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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eingewechselt

Micha­el Hamet­ner ist wohl einer der weni­gen, denen das Wort Lite­ra­tur­kri­ti­ker noch auf den Leib geschnei­dert ist. Unter den lob­se­li­gen Ver­mark­tern von Geschrie­be­nem bei­der­lei Geschlechts, wie sie sich im leit­me­dia­len Dis­kurs tum­meln, fällt er in Rich­tung fach­lich soli­der Ana­ly­se auf. Unver­ges­sen die Jah­re, als man im Säch­si­schen rei­send, Radio hörend über MDR-Figa­ro zum Früh­stück von sei­ner Stim­me gei­stig unter­füt­tert wur­de. Als eher mit­tel­deutsch tra­dier­ter Ost­au­tor hat er die Jahr­zehn­te des deut­schen Ver­ei­ni­gungs­spek­ta­kels sehr nah und unmit­tel­bar erlebt – und krea­tiv mit­zu­ge­stal­ten ver­sucht. Nun schreibt er einen kri­ti­schen Rück­blick auf jene Wech­sel­fäl­le, die ihn zuneh­mend nerv­ten. Und immer nach­denk­li­cher mach­ten. »Deut­sche Wech­sel­jah­re« nennt er das kürz­lich im Mit­tel­deut­schen Ver­lag Hal­le erschie­ne­ne Buch.

Bei »Wech­sel­fäl­len« wür­de Posi­ti­ves mit Nega­ti­vem wech­seln. »Deut­sche Wech­sel­jah­re« deu­ten jedoch auf einen schö­nen alten Begriff der deut­schen Spra­che hin. Was den – bit­te­schön nicht nur weib­li­chen – Kör­per­haus­halt betrifft, gibt es da hor­mo­nell und dar­auf­fol­gend eben­so per­so­nell eine gewis­se Ver­än­de­rung. Jede und jeder weiß davon. Der gebär­freu­di­ge Zyklus der Men­schen­jah­re glei­tet über in einen eher gei­sti­gen Pro­zess ziel­ge­rich­tet erwei­ter­ten schöp­fe­ri­schen Tuns. Die von Testo­ste­ron gesteu­er­te ande­re Hälf­te der Mensch­heit spürt nach Zurück­las­sen man­cher Jugend­sün­den eben­falls eine neue Qua­li­tät der zwei­ten Lebenshälfte.

Wäre doch nach Mau­er­öff­nung 1989 eine sol­che Trans­for­ma­ti­on im Psy­cho­so­zia­len mög­lich gewe­sen. Doch da hat weit mehr als ein Wech­sel statt­ge­habt. Aber was ging da vor? Oder bes­ser: Wer ging da um? Wer schwang da die Moral­keu­le? Es war das Gespenst der Dele­gi­ti­mie­rung. Ein unhalt­bar gewor­de­nes Staats­ge­bil­de stand zum Abriss zur Ver­fü­gung. Das riss ein Gesell­schafts­mo­dell in den Abgrund. Und die die­ses Modell ver­kör­pern­den Men­schen gleich mit. Von ihnen nahm am Ende über­haupt kein Hund mehr einen Bis­sen an. Zie­le und Inhal­te waren nicht mehr zu dis­ku­tie­ren. Denn Prak­ti­ken und Ver­feh­lun­gen waren frei­ge­ge­ben zum Denun­zie­ren. Der in gro­tes­ker Anma­ßung spit­zeln­de Siche­rungs­pan­zer des Systems mit dem Spott­na­men »Sta­si« wur­de zum Maß aller Din­ge. Wer da Kon­takt hat­te, war mit dem Ver­dacht der Schä­di­gung ande­rer gebrandmarkt.

