Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Einzelpsyche und Gesamtgeschichte

Die auf Wygot­ski, Leont­jew, Sève, Holz­kamp u.a. basie­ren­de histo­risch-mate­ria­li­sti­sche Per­sön­lich­keits­for­schung nann­te sich selbst »kri­ti­sche Psy­cho­lo­gie«. Aber auch Freuds Psy­cho­ana­ly­se war in gewis­ser Hin­sicht »kri­tisch«! Inso­fern sie gegen eine von der Gott-Natur ange­leg­te See­len-Auto­no­mie anging, die vom Tier­reich dem Men­schen ein­ver­leibt sei. Freud-Schü­ler Wil­helm Reich hat­te durch­aus mit sei­ner »Mas­sen­psy­cho­lo­gie des Faschis­mus« eben­falls »kri­tisch« ver­sucht, poli­ti­schen Unter­ta­nen­geist aus kol­lek­ti­ven Trieb­ver­wei­ge­run­gen zu fol­gern. Aber Psy­cho­ana­ly­se hat­te auch dabei kate­go­ri­al »Arbeit« bei­sei­te­ge­las­sen und so fami­liä­re Ver­klem­mung aus deren gesell­schaft­li­chem Wider­hall genom­men. Ohne die Dau­er­be­ein­träch­ti­gung der Psy­che durch kapi­ta­li­sti­sche Arbeits­kraft-Ent­eig­nung, Waren­/­Re­al­lohn-Ver­knap­pung, Zeit/-Stress­re­gimes und alle ande­ren sozia­len Ent­frem­dun­gen könn­ten aber weder sexu­el­le Ver­klem­mung noch Scham der­art nach­hal­tig wei­ter­wir­ken. Scham wird nicht nur lust­voll intim durch­bro­chen, son­dern auch mit der Durch­set­zung »unver­schäm­ter« Lohn­for­de­run­gen. Weil jede ato­mi­sier­te Ohn­macht in Arbeits- und Sozi­al­all­tag mit Klas­sen­wi­der­sprü­chen auch Schi­zo­idi­tät ver­schärft – was sich prak­tisch im Erle­ben »durch­mischt«. Drum bedür­fen Ein­zel­wis­sen­schaf­ten ein­an­der, gera­de die Psy­cho­lo­gie, deren Grenz­über­schrei­tun­gen von der Anlei­tung durch mar­xi­sti­sche Phi­lo­so­phie beson­ders pro­fi­tie­ren. Denn alles Bio­gra­fi­sche ist Geschichte.

Die psy­cho­lo­gi­sche For­schung muss das Indi­vi­du­um vom iso­lier­ten Freud-Sofa holen, um kind­li­che Trau­ma­ta mit lebens­lan­gem Sozi­al­ge­sche­hen in Bezie­hung zu set­zen. Auch der modi­schen Sexis­mus-Inqui­si­ti­on sei ins Gesang­buch geschrie­ben: Selbst schmut­zi­ge Intim-Fan­ta­sien stei­gen aus schmut­zi­gen Arbeits­ver­hält­nis­sen empor, anti­the­tisch gefes­selt an frag­men­tie­ren­de Kapi­tal­ein­wir­kung, wel­cher sie anti­po­disch-ästhe­tisch ent­ge­gent­rot­zen – etwa reli­gi­ös um die unbe­fleck­te Emp­fäng­nis krei­send und um deren sub­ver­si­ve Beschmut­zung. Schmut­zi­ge Vor­stel­lun­gen in Spra­che und Bild sind nicht sprach­po­li­zei­lich nie­der­zu­rin­gen, son­dern anti­re­pres­siv und im Klassenkampf.

Wie die Psy­cho­ana­ly­se war auch die »kri­ti­sche Theo­rie« der »Frank­fur­ter Schu­le« Ador­nos nie zu einem kri­ti­schen Begriff von Impe­ria­lis­mus auf­ge­stie­gen, auch nicht, wo sie punk­tu­ell (= anti­to­ta­li­ta­ri­stisch) den Nazi-Impe­ria­lis­mus kri­ti­siert hat­te. Sozi­al­theo­rie und Psy­cho­lo­gie, wenn sie dau­er­haft mein­ten, ohne Monopol(-kritischen)-Begriff aus­kom­men zu kön­nen, beför­der­ten meist nur neue Dem­ago­gien. So den anti­deutsch ent­kern­ten »Anti­fa­schis­mus«, der zwar zahl­rei­che »rech­te« Pho­bien angif­tet, aber nicht den Kern des Faschis­mus: des­sen Ter­ro­ris­mus gegen Arbei­ter­be­we­gung, also des­sen bru­talst­mög­li­chen Anti­kom­mu­nis­mus und sei­ne Gewerkschaftsfeindlichkeit.

