Die auf Wygotski, Leontjew, Sève, Holzkamp u.a. basierende historisch-materialistische Persönlichkeitsforschung nannte sich selbst »kritische Psychologie«. Aber auch Freuds Psychoanalyse war in gewisser Hinsicht »kritisch«! Insofern sie gegen eine von der Gott-Natur angelegte Seelen-Autonomie anging, die vom Tierreich dem Menschen einverleibt sei. Freud-Schüler Wilhelm Reich hatte durchaus mit seiner »Massenpsychologie des Faschismus« ebenfalls »kritisch« versucht, politischen Untertanengeist aus kollektiven Triebverweigerungen zu folgern. Aber Psychoanalyse hatte auch dabei kategorial »Arbeit« beiseitegelassen und so familiäre Verklemmung aus deren gesellschaftlichem Widerhall genommen. Ohne die Dauerbeeinträchtigung der Psyche durch kapitalistische Arbeitskraft-Enteignung, Waren/Reallohn-Verknappung, Zeit/-Stressregimes und alle anderen sozialen Entfremdungen könnten aber weder sexuelle Verklemmung noch Scham derart nachhaltig weiterwirken. Scham wird nicht nur lustvoll intim durchbrochen, sondern auch mit der Durchsetzung »unverschämter« Lohnforderungen. Weil jede atomisierte Ohnmacht in Arbeits- und Sozialalltag mit Klassenwidersprüchen auch Schizoidität verschärft – was sich praktisch im Erleben »durchmischt«. Drum bedürfen Einzelwissenschaften einander, gerade die Psychologie, deren Grenzüberschreitungen von der Anleitung durch marxistische Philosophie besonders profitieren. Denn alles Biografische ist Geschichte.
Die psychologische Forschung muss das Individuum vom isolierten Freud-Sofa holen, um kindliche Traumata mit lebenslangem Sozialgeschehen in Beziehung zu setzen. Auch der modischen Sexismus-Inquisition sei ins Gesangbuch geschrieben: Selbst schmutzige Intim-Fantasien steigen aus schmutzigen Arbeitsverhältnissen empor, antithetisch gefesselt an fragmentierende Kapitaleinwirkung, welcher sie antipodisch-ästhetisch entgegentrotzen – etwa religiös um die unbefleckte Empfängnis kreisend und um deren subversive Beschmutzung. Schmutzige Vorstellungen in Sprache und Bild sind nicht sprachpolizeilich niederzuringen, sondern antirepressiv und im Klassenkampf.
Wie die Psychoanalyse war auch die »kritische Theorie« der »Frankfurter Schule« Adornos nie zu einem kritischen Begriff von Imperialismus aufgestiegen, auch nicht, wo sie punktuell (= antitotalitaristisch) den Nazi-Imperialismus kritisiert hatte. Sozialtheorie und Psychologie, wenn sie dauerhaft meinten, ohne Monopol(-kritischen)-Begriff auskommen zu können, beförderten meist nur neue Demagogien. So den antideutsch entkernten »Antifaschismus«, der zwar zahlreiche »rechte« Phobien angiftet, aber nicht den Kern des Faschismus: dessen Terrorismus gegen Arbeiterbewegung, also dessen brutalstmöglichen Antikommunismus und seine Gewerkschaftsfeindlichkeit.
Was individualistische Psychologie kategorial ausblendet, ist die fatale Wirkung von großem Kapital auf die Entfaltung der kleinen Seelen und deren traditionelle Halterungen, auf deren kollektiv keimende Selbstvergewisserung. Das Zerschlagen von Arbeitsorganisationen inklusive dem Aushöhlen und Kapern von jenen Begriffen, welche gesellschaftliche Zusammenhänge begreifen helfen, leisten zusätzlich Psychosen Vorschub, die aus der Vereinsamung und aus atomisiertem Misstrauen erstehen.
Ohne selbstorganisiert gedanklich »hinter« staatsmonopolistische Enteignungsstrategien und Entfremdung zu gelangen, bleiben letztendlich Werktätige in Homeoffice, Konzernen und Handwerk gleichermaßen psychisch im Dauermodus des »Ausgeliefertseins«. Denn dort werden Liebesentzug und »Triebhemmungen von früher« aktuell wieder wachgetriggert. Hingegen vermag ein halbwegs geglücktes Arbeits- und lustvolles Widerstandserleben sogar Störungen aus der Kindheit abzubauen.
