Da stehen sie, hintereinander aufgereiht und abrufbar über die Homepage der »Initiative Wiederaufbau Bornplatzsynagoge« (www.bornplatzsynagoge.org), 80 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Hamburgs, die meisten ein Plakat mit stets demselben Slogan präsentierend: »Nein zu Antisemitismus – Ja zur Bornplatzsynagoge«. Peter Tschentscher (SPD), Erster Bürgermeister Hamburgs, eröffnet das Defilee und gibt die Richtung vor: »Jüdische Religion und Kultur müssen einen festen Platz haben in unserer vielfältigen Hamburger Stadtgesellschaft. Dazu gehört ein Wiederaufbau der von den Nazis zerstörten Synagoge am Bornplatz im Grindelviertel, die wieder zu einem zentralen Ort der jüdischen Kultur und Religion in Hamburg werden soll.«
Katharina Fegebank (Bündnis 90/Die Grünen), Zweite Bürgermeisterin Hamburgs, folgt auf dem Fuße: »Ich bin begeistert von der Initiative! Ich werde in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld dafür werben, dass wirklich alle dabei sind und sagen: Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge.« Olaf Scholz (SPD), Vorgänger Tschentschers und jetzt Vizekanzler in Berlin, verkündet als Dritter: »Es ist gut, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt. Es ist wichtig, dass wir uns gegen den Antisemitismus stellen, und es ist sehr gut, wenn die Bornplatzsynagoge in Hamburg wiederersteht.« Shlomo Bistritzky, Landesrabbiner, sekundiert: »Die Gespräche über den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge kommen zur richtigen Zeit: Deutschland ist aufgewacht, um etwas gegen den wachsenden Antisemitismus zu unternehmen.«
Womit die wesentlichen Argumente für den Wiederaufbau genannt sind, ein anderer argumentativer Widerhall kommt nicht mehr, wer auch immer seine Stimme erhebt. Viele sind dabei mit Rang und Namen in der Hansestadt: u. a. der Vorstandsvorsitzende der otto group, der Geschäftsführer des BUND, Campino von den »Toten Hosen«, die Vorsitzende des DGB Hamburg, der Ärztliche Direktor des Universitätskrankenhauses UKE, der Präsident des Hamburger Sportbunds, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, der Pastor der Jerusalem-Gemeinde, diverse Vertreter der christlichen Kirchen, Bundesabgeordnete und allerlei Kulturschaffende. Von außerhalb Hamburgs befürworten u.a. Außenminister Heiko Maas und der Grünen-Politiker Cem Özdemir den Wiederaufbau.
Die Crème de la Crème der Hansestadt zieht an einem Strang. Aber ist damit auch schon alles klar? Wir werden sehen: beileibe nicht. Zuvor aber ein sehr kurzer historischer Exkurs in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, um zu verstehen, worum es geht: An 13. September 1906 wurde am Bornplatz im Hamburger Grindelviertel, im heutigen Bezirk Eimsbüttel gelegen und zeitweise Klein Jerusalem genannt, die Hauptsynagoge der Deutsch-Israelischen Gemeinde eingeweiht, mit 1200 Plätzen eine der größten in Nordeuropa, mit einer Höhe von fast 40 Metern weithin sichtbar. Erbaut wurde die Synagoge im neoromanischen Stil, einem europäischen Kunststil des 19. Jahrhunderts, der auf Vorbilder aus dem 10. und 11. Jahrhundert zurückgriff, der Epoche der Romanik. Der Stil wurde von den Bauherren bewusst gewählt, sollte er doch zeigen, dass die israelische Gemeinde zur Stadtgesellschaft gehört, dass sie integriert ist. Der Sakralbau war das Stein-gewordene Wahrzeichen eines selbstbewussten Judentums und wurde zum Mittelpunkt des blühenden jüdischen Lebens in Hamburg.
In der Reichspogromnacht 1938 wurde die Synagoge verwüstet und 1939 auf Betreiben der NSDAP-Gauleitung abgerissen. Nach dem zweiten Weltkrieg erinnerte lange Zeit nur eine Gedenktafel an den Kirchenbau. Sein früherer Standort diente als Parkplatz. Erst der bevorstehende 50. Jahrestag der Zerstörung führte 1986 zu einem Ideenwettbewerb um die Gestaltung des Platzes. Nach dem Entwurf einer Künstlerin wurden Grundriss und Deckengewölbe der früheren Synagoge auf dem nur noch Fußgängern zugänglichen Boden abgebildet, aus dunklem Mosaikpflaster und polierten schwarzen Granitsteinen.
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Am Anfang war das Wort, und zu lesen stand es am 28. Oktober 2019 im Hamburger Abendblatt: »Rabbi: Lasst uns die Synagoge am Bornplatz wiederaufbauen«, hatte die Zeitung das Interview mit dem Landesrabbiner Shlomo Bistritzky überschrieben. Eine öffentliche Debatte hob an, rasch wuchs die Zustimmung, und schon wenige Wochen später, am 8. November, meldete die Presse, Hamburgs Erster Bürgermeister Tschentscher und die Fraktionsvorsitzenden von SPD, CDU und Grünen würden die Idee unterstützen. Am 12. Februar 2020 brachten die Fraktionen von SPD, Grünen, CDU, FDP und Linken einen den Wiederaufbau befürwortenden Antrag in die Bürgerschaft ein, als »starkes Zeichen gegen Antisemitismus«. Der Deutsche Bundestag stellte ein drei Viertel Jahr später 600.000 Euro für die Finanzierung einer Machbarkeitsstudie bereit, im November 2020 gab der Haushaltsausschuss des Bundestags 65 Millionen Euro für die Rekonstruktion der Synagoge frei. Der gleiche Betrag soll noch einmal aus dem Hamburger Haushalt kommen. Die europäische Ausschreibung der Studie ist im Januar in die Wege geleitet worden. Frühestens Ende 2021 wird ein Ergebnis vorliegen.