Was als fried­li­che Revo­lu­ti­on mit dem mora­lisch sen­sa­tio­nell inte­gren Geist des »Run­den Tisches« begann, zer­brö­sel­te in einem bei­spiel­lo­sen Rei­ni­gungs­fu­ror. Die mit dem Kose­wort »Treu­hand« geschmück­te Pro­fit-Kum­pa­nei been­de­te das Kapi­tel »Wer bestimmt über wen« vor­schnell. Über Nacht wur­de alles von der DDR »ehe­ma­lig«. Und bis heu­te ste­hen »Sta­si«, »SED-Regime« und »Unrechts­staat« für eine Ver­dam­mung, die wirk­li­che Auf­ar­bei­tung erschwert. Man muss doch zuge­ben: Die Wort­wahl klingt nicht son­der­lich objek­ti­vie­rend. Wie­so nahm man zeit­gleich ana­lo­ge Begrif­fe wie »Nazi­dik­ta­tur« und »Faschis­mus« aus dem Wort­ge­brauch zugun­sten der Edel­vo­ka­bel »Natio­nal­so­zia­lis­mus«? Und beeil­te sich, als Ersatz­hand­lung für poli­ti­sche Kor­rek­tu­ren kolo­nia­li­stisch ver­un­rei­nig­te Voka­beln schleu­nigst zu ent­sor­gen? Sprach­re­ge­lung als Psycho-Taktik.

Und war denn all das wirk­lich rechts­staat­lich legi­tim? Wer nutz­te da die Abwe­sen­heit eines Rechts­sy­stems ana­log dem der Bun­des­re­pu­blik, um im nun­mehr rechts­frei­en Raum zu ope­rie­ren? War­um waren die fried­li­chen Revo­lu­tio­nä­re zu schüch­tern, den Feh­de­hand­schuh mora­li­scher Wer­tung ein­fach umzu­dre­hen? Wo waren die Fra­gen der sofort ins Täter-Opfer-Sche­ma Gezwäng­ten? Wie krumm waren die Prak­ti­ken im öko­no­mi­schen Kon­kur­renz­kampf, der Mil­lio­nen Arbeits­plät­ze ver­nich­te­te? Wie wenig nobel ging es zu, als die Anfor­de­run­gen zur Neu­ein­stel­lung bis hin zur Beklei­dung eines Lei­tungs­po­stens genannt wur­den? Wie­so zähl­ten nach­weis­ba­re Qua­li­fi­ka­tio­nen nicht mehr, nur weil sie nicht zu büro­kra­ti­scher West-Struk­tur pass­ten? Wie erklärt sich schließ­lich der heu­te trau­ri­ge Zustand einer so schwa­chen künst­le­ri­schen Krea­ti­vi­tät wie nie zuvor in öst­li­chen Gefil­den? Wer kapp­te da Wur­zeln, ver­pass­te Chan­cen und räum­te ein Auf­trags­we­sen ab, das nicht pri­va­ter Will­kür geop­fert wer­den durfte?

Und dafür gibt es kon­kre­te Bei­spie­le genug. Was das Buch zur Bil­den­den Kunst in Dres­den und Leip­zig anreißt, alar­miert. Lutz Damm­beck muss ja sei­ne Leh­rer Hei­sig und Mattheu­er nicht ver­eh­ren, aber ihr äffi­sches Abfer­ti­gen in »Dürers Erben« ist ein­fach unwür­dig. Da hat lei­der die vul­gä­re Manier der Häme ihren Anfang genom­men, die wir heu­te im Kul­tur­dis­put bekla­gen. Was Wer­ner Schmidt als Chef in den Staat­li­chen Kunst­samm­lun­gen lei­ste­te, war bei­spiel­haft. Nach­dem er sein Buch über die West­flüch­ti­gen statt »Die uns feh­len« dem auf­ge­putsch­ten Zeit­geist zulie­be »Aus­ge­bür­gert« genannt hat­te, schei­ter­te er in der Prä­sen­ta­ti­on der Samm­lung gran­di­os. Sein fai­res und wür­de­vol­les Hän­ge­kon­zept ori­gi­nal Dresd­ner Kunst wur­de von dem zuge­zo­ge­nen Ulrich Bisch­off und sei­ner Nach­fol­ge­rin so kon­ter­ka­riert, dass er total ver­bit­tert in den Ruhe­stand ver­schwand. Ger­hard Rich­ter und Georg Base­litz waren als Markt­füh­rer ihrer Hei­mat voll­kom­men fremd gewor­den. Statt die Zurück­set­zung der Hier­ge­blie­be­nen zu brem­sen, for­cier­ten sie die­se noch. Der Höhe der damit abge­fer­tig­ten Kunst soll die­ses mora­li­sche Tief ange­mes­sen gewe­sen sein? Da lachen schon die Hühner.