Wo die Frage nach Glück wenig realistische Antworten erhält, wächst zwar das Misstrauen der Unteren weiter. Aber wie hierzulande, wenn antiimperialistische Organisationen daniederliegen (deren Bedeutung für die Entfaltung von Bewusstsein und Psyche bereits Lenin konkret herausgearbeitet hatte; z. B. »Ein Schritt vorwärts …«; LW 7; Dietz 1973; S. 419f), wächst daraus eine Melange aus Fatalismus und Diffusion. Besonders, wenn dann noch als »Verschwörungstheorie« brutal diffamiert werden soll, was an Misstrauen gegen oben übriggeblieben ist. Weil diesem immer noch »zuviel« selbstvergewisserndes Aufbegehren innewohnt: gegen die Inflation (nicht erst seit der Mittelschicht-enteignenden EZB-Gelddruckerei 2008), gegen das monopolkapitalistische Profitieren an der migrantischen Reservearmee, gegen die demagogische Hetzjagd auf die »Klimaschuld« dieselfahrender Handwerker und gegen den Grün-Sprech von den »Volksschädlingen mit ihrer Impfpflichtkritik« und gegen die »Kreml-Versteherei«.
Sich herrschender Demagogie zu beugen – wenn auch nur teilweise, wie die Linke-Parteiführung –, produziert eben auch psychische Schäden, weil es das innerliche Gären von Misstrauen den medialen Profis oben unbearbeitet überlässt, die der Organisiertheit von Reallohn und Rente das Rückgrat brechen wollen – und damit jedem Selbstwertgefühl unten.
Statt staatsmonopolistischer Konzentration (die bereits Lenin als Profiteurin neuerer Krisen analysiert hatte, Ossietzky 16; S.563) aufzuspüren, werden China und Russland als »imperialistische Verursacher« dämonisiert: nach demagogischen Ablenkungsmustern, die so auch vom Antisemitismus verwendet worden waren! Gerade auch von jenen Menschen, die damit kokettieren, sich ihres Deutschseins zu schämen, den »Antideutschen«, wenn sie populäre Kapitalismus-Kritik, Kritik an der Finanzspekulation als »subkomplexen, antisemitischen Populismus« verhetzen, selber aber dann »bildungsferne Prolls« und »alte weiße Männer« als Schuldige versimpeln.
Nun heißt dies nicht, dass die übriggebliebenen Kräfte der Aufklärung auf Vereinfachung in der Agitation verzichten dürften. Brecht vereinfachte das kapitalistisch verdinglichte Menschenbild so: »Weiß ich, was ein Mensch ist/ Weiß ich, wer das weiß/ Ich weiß nicht, was ein Mensch ist/ Ich kenne nur seinen Preis.« Und Marx zitiert einen der »originellsten Philosophen Englands, Thomas Hobbes«, 1865 auch vereinfachend: »Der Wert eines Menschen ist, wie der aller anderen Dinge, sein Preis: das heißt so viel als für die Benutzung seiner Kraft gegeben würde« (Lohn, Preis und Profit, Dietz 1969, S. 40).
Entwürdigung und Entwertung, wie sie die Abspaltung werktätiger Menschen von ihren Produkten und Werkzeugen mit sich bringen, korrespondieren psychisch mit kindlichen Entfremdungen, sind aber von einer Psychologie nicht zu fassen, die einerseits Biografie auf Kindheit eindampft und andererseits Einzelgeschichte aus der Gesamtgeschichte ausspaltet.
Menschen erleiden strukturelle Fragmentierung und Entfremdung unterschwellig. Das nährt zwar ihr Misstrauen gegen oben organisch. Solange dies aber nicht zur Erkenntnis »mit anderen« organisiert wird, bleibt es auch der Therapie entzogen, weil der Zerstreuung und deren industrieller Maschinerie übereignet. Damit aber auf realistische Lernlust, die psychische Gesundung in kollektiver Gegenwehr – etwa Streik – als Selbstvergewisserung mit sich bringt, selbst in Zeiten kurzwelliger Klassenkämpfe nicht verzichtet werden muss, sei auf die »Überbrückungstechnologie« der Kunst verwiesen – mit einer Empfehlung des neuen Buchs von Thomas Metscher (»Pariser Meditationen – Zu einer Ästhetik der Befreiung«; Mangroven-Verlag). Und mit dem Hinweis darauf, dass Brecht kaum mehr und Degenhardt/Süverkrüp gar nicht mehr aufgeführt werden. Nun, das Pressefest vom DKP-Zentralorgan »Unsere Zeit« hat gezeigt: Wir hätten da noch gewisse Möglichkeiten …