Großer Auflauf in Berlin. Ende April versammelten sich dort auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron die Staats- und Regierungschefs aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien, Slowenien sowie die für die Vermittlung im Kosovo-Konflikt zuständige EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Öffentlich bekanntgegebenes Hauptziel war die Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und seinem früheren autonomen Gebiet und jetzigem selbständigen Kleinstaat Kosovo. Nennenswerte Fortschritte wurden nicht erreicht. Serbien ist auch weiterhin nicht bereit, das aus seinem Staatsterritorium herausgebombte Gebiet als unabhängigen Staat anzuerkennen.
NATO-Fragen spielten offiziell keine Rolle, obwohl sie wohl hinter verschlossenen Türen angesprochen wurden. Zum Verdruss Merkels und Macrons lehnt Belgrad eine Mitgliedschaft in dem Pakt auch weiterhin ab. Aufschlussreich ist allerdings die Erklärung der beiden Einladenden, dass eine Einigung zwischen Serbien und Kosovo den Weg nach Europa öffnen würde. Gemeint ist natürlich die EU, gedacht ist dabei selbstredend auch an den Militärpakt. Kein Zufall dürfte es gewesen sein, dass exakt zum Berliner Balkangipfel gemeldet wurde, dass in Nordmazedonien, das zum Jahresende in die NATO aufgenommen wird, vom 20. Mai bis 15. Juli Manöver des Kriegspaktes stattfinden. Eingesetzt werden dabei auch US-Bomber vom Typ B-1B, die 1999 ihre tödliche Last über Jugoslawien abwarfen. In Washington, aber auch in Berlin und Paris hofft man, dass dieser zarte Hinweis in Belgrad verstanden wird.
Deutlicher war das Werben allerdings während des Belgrad-Besuches des NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Oktober des Vorjahres, als er nach Gesprächen auf hoher Ebene ein gemeinsames Manöver von NATO-Einheiten und serbischen Truppen besuchte. Frohgelaunt erklärte er dazu: »Dies ist die erste von Serbien ausgerichtete Übung, die eine starke und hochgeschätzte Partnerschaft zwischen Serbien und der NATO widerspiegelt.« Aber eitel Sonnenschein herrschte nicht. Als er mit Studenten zusammentraf, wurde er mit unangenehmen Fragen zur NATO-Aggression im Jahre 1999 konfrontiert. Mit seiner ausgefeilten dreisten Antwort übertraf er alle Erwartungen: »Wir haben das zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Verhinderung der weiteren Handlungen des Regimes von Milosevic gemacht … Doch die wichtigste Botschaft an Belgrad besteht darin, dass wir in die Zukunft schauen müssen.« Und in der sieht Stoltenberg Serbien als NATO-Mitglied, denn immerhin hatte der Pakt den Balkanstaat bereits im März 2015 als Beitrittskandidaten eingestuft. Aber auf dem Weg zur serbischen Mitgliedschaft liegen viele Felsbrocken. Betrachten wir einige näher:
2007 verabschiedete das serbische Parlament eine Resolution über militärische Neutralität, und der damalige Verteidigungsminister Dragan Šutanovac erklärte im Februar 2009, Serbien werde wahrscheinlich keine NATO-Vollmitgliedschaft beantragen, aber es beabsichtige, die Partnerschaft mit der Allianz zu stärken.
Mitte November 2013 besuchte der Verteidigungsminister Russlands, Sergej Schoigu, Belgrad. Der damalige serbische Präsident Tomislav Nikolić verlieh ihm den »Orden des serbischen Banners ersten Ranges«. Im Ergebnis weiterer Unterredungen unterzeichneten der serbische Verteidigungsminister, Nebojsa Rodić, und der russische Gast drei Abkommen über eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, darunter einen »strategischen Vertrag über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung«. Bei der Gelegenheit unterstrich Rodić, dass diese Zusammenarbeit »eine logische Fortsetzung der strategischen Partnerschaft beider Staaten« darstelle. Im Einzelnen wurden vereinbart: eine enge militär-technische Zusammenarbeit, die Ausbildung serbischer Offiziere in Russland, gemeinsame Militärmanöver, einschließlich solcher der Luftwaffe und der Verteidigung vor Luftangriffen, eine intensivere Zusammenarbeit beider Generalstäbe sowie eine Kooperation bei der Modernisierung der serbischen Armee.
Im März 2019 fand in Belgrad die Internationale Konferenz »NATO-Aggression – Niemals vergessen – 1999-2019 – Frieden und Fortschritt statt Krieg und Armut« statt. Unter stürmischen Beifall erklärte der serbische Verteidigungsminister Aleksandar Vulin: »Wir werden niemals ein Mitglied der NATO werden. Selbst wenn wir das letzte Land in Europa wären, das der NATO noch nicht beigetreten ist, werden wir kein Mitglied werden … Niemals werden wir vergessen, dass die NATO unsere Kinder getötet hat.«
Derartige Absagen an die NATO sind kein Zufall, denn eine Umfrage im vergangenen Jahr ergab, dass knapp 85 Prozent der Serben gegen eine NATO-Mitgliedschaft ihres Landes sind. Dabei sagten 62 Prozent der Befragten, sie würden eine Entschuldigung des Militärbündnisses für die Bombardements von 1999 nicht einmal annehmen.