Was indi­vi­dua­li­sti­sche Psy­cho­lo­gie kate­go­ri­al aus­blen­det, ist die fata­le Wir­kung von gro­ßem Kapi­tal auf die Ent­fal­tung der klei­nen See­len und deren tra­di­tio­nel­le Hal­te­run­gen, auf deren kol­lek­tiv kei­men­de Selbst­ver­ge­wis­se­rung. Das Zer­schla­gen von Arbeits­or­ga­ni­sa­tio­nen inklu­si­ve dem Aus­höh­len und Kapern von jenen Begrif­fen, wel­che gesell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge begrei­fen hel­fen, lei­sten zusätz­lich Psy­cho­sen Vor­schub, die aus der Ver­ein­sa­mung und aus ato­mi­sier­tem Miss­trau­en erstehen.

Ohne selbst­or­ga­ni­siert gedank­lich »hin­ter« staats­mo­no­po­li­sti­sche Ent­eig­nungs­stra­te­gien und Ent­frem­dung zu gelan­gen, blei­ben letzt­end­lich Werk­tä­ti­ge in Home­of­fice, Kon­zer­nen und Hand­werk glei­cher­ma­ßen psy­chisch im Dau­er­mo­dus des »Aus­ge­lie­fert­seins«. Denn dort wer­den Lie­bes­ent­zug und »Trieb­hem­mun­gen von frü­her« aktu­ell wie­der wach­ge­trig­gert. Hin­ge­gen ver­mag ein halb­wegs geglück­tes Arbeits- und lust­vol­les Wider­stands­er­le­ben sogar Stö­run­gen aus der Kind­heit abzubauen.

Wo die Fra­ge nach Glück wenig rea­li­sti­sche Ant­wor­ten erhält, wächst zwar das Miss­trau­en der Unte­ren wei­ter. Aber wie hier­zu­lan­de, wenn anti­im­pe­ria­li­sti­sche Orga­ni­sa­tio­nen danie­der­lie­gen (deren Bedeu­tung für die Ent­fal­tung von Bewusst­sein und Psy­che bereits Lenin kon­kret her­aus­ge­ar­bei­tet hat­te; z. B. »Ein Schritt vor­wärts …«; LW 7; Dietz 1973; S. 419f), wächst dar­aus eine Melan­ge aus Fata­lis­mus und Dif­fu­si­on. Beson­ders, wenn dann noch als »Ver­schwö­rungs­theo­rie« bru­tal dif­fa­miert wer­den soll, was an Miss­trau­en gegen oben übrig­ge­blie­ben ist. Weil die­sem immer noch »zuviel« selbst­ver­ge­wis­sern­des Auf­be­geh­ren inne­wohnt: gegen die Infla­ti­on (nicht erst seit der Mit­tel­schicht-ent­eig­nen­den EZB-Geld­drucke­rei 2008), gegen das mono­pol­ka­pi­ta­li­sti­sche Pro­fi­tie­ren an der migran­ti­schen Reser­ve­ar­mee, gegen die dem­ago­gi­sche Hetz­jagd auf die »Kli­ma­schuld« die­sel­fah­ren­der Hand­wer­ker und gegen den Grün-Sprech von den »Volks­schäd­lin­gen mit ihrer Impf­pflicht­kri­tik« und gegen die »Kreml-Ver­ste­he­rei«.

Sich herr­schen­der Dem­ago­gie zu beu­gen – wenn auch nur teil­wei­se, wie die Lin­ke-Par­tei­füh­rung –, pro­du­ziert eben auch psy­chi­sche Schä­den, weil es das inner­li­che Gären von Miss­trau­en den media­len Pro­fis oben unbe­ar­bei­tet über­lässt, die der Orga­ni­siert­heit von Real­lohn und Ren­te das Rück­grat bre­chen wol­len – und damit jedem Selbst­wert­ge­fühl unten.