Was nun ver­ket­zert wur­de, war gewach­sen als eine der klas­si­schen Moder­ne ver­pflich­te­ten Sze­ne bil­den­der und ange­wand­ter Kunst guter Qua­li­tät und gesell­schaft­li­cher Wir­kung. Das pas­sier­te durch Mit­glie­der eines Künst­ler­ver­ban­des, der staats­kon­form war. Ja. Was ist dar­an, rechts­staat­lich bewer­tet, kri­mi­nell? Die Kunst kön­ne nur mit den Vor­zei­chen der »west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft« gedei­hen – das ist eine bil­li­ge Psy­chof­al­le. Para­do­xe Wider­sprü­che: Die Affä­re Bier­mann brach­te die Gro­ßen in Lite­ra­tur und Dar­stel­len­der Kunst in Wider­spruch zur Will­kür sei­ner Aus­bür­ge­rung. Und zeit­gleich bekam der Ver­band bil­den­der Künst­ler dank Wil­li Sit­tes diplo­ma­ti­schem Geschick einen viel höhe­ren Grad an Selbst­be­stim­mung. Ich war seit 1975 im enge­ren Kreis sei­ner Lei­tung Zeu­ge. Und Mit­wir­ken­der. Da waren Abstrak­ti­on sowie Sur­rea­lis­men und Ver­frem­dun­gen an der Tages­ord­nung. Bücher, Kata­lo­ge, Pla­ka­te, Druck­sa­chen bewei­sen, wie inter­na­tio­nal welt­gül­tig wir auf­ge­stellt waren.

Kunst war in der Öffent­lich­keit als huma­ni­sti­scher Erzie­hungs­fak­tor ungleich prä­sen­ter als heu­te. Wenn dane­ben die per­ver­se Para­noia der MfS-Spit­ze­lei ver­rückt­spiel­te, muss­te das nicht auf Wert oder Unwert gemach­ter Kunst durch­schla­gen. Nach repres­si­ven Anfangs­jah­ren gab es in den 70er und 80er Jah­ren einen Qua­li­täts­sprung, der mit einem Schlag die­se Kunst auf ein auch kom­mer­zi­ell ver­wert­ba­res Welt­ni­veau hiev­te. Das »Dik­tat des Sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus« wur­de zur Schi­mä­re. Phra­sen­haft lini­en­treue Anprei­sun­gen von Kunst­er­klä­rern beru­hig­ten die Staats­auf­se­her. Rei­hen­wei­se ent­wickel­te sich eine jun­ge Künst­ler­schaft, die am Ende zu radi­ka­len Ver­än­de­run­gen dräng­te. Als sie die­se kraft Wie­der­ver­ei­ni­gung erreich­te, zer­rann ihr der Erfolg lei­der im Cha­os eines rigi­de umori­en­tier­ten Mark­tes sehr schnell.

