Unter dem Titel »Nein zu Rassismus, Antisemitismus, Feindbildproduktion und Geschichtsklitterung!« kommt aus dem globalisierungskritischen Netzwerk Attac eine bemerkenswerte Erklärung zum Auschwitz-Gedenktag, die einigen Staub aufgewirbelt hat (Wortlaut unter: https://www.attac-netzwerk.de/pg-europa). Inzwischen kursieren im Internet Fassungen in Japanisch, Holländisch und Englisch. Auch beim virtuellen Weltsozialforum machte der Text die Runde. Offenbar traf er einen Nerv.
Er geht nämlich deutlich über das hinaus, was zu dieser Gelegenheit normalerweise zu hören ist. Ohne dass die Singularität der Shoah in Frage gestellt würde, wird auch auf die anderen Gruppen verwiesen – Sinti, Roma, Behinderte, sowjetische Kriegsgefangene –, die zu Opfern der Mordmaschinerie wurden. Die Erklärung setzt damit ein Zeichen gegen die ausgrenzende Vereinnahmung des Erinnerns, wie sie die offizielle Gedächtniskultur kennzeichnet, und die vor allem den Vernichtungskrieg im Osten weitgehend ausblendet.
Dabei war auch der Krieg im Osten in hohem Maße rassistisch motiviert. Grundlage war die rassenbiologisch begründete Ideologie: Die NS-Führung wollte die »slawischen Untermenschen« versklaven und vernichten, um in Osteuropa neuen »Lebensraum für arische Herrenmenschen« zu schaffen. Im Generalplan Ost war die Vernichtung von 50 bis 60 Prozent der Russen im europäischen Teil der Sowjetunion geplant, weitere 15 bis 25 Prozent waren zur Vertreibung hinter den Ural vorgesehen. Zur psychologischen Kriegsvorbereitung der Bevölkerung spielte dabei die Ideologie von der »jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung« eine große Rolle.
Die Erklärung handelt Auschwitz jedoch nicht nur als historisches Ereignis aus einer vergangenen Epoche ab, sondern stellt den Bezug zur gerade in diesen Tagen spürbaren Zuspitzung des neuen Kalten Krieges her. Da der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz dieses Mal mit der Auseinandersetzung um den Fall Nawalny zusammenfiel, bekam der Text aktuelle Brisanz. Dazu heißt es zum Umgang der großen Medien in der Erklärung: »Sobald es um die ›äußeren Feinde‹ geht, betreiben sie häufig staatstragende Hofberichterstattung und stellen kaum mehr kritische Fragen. Unüberprüfbare Verlautbarungen von Geheimdiensten werden plötzlich zu Quellen unhinterfragter Wahrheit. Jüngste Beispiele sind die grotesken Inszenierungen um die Fälle Skripal und Nawalny.« Es zeugt von einiger Courage, in Zeiten, in denen eine mediale Dampfwalze dem Land mal wieder eine pensée unique verpassen möchte, auf diese Weise gegen den Strom zu schwimmen.
Russland wird wieder zum Feind erklärt, aber in rasantem Tempo inzwischen auch China. Der neue Kalte Krieg scheint unaufhaltbar. Feindbilder aber, so die Erklärung, »zeichnen sich durch eine simple, binäre Weltsicht aus. Der Feind wird als vollkommen böse dargestellt, und wir sind die Guten.« Als Beispiel wird im Zusammenhang mit dem russischen Corona-Impfstoff die Tageszeitung DIE WELT (4.11.2020, S. 10) zitiert: »Auch wenn ein russisches Produkt im internationalen Wettbewerb mithalten kann, der Stempel des Russischen ist und bleibt ein Makel.« Attac kommentiert dazu: »Die Qualität einer solchen Feststellung erschließt sich in voller Tragweite, wenn man sich vorstellt, anstelle von russisch stünde amerikanisch oder gar israelisch.«
Interessant ist auch, wie die Globalisierungskritiker die Wirkungsweise von Feindbildern beschreiben: »Zum Feindbild gehört immer auch ein idealisiertes Selbstbild.« Am Beispiel des Narrativs von den sogenannten europäischen Werten heißt es, dass dieses »auf eurozentristisches Überlegenheitsdenken hinaus[laufe]. Natürlich haben Werte wie Demokratie und Menschenrechte – inklusive die der zweiten Generation, der ökonomischen, sozialen und kulturellen Menschenrechte – als normative Leitbilder universelle Geltung. Aber gerade diese universelle Geltung wird ausgehebelt, wenn sie in den internationalen Beziehungen selektiv gehandhabt und für geopolitische Interessen instrumentalisiert wird. Im Vergleich zu Saudi-Arabien steht Russland bei Demokratie und Menschenrechten ganz anders da. Dennoch werden zu Riad enge wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen gepflegt, während gegen Moskau Kalter Krieg geführt wird.« So würden Feindbilder und die dazu passenden Selbstbilder zur ideologischen Grundlage für Konfrontation und Aggressionsbereitschaft.
Da bei der aktuellen Zuspitzung der Konfrontation mit China und Russland die Führung der ehemaligen Friedenspartei Bündnis 90/Die Grünen eine prominente Rolle als Scharfmacher spielt, passt der Verweis auf deren Vorläufer: »Bereits der skrupellose Missbrauch von Auschwitz zur Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien 1999 durch den damaligen Außenminister Joschka Fischer war eine schockierende Relativierung des Holocaust. Daran schloss sich mit der Sezession des Kosovo erstmals nach 1945 in Europa eine Grenzveränderung durch militärische Gewalt an.« Gleichzeitig habe lange vor der Ukraine-Krise die Ostexpansion der NATO die Chancen auf eine Zone der Sicherheit und Kooperation von Lissabon bis Wladiwostok zunichte gemacht.
Zutreffend ist auch die Kritik des Textes an der Geschichtspolitik der EU, die mal subtiler, mal grobschlächtiger die Revision der historischen Fakten betreibt. Zu den eher subtileren Fälschungen gehört die Erklärung aus Brüssel zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, wonach das Lager »von den Alliierten befreit« worden sei. Ursula von der Leyen möchte schon den Namen Rote Armee aus der Geschichte tilgen, denn das könnte ja das so eifrig gepflegte Bild von Russland als Reich der Finsternis stören.
Zur grobschlächtigeren Geschichtsklitterung zählt Attac die Resolution des Europaparlaments zur »Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas« vom September 2019, in der »der Zweite Weltkrieg zu einem Gemeinschaftsprojekt von Hitler und Stalin verfälscht wird. Das ist eine skandalöse Relativierung der deutschen Verantwortung für den Krieg.« Dabei müsse man kein Historiker sein, um zu erkennen, dass ein Abkommen, das eine Woche vor Kriegsbeginn geschlossen wurde, nicht die Weichen für einen Weltkrieg gestellt haben kann. Schließlich gibt es, so die Erklärung, genügend »Belege dafür, dass Hitler von Anfang an auf Krieg zusteuerte, um die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zu revidieren und Osteuropa für ›die Herrenrasse‹ und ›das Volk ohne Raum‹ zu unterwerfen. (…) Die Beweiskette reicht u. a. von seinem Machwerk ›Mein Kampf‹ und der Wahnidee von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, über die massive Aufrüstung nach 1933, das Eingreifen der ›Legion Condor‹ auf Seiten der Truppen des faschistischen Generals Franco gegen die gewählte Regierung in Spanien 1936-1939, die Annexion Österreichs im März 1938, die Besetzung des Sudetenlandes im Oktober 1938, der Frankreich und England im Münchener Abkommen zugestimmt hatten, die Zerschlagung der Tschechoslowakei bis zum Beschluss über den Überfall auf Polen im Mai 1939. Auch in den Nürnberger Prozessen wurde die Alleinschuld Deutschlands eindeutig nachgewiesen.«
Dem ist nichts hinzuzufügen.