Michael Hametner ist wohl einer der wenigen, denen das Wort Literaturkritiker noch auf den Leib geschneidert ist. Unter den lobseligen Vermarktern von Geschriebenem beiderlei Geschlechts, wie sie sich im leitmedialen Diskurs tummeln, fällt er in Richtung fachlich solider Analyse auf. Unvergessen die Jahre, als man im Sächsischen reisend, Radio hörend über MDR-Figaro zum Frühstück von seiner Stimme geistig unterfüttert wurde. Als eher mitteldeutsch tradierter Ostautor hat er die Jahrzehnte des deutschen Vereinigungsspektakels sehr nah und unmittelbar erlebt – und kreativ mitzugestalten versucht. Nun schreibt er einen kritischen Rückblick auf jene Wechselfälle, die ihn zunehmend nervten. Und immer nachdenklicher machten. »Deutsche Wechseljahre« nennt er das kürzlich im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienene Buch.
Bei »Wechselfällen« würde Positives mit Negativem wechseln. »Deutsche Wechseljahre« deuten jedoch auf einen schönen alten Begriff der deutschen Sprache hin. Was den – bitteschön nicht nur weiblichen – Körperhaushalt betrifft, gibt es da hormonell und darauffolgend ebenso personell eine gewisse Veränderung. Jede und jeder weiß davon. Der gebärfreudige Zyklus der Menschenjahre gleitet über in einen eher geistigen Prozess zielgerichtet erweiterten schöpferischen Tuns. Die von Testosteron gesteuerte andere Hälfte der Menschheit spürt nach Zurücklassen mancher Jugendsünden ebenfalls eine neue Qualität der zweiten Lebenshälfte.
Wäre doch nach Maueröffnung 1989 eine solche Transformation im Psychosozialen möglich gewesen. Doch da hat weit mehr als ein Wechsel stattgehabt. Aber was ging da vor? Oder besser: Wer ging da um? Wer schwang da die Moralkeule? Es war das Gespenst der Delegitimierung. Ein unhaltbar gewordenes Staatsgebilde stand zum Abriss zur Verfügung. Das riss ein Gesellschaftsmodell in den Abgrund. Und die dieses Modell verkörpernden Menschen gleich mit. Von ihnen nahm am Ende überhaupt kein Hund mehr einen Bissen an. Ziele und Inhalte waren nicht mehr zu diskutieren. Denn Praktiken und Verfehlungen waren freigegeben zum Denunzieren. Der in grotesker Anmaßung spitzelnde Sicherungspanzer des Systems mit dem Spottnamen »Stasi« wurde zum Maß aller Dinge. Wer da Kontakt hatte, war mit dem Verdacht der Schädigung anderer gebrandmarkt.
Was als friedliche Revolution mit dem moralisch sensationell integren Geist des »Runden Tisches« begann, zerbröselte in einem beispiellosen Reinigungsfuror. Die mit dem Kosewort »Treuhand« geschmückte Profit-Kumpanei beendete das Kapitel »Wer bestimmt über wen« vorschnell. Über Nacht wurde alles von der DDR »ehemalig«. Und bis heute stehen »Stasi«, »SED-Regime« und »Unrechtsstaat« für eine Verdammung, die wirkliche Aufarbeitung erschwert. Man muss doch zugeben: Die Wortwahl klingt nicht sonderlich objektivierend. Wieso nahm man zeitgleich analoge Begriffe wie »Nazidiktatur« und »Faschismus« aus dem Wortgebrauch zugunsten der Edelvokabel »Nationalsozialismus«? Und beeilte sich, als Ersatzhandlung für politische Korrekturen kolonialistisch verunreinigte Vokabeln schleunigst zu entsorgen? Sprachregelung als Psycho-Taktik.
Und war denn all das wirklich rechtsstaatlich legitim? Wer nutzte da die Abwesenheit eines Rechtssystems analog dem der Bundesrepublik, um im nunmehr rechtsfreien Raum zu operieren? Warum waren die friedlichen Revolutionäre zu schüchtern, den Fehdehandschuh moralischer Wertung einfach umzudrehen? Wo waren die Fragen der sofort ins Täter-Opfer-Schema Gezwängten? Wie krumm waren die Praktiken im ökonomischen Konkurrenzkampf, der Millionen Arbeitsplätze vernichtete? Wie wenig nobel ging es zu, als die Anforderungen zur Neueinstellung bis hin zur Bekleidung eines Leitungspostens genannt wurden? Wieso zählten nachweisbare Qualifikationen nicht mehr, nur weil sie nicht zu bürokratischer West-Struktur passten? Wie erklärt sich schließlich der heute traurige Zustand einer so schwachen künstlerischen Kreativität wie nie zuvor in östlichen Gefilden? Wer kappte da Wurzeln, verpasste Chancen und räumte ein Auftragswesen ab, das nicht privater Willkür geopfert werden durfte?
Und dafür gibt es konkrete Beispiele genug. Was das Buch zur Bildenden Kunst in Dresden und Leipzig anreißt, alarmiert. Lutz Dammbeck muss ja seine Lehrer Heisig und Mattheuer nicht verehren, aber ihr äffisches Abfertigen in »Dürers Erben« ist einfach unwürdig. Da hat leider die vulgäre Manier der Häme ihren Anfang genommen, die wir heute im Kulturdisput beklagen. Was Werner Schmidt als Chef in den Staatlichen Kunstsammlungen leistete, war beispielhaft. Nachdem er sein Buch über die Westflüchtigen statt »Die uns fehlen« dem aufgeputschten Zeitgeist zuliebe »Ausgebürgert« genannt hatte, scheiterte er in der Präsentation der Sammlung grandios. Sein faires und würdevolles Hängekonzept original Dresdner Kunst wurde von dem zugezogenen Ulrich Bischoff und seiner Nachfolgerin so konterkariert, dass er total verbittert in den Ruhestand verschwand. Gerhard Richter und Georg Baselitz waren als Marktführer ihrer Heimat vollkommen fremd geworden. Statt die Zurücksetzung der Hiergebliebenen zu bremsen, forcierten sie diese noch. Der Höhe der damit abgefertigten Kunst soll dieses moralische Tief angemessen gewesen sein? Da lachen schon die Hühner.
Was nun verketzert wurde, war gewachsen als eine der klassischen Moderne verpflichteten Szene bildender und angewandter Kunst guter Qualität und gesellschaftlicher Wirkung. Das passierte durch Mitglieder eines Künstlerverbandes, der staatskonform war. Ja. Was ist daran, rechtsstaatlich bewertet, kriminell? Die Kunst könne nur mit den Vorzeichen der »westlichen Wertegemeinschaft« gedeihen – das ist eine billige Psychofalle. Paradoxe Widersprüche: Die Affäre Biermann brachte die Großen in Literatur und Darstellender Kunst in Widerspruch zur Willkür seiner Ausbürgerung. Und zeitgleich bekam der Verband bildender Künstler dank Willi Sittes diplomatischem Geschick einen viel höheren Grad an Selbstbestimmung. Ich war seit 1975 im engeren Kreis seiner Leitung Zeuge. Und Mitwirkender. Da waren Abstraktion sowie Surrealismen und Verfremdungen an der Tagesordnung. Bücher, Kataloge, Plakate, Drucksachen beweisen, wie international weltgültig wir aufgestellt waren.
Kunst war in der Öffentlichkeit als humanistischer Erziehungsfaktor ungleich präsenter als heute. Wenn daneben die perverse Paranoia der MfS-Spitzelei verrücktspielte, musste das nicht auf Wert oder Unwert gemachter Kunst durchschlagen. Nach repressiven Anfangsjahren gab es in den 70er und 80er Jahren einen Qualitätssprung, der mit einem Schlag diese Kunst auf ein auch kommerziell verwertbares Weltniveau hievte. Das »Diktat des Sozialistischen Realismus« wurde zur Schimäre. Phrasenhaft linientreue Anpreisungen von Kunsterklärern beruhigten die Staatsaufseher. Reihenweise entwickelte sich eine junge Künstlerschaft, die am Ende zu radikalen Veränderungen drängte. Als sie diese kraft Wiedervereinigung erreichte, zerrann ihr der Erfolg leider im Chaos eines rigide umorientierten Marktes sehr schnell.
Blicken wir zurück auf die 90er Jahre: Wie mit Einsicht in Fehlverhalten und Anpassung getragene Selbstkritik von einer krass radikalisierten Gegenseite für rüde Unterstellungen und Anfeindungen ausgenutzt wurde – da schieden sich die Geister in Ost und West. Hametners knappe Notizen bieten Beispiele in Hülle und Fülle. Der Zufälle sind zu viel. Geistige Ikonen wie Christa Wolf oder Erwin Strittmatter, Heiner Müller oder Stefan Heym – in Frage und in die Ecke gestellt, werden sie zum »Fall«. Der große Einzelgänger Günter Grass setzte spontan den Roman »Ein weites Feld« in die nun wieder eröffnete Kampfarena eines neuen »Kalten Krieges«. Prompt fielen, mit Literaturpapst Reich-Ranicki an der Spitze, die nach wie vor westlichen Leitmedien über ihn her. Wie krass wurden die Stimmen der Vernunft von Walter Jens oder Martin Walser mit peinlichen Enthüllungen ins moralische Abseits befördert