Blicken wir zurück auf die 90er Jah­re: Wie mit Ein­sicht in Fehl­ver­hal­ten und Anpas­sung getra­ge­ne Selbst­kri­tik von einer krass radi­ka­li­sier­ten Gegen­sei­te für rüde Unter­stel­lun­gen und Anfein­dun­gen aus­ge­nutzt wur­de – da schie­den sich die Gei­ster in Ost und West. Hamet­ners knap­pe Noti­zen bie­ten Bei­spie­le in Hül­le und Fül­le. Der Zufäl­le sind zu viel. Gei­sti­ge Iko­nen wie Chri­sta Wolf oder Erwin Stritt­mat­ter, Hei­ner Mül­ler oder Ste­fan Heym – in Fra­ge und in die Ecke gestellt, wer­den sie zum »Fall«. Der gro­ße Ein­zel­gän­ger Gün­ter Grass setz­te spon­tan den Roman »Ein wei­tes Feld« in die nun wie­der eröff­ne­te Kampf­are­na eines neu­en »Kal­ten Krie­ges«. Prompt fie­len, mit Lite­ra­tur­papst Reich-Ranicki an der Spit­ze, die nach wie vor west­li­chen Leit­me­di­en über ihn her. Wie krass wur­den die Stim­men der Ver­nunft von Wal­ter Jens oder Mar­tin Wal­ser mit pein­li­chen Ent­hül­lun­gen ins mora­li­sche Abseits beför­dert? Und das von Leu­ten, deren Inte­gri­tät recht zwei­fel­haft war.

Hamet­ner erwähnt nur kurz den ver­wun­der­ten Aus­ruf von Chri­stoph Hein, wie­so der Westen allein das Wort Deutsch­land für sich rekla­miert, wäh­rend die Ost­deut­schen immer noch das Eti­kett DDR tra­gen müs­sen. Trau­rig genug, wie wenig Wider­spruch gegen die­se ekla­tan­te Schief­la­ge kommt. Als Hein­rich Böll und Rolf Hoch­huth, Jür­gen Haber­mas und eben Gün­ter Grass vor Jah­ren öffent­lich ein gutes Gewis­sen arti­ku­lier­ten, war das sehr anders. Heu­te wird eine gemein­sa­me deut­sche Kul­tur­ge­schich­te sus­pen­diert. Und die Mei­ster der Spra­che schwei­gen dazu weit­ge­hend. Hamet­ner nennt mit gutem Recht als aus­ge­wie­se­ne Autoren des Ostens Ingo Schul­ze und Kurt Dra­wert, Cle­mens Mey­er und Lutz Seiler.

Immer ist jeweils von einem Roman die Rede. Wenig von einer Hal­tung. Eine, die das Selbst­be­wusst­sein einer kri­ti­schen Selbst­be­sin­nung tra­gen wür­de – als Distanz zu der arro­gan­ten Anma­ßung west­li­cher Allein­ver­tre­tung. Denn wenn heu­te print-media­le und tele­vi­sio­nä­re Stim­men das Wort Deutsch­land skan­die­ren, dann mei­nen sie nach wie vor die BRD in den Gren­zen von 1949 bis 1989. Man hat völ­lig ver­ges­sen, den Stahl­be­ton eines Anspruchs auf Allein­ver­tre­tung zu ent­sor­gen, der schon zu Hoch­zei­ten des Kal­ten Krie­ges so obso­let war, dass er nur Scha­den ange­rich­tet hat. Und ver­gibt sich auf sträf­li­che Wei­se der Chan­ce, sich inter­na­tio­nal auf Posi­ti­ves zu beru­fen. Als nun­mehr gemein­sa­me deut­sche Kul­tur sind auf der Ost­sei­te vie­le sozia­le The­men künst­le­risch auf­ge­grif­fen wor­den. Der Anti­fa­schis­mus war ein Grund­zug die­ser Kunst. Was gibt es da zu distan­zie­ren? Gegen kolo­nia­le Unter­drückung, gegen Frau­en­dis­kri­mi­nie­rung, gegen Gewalt­herr­schaft – das waren immer wie­der­keh­ren­de Anlie­gen gesamt­deut­scher Progressivität.

Es ist höch­ste Zeit, dass unse­re deut­sche Kul­tur ihrem Rang ent­spre­chend im nun­mehr so oder so ver­ei­nig­ten Kon­text wahr­ge­nom­men wird.

Micha­el Hamet­ner, Deut­sche Wech­sel­jah­re. Nach­den­ken über Lite­ra­tur und Bil­den­de Kunst, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 224 S., 14 .