Nein, die Kriegsverbrechen der NATO werden nicht vergessen. Auch nicht die Tatsache, dass der Pakt bei seinem zweieinhalbmonatigen Bombardement Munition mit zehn Tonnen abgereichertem Uran einsetzte, »was zum drastischen Anstieg tödlicher Krankheiten geführt hat, unter dessen Folgen noch viele zukünftige Generationen leiden müssen«, schrieb das auflagenstarke Belgrader Blatt Novosti. Das serbische Parlament teilte inzwischen mit, eine staatliche Kommission werde wissenschaftliche Beweise für einen drastischen Anstieg der Todesfälle und Sterilität bei Männern durch die NATO-Munition sammeln. Auf dieser Basis könne Serbien dann die Länder, die an der Bombardierung beteiligt waren, auf Entschädigungen verklagen.
Die Serben haben auch nicht vergessen, wie Medien in den NATO-Staaten ihr Volk in übelster Weise diffamierten. In einem angesichts der erzeugten antiserbischen Massenhysterie als mutig zu bezeichnenden Beitrag von Michael Thumann unter der Überschrift »Der Krieg der Kriegsreporter« schrieb Die Zeit bereits im September 1994: »Im Krieg der Begriffe kam es nicht darauf an, was richtig oder falsch war, sondern darauf, was hängenblieb. Der Vergleich mit den Nazis war dabei nur ein Muster einer ganzen Kollektion von Eigenschaften, die den Serben zugeschrieben wurden. Was lasen wir nicht alles: die Serben als ›eroberungssüchtiges Herrenvolk, als die ›Erben Dschingis Khans‹, die ›Schüler Saddam Husseins‹ oder als ›Ethnofundamentalisten‹. Gelegentlich verschmolz ihr Name in Bezeichnungen wie ›Serbobolschewisten‹ oder ›Radikalserben‹. Karikaturisten zeichneten Serben als sich wälzende Schweine, mutierte Stiere, reißende Wölfe, blutsaufende Saurier, doppelzüngige Schlangen, aasfressende Geier, hungrige Hyänen und bullige Kampfhunde. Nicht mit Menschen hatte der Westen es also zu tun, sondern mit Monstern.«
Angesichts der Haltung der übergroßen Mehrheit der Serben zur NATO ist es alles andere als ein Zufall, dass der serbische Präsident Aleksandar Vučić Anfang Oktober 2018 bei einem Treffen mit Wladimir Putin in Moskau betonte, Serbien wolle seine Neutralität bewahren. Deshalb sei ein NATO-Beitritt nicht möglich. Danach fügte er vor der Presse hinzu: »Ich habe Putin gesagt, dass wir gute Beziehungen zu allen Militärbündnissen pflegen, darunter auch zur NATO. Aber Serbien ist nicht inspiriert, nicht bestrebt und hat auch keinen Wunsch, Teil der NATO zu werden.«
Der serbische Präsident, der liebend gern auf zwei Hochzeiten – mit Russland und der NATO – tanzen möchte, muss auch berücksichtigen, dass für die Serben Putin in allen Umfragen der beliebteste ausländische Politiker ist. Slobodan Marković, Historiker und Politologe an der Universität Belgrad, nannte dafür einen wesentlichen Grund: »Wir sind ein frustriertes Volk. Dass das siegesstolze Serbien rein durch einen Luftkrieg besiegt wurde, das verwinden die Leute nicht. Und jetzt gibt es jemanden, der stellvertretend für sie stark ist. Und der als einziger ihren Anspruch auf den Kosovo verteidigt: Putin.«
Der serbische Außenminister Ivica Dačić erklärte kürzlich gegenüber der russischen Tageszeitung Iswestija, dass sein Land trotz Drucks aus dem Westen niemals Sanktionen gegen Moskau verhängen werde. Die Pläne Serbiens, Mitglied der Europäischen Union zu werden, werden die Entwicklung der Beziehungen zu Russland nicht behindern. Wörtlich stellte er fest: »Die Freundschaft zwischen Russland und Serbien hat Tradition. Heute befinden sich unsere Beziehungen auf der Ebene der strategischen Zusammenarbeit … Es wäre, um es milde auszudrücken, falsch, den westlichen Ländern bei der Verhängung von Sanktionen zu folgen.«
Ja, das sind schon schwere Brocken, die auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft Serbiens wegzuräumen wären. Die Krieger und Kriegspolitiker, die 1999 Serbien bombardieren ließen, buhlen heute um das schwer geprüfte Land. Sie mühen sich ab, die Regierungschefs und die NATO-Spitzenleute, die Außenminister und ihre Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafter in Belgrad. Darunter auch die norwegische Exzellenz Arne Sarnes Bjornstad, der im November 2018 erklärte, er wünsche, dass man in Serbien anders auf die NATO blicke, denn diese sei nicht nur ein Militärpakt, sondern eine Wertevereinigung von Demokratie und Menschenrechten. Weiter meinte er, dass die euroatlantische Gemeinschaft die Probleme anpacke und Serbien helfen wolle. Wie selbstlos, wie großzügig! Hier trifft eine alte Weisheit zu, die Oscar Wilde vor mehr als 150 Jahren niederschrieb: »Selbstlosigkeit ist ausgereifter Egoismus.«