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»Liebe Hamburger, wir wollen gemeinsam mit Euch die Bornplatzsynagoge wieder aufbauen! Mit Eurer Unterstützung wollen wir ein Zeichen setzen, dass die ganze Stadt diese Synagoge will!« Mit diesen Worten lässt sich Philipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, als Mitglied der Initiative zitieren. Aber schon am 10. Februar 2020 war in der Hamburg-Ausgabe der Welt zu lesen: »Doch anders als die Jüdische Gemeinde, die weitgehend geschlossen hinter dem Synagogenbau steht, stimmen nicht alle in den Kanon der Begeisterung mit ein. Verschiedene Mitglieder der jüdischen Community in Hamburg (…) kritisieren die Pläne. Ihr Kritikpunkt: Diese würden den Eindruck vermitteln, den Abriss ungeschehen zu machen. Das Vorhaben, eine Rekonstruktion der einstigen Synagoge zu errichten, gilt ihnen als rückwärtsgewandt.«
Als gegen Ende des Jahres 2020 die Finanzierungsbeschlüsse bekannt wurden, positionierten sich die Kritiker, durchweg »prominente Experten« (Hamburger Abendblatt, 28. Dezember 2020), öffentlich gegen die Meinungsfront. In ihrer Stellungnahme werben sie für einen »breiten, offenen Diskurs«: »Wir begrüßen das Engagement der maßgebenden Hamburger Politiker und Politikerinnen, durch große staatliche Anstrengungen die jüdische Gemeinschaft und ein vielfältiges jüdisches Leben in unserer Stadt sichtbar zu stärken. Damit wird ein deutliches Zeichen gegen jeglichen Antisemitismus gesetzt. Dazu kann auch der Neubau einer Synagoge gehören. Der historisierende Wiederaufbau der Großen Bornplatz-Synagoge scheint uns dagegen aus vielen Gründen nicht der richtige Weg zu sein. Wir halten es deshalb für notwendig, alle interessierten gesellschaftlichen Gruppen, Institutionen und Personen an einem breiten, offenen und öffentlichen Diskurs zu beteiligen.«
Zu den »vielen Gründen«, die gegen einen historisierenden Wiederaufbau ins Feld geführt werden, zählen laut Resolution: Geschichte lasse sich nicht rückgängig machen oder revidieren, sondern müsse angenommen werden, um Schlussfolgerungen aus ihr zu ziehen. – An der historisierenden Rekonstruktion sei auf besondere Weise problematisch, dass dadurch das Resultat verbrecherischer Handlungen unsichtbar gemacht und die Erinnerung an dieses Verbrechen erschwert werden, so als sei nie etwas geschehen. – Durch die Rekonstruktion am alten Platz werde ein zentraler erinnerungskultureller Ort Hamburgs zerstört. Das Bodenmosaik sei nur ein Teil des Denkmals, der andere sei der durch den Abriss der Synagoge entstandene leere Platz, ein »Denkraum«, der bei Besucherinnen und Besuchern aus dem In- und Ausland immer große Bewegung auslöse. – Heute stünde eine direkt an das wilhelminische Bauwerk anknüpfende Wiederherstellung in diametralem Gegensatz zur Fortschrittlichkeit des früheren Judentums. Zu den Erst- und Folgeunterzeichnern, Mitte Januar rund 90 Personen, gehören Zeithistoriker/innen, Kunstgeschichtler/innen, die Direktorin des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam, Vorstandsmitglieder kultureller Stiftungen, Architekten, Leiter/innen von historischen Forschungsstellen, Mitglieder der Stolperstein-Initiative und viele andere mehr.
Auch Moshe Zimmermann gehört zu den Unterzeichnern, geboren 1943 in Jerusalem, Historiker und Professor em. an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Im Berliner Tagesspiegel vom 14. Januar berichtet er als Sohn einer jüdischen Familie, die Hamburg in der NS-Zeit Richtung Palästina verlassen musste, dass die Bornplatzsynagoge das Bethaus der Familie gewesen sei. Sie sei in Anwesenheit des Großvaters 1906 eingeweiht worden. Zimmermann wendet sich gegen den Wiederaufbau: An diesem bestehenden Erinnerungsort brauche er »keine seelenlose Mimikry«. Er wendet sich auch gegen die Verknüpfung der beiden Themen Antisemitismus und Wiederaufbau, wie sie der Slogan der Befürworter PR-geschickt präsentiert.
Mitte Januar stellten sich zwei Frauen, deren Wort in Hamburg etwas gilt, in einem als Pressemitteilung veröffentlichten Gespräch mit dem Auschwitz-Komitee an die Seite der Gegner eines historisierenden Wiederaufbaus auf dem Bornplatz: die immer noch aufmüpfige Peggy Parnass, 1927 in Hamburg geboren, Kolumnistin, Gerichtsreporterin, Autorin, deren Eltern im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden, und die in vielen antifaschistischen Aktionen immer noch präsente Ester Bejarano, Jahrgang 1924, deutsch-jüdische Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
Klar ist damit: Roma locuta est, causa finita est – diese Formel aus dem 5. Jahrhundert, auf Augustinus zurückgehend, greift hier nicht, trotz aller Vor-Entscheidungen. Der Diskussionsprozess hat gerade erst begonnen.