Statt staats­mo­no­po­li­sti­scher Kon­zen­tra­ti­on (die bereits Lenin als Pro­fi­teu­rin neue­rer Kri­sen ana­ly­siert hat­te, Ossietzky 16; S.563) auf­zu­spü­ren, wer­den Chi­na und Russ­land als »impe­ria­li­sti­sche Ver­ur­sa­cher« dämo­ni­siert: nach dem­ago­gi­schen Ablen­kungs­mu­stern, die so auch vom Anti­se­mi­tis­mus ver­wen­det wor­den waren! Gera­de auch von jenen Men­schen, die damit koket­tie­ren, sich ihres Deutsch­seins zu schä­men, den »Anti­deut­schen«, wenn sie popu­lä­re Kapi­ta­lis­mus-Kri­tik, Kri­tik an der Finanz­spe­ku­la­ti­on als »sub­kom­ple­xen, anti­se­mi­ti­schen Popu­lis­mus« ver­het­zen, sel­ber aber dann »bil­dungs­fer­ne Prolls« und »alte wei­ße Män­ner« als Schul­di­ge versimpeln.

Nun heißt dies nicht, dass die übrig­ge­blie­be­nen Kräf­te der Auf­klä­rung auf Ver­ein­fa­chung in der Agi­ta­ti­on ver­zich­ten dürf­ten. Brecht ver­ein­fach­te das kapi­ta­li­stisch ver­ding­lich­te Men­schen­bild so: »Weiß ich, was ein Mensch ist/​ Weiß ich, wer das weiß/​ Ich weiß nicht, was ein Mensch ist/​ Ich ken­ne nur sei­nen Preis.« Und Marx zitiert einen der »ori­gi­nell­sten Phi­lo­so­phen Eng­lands, Tho­mas Hob­bes«, 1865 auch ver­ein­fa­chend: »Der Wert eines Men­schen ist, wie der aller ande­ren Din­ge, sein Preis: das heißt so viel als für die Benut­zung sei­ner Kraft gege­ben wür­de« (Lohn, Preis und Pro­fit, Dietz 1969, S. 40).

Ent­wür­di­gung und Ent­wer­tung, wie sie die Abspal­tung werk­tä­ti­ger Men­schen von ihren Pro­duk­ten und Werk­zeu­gen mit sich brin­gen, kor­re­spon­die­ren psy­chisch mit kind­li­chen Ent­frem­dun­gen, sind aber von einer Psy­cho­lo­gie nicht zu fas­sen, die einer­seits Bio­gra­fie auf Kind­heit ein­dampft und ande­rer­seits Ein­zel­ge­schich­te aus der Gesamt­ge­schich­te ausspaltet.

Men­schen erlei­den struk­tu­rel­le Frag­men­tie­rung und Ent­frem­dung unter­schwel­lig. Das nährt zwar ihr Miss­trau­en gegen oben orga­nisch. Solan­ge dies aber nicht zur Erkennt­nis »mit ande­ren« orga­ni­siert wird, bleibt es auch der The­ra­pie ent­zo­gen, weil der Zer­streu­ung und deren indu­stri­el­ler Maschi­ne­rie über­eig­net. Damit aber auf rea­li­sti­sche Lern­lust, die psy­chi­sche Gesun­dung in kol­lek­ti­ver Gegen­wehr – etwa Streik – als Selbst­ver­ge­wis­se­rung mit sich bringt, selbst in Zei­ten kurz­wel­li­ger Klas­sen­kämp­fe nicht ver­zich­tet wer­den muss, sei auf die »Über­brückungs­tech­no­lo­gie« der Kunst ver­wie­sen – mit einer Emp­feh­lung des neu­en Buchs von Tho­mas Met­scher (»Pari­ser Medi­ta­tio­nen – Zu einer Ästhe­tik der Befrei­ung«; Man­gro­ven-Ver­lag). Und mit dem Hin­weis dar­auf, dass Brecht kaum mehr und Degenhardt/​Süverkrüp gar nicht mehr auf­ge­führt wer­den. Nun, das Pres­se­fest vom DKP-Zen­tral­or­gan »Unse­re Zeit« hat gezeigt: Wir hät­ten da noch gewis­se Möglichkeiten …