: dass es mehr ist, als Menschen fassen können.«
Ein Satz, der auch für den Strugatzki-Roman gilt, unter welchem Titel auch immer, und erst recht für den Tarkowski-Film in seiner ganzen Verrätselung.
Arkadi & Boris Strugatzki: Stalker, Wilhelm Heyne Verlag, München 2021, 397 S., 12,99 € – Die DLF-Reihe »Essay und Diskurs« mit dem Thema Schach wird am 15. April (1), 17. April (2) und 18. April (3) jeweils ab 9.30 Uhr gesendet und ist unter diesen Terminen auch in der DLF-Mediathek zu finden. – Der Science-Fiction-Almanach »Polaris 10« aus dem Jahr 1986, Suhrkamp Taschenbuch 1248, ist den Strugatzkis gewidmet. Enthalten sind u. a. eine andere frühere Fassung der »Wunschmaschine« und ein grundlegender Essay über »Picknick am Wegesrand«.