Der im Frühjahr diesen Jahres 80 Jahre alt gewordene Südthüringer Schriftsteller Landolf Scherzer erregte 1988 mit dem Erscheinen seiner Reportage »Der Erste – Protokoll einer Begegnung« in der DDR großes Aufsehen. Er beschrieb darin das Handeln und Denken des damaligen 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung Bad Salzungen Hans-Dieter Fritschler. Diesen hatte er einen Monat lang bei seiner Arbeit begleitet und über die Schulter gesehen. Eine Genehmigung hierfür hatte Scherzer erst nach mehrjährigem Warten erhalten. Umso erstaunlicher war der Inhalt des Buches, das sich so wohltuend abhob von der damals üblichen Berichterstattung über die Tätigkeit von Parteifunktionären. Fritschler gewährte ihm Einblicke in die Probleme seines Arbeitsalltags, mit all seinen Unzulänglichkeiten. Er übte dabei ebenso Kritik an sich selbst wie an der Funktionsweise des Apparates. Solche Art Literatur war, da in dieser Weise selten, sehr begehrt. Erst wenige Jahre zuvor hatte Jürgen Kuczynski mit seinem Buch »Dialog mit meinem Urenkel« einen wohltuenden Paukenschlag bewirkt. Während Kuczynski auf Veranlassung von Kurt Hager noch einige Stellen am Manuskript ändern musste, bevor es in der DDR auf den Markt kam, gelang das Hans Albrecht, dem damaligen 1. Sekretär der Suhler SED-Bezirksleitung, schon nicht mehr. Fritschler sollte auf seine Veranlassung hin behaupten, er wäre von Scherzer falsch zitiert worden. Dieser Forderung hat sich Fritschler aber nicht gebeugt, er stand zu seinen Äußerungen. Auch in der Spätphase der Existenz der DDR erforderte das Mut, besonders wenn man selbst dem Parteiapparat angehörte. So bleibt bis heute der große Respekt vor Hans-Dieter Fritschler, der auch nach 1990 der Partei weiterhin verbunden blieb und sich beim Landesvorstand der damaligen PDS in Thüringen engagierte, bis er aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 2002 viel zu früh an einer weiteren Mitarbeit gehindert wurde.
Ich lernte ihn bereits Mitte der 1990er Jahre kennen und schätzen. Er leitete zur damaligen Zeit eine neu gebildete Koordinierungsgruppe »Politische Strafverfolgung«, die beim PDS-Landesvorstand angesiedelt war. Ihre Mitglieder verfolgten mit großem Interesse die in jenen Tagen auch in Thüringen stattgefundenen Strafverfahren gegen ehemalige Angehörige der Grenztruppen der DDR oder Juristen des inzwischen nicht mehr existenten Staates. Sie waren bei den Gerichtsverhandlungen anwesend, machten auf diese Weise ihre Solidarität deutlich und werteten mit einem Teil der Verteidiger die gewonnenen Erkenntnisse aus.
Da ich in vielen dieser Verfahren als Strafverteidiger eingebunden war, kamen Fritschler und ich uns schnell näher und wurden gute Freunde. Nur einmal musste ich ihm eine Absage erteilen, obgleich er sich extra von weiter her in mein Anwaltsbüro begeben hatte. Er bat mich, darüber nachzudenken, ob ich nicht als Kandidat der PDS-Thüringen für die nächste Bundestagswahl antreten wolle. Ich sagte ihm daraufhin sofort, dass ich unseren Freunden mehr dienen kann, wenn ich »im Schützengraben der Strafverteidigung« bleibe, und ich im Übrigen auch Zweifel habe, ob ich die notwendige Disziplin aufbringen kann, die man als Bundestagsabgeordneter nun einmal haben sollte. Wenn auch nicht begeistert, hat er meine Argumente akzeptiert.
Die politische Entwicklung der Partei, die sich dann einige Zeit später sich in »Die Linke« umbenannte, hat HDF – wie wir ihn im vertrauten Kreis nannten – auch nach seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung stets weiterverfolgt. Die von ihm einst gegründete Koordinierungsgruppe gibt es noch heute, auch wenn diese inzwischen nicht mehr den Zusatz »Politische Strafverfolgung« führt, weil die Prozesse im Jahr 2003 ihr Ende fanden.
Jetzt ist Hans-Dieter Fritschler wenige Monate nach seinem 80. Geburtstag verstorben. Nicht nur Landolf Scherzer erinnert sich voller Dankbarkeit und Respekt an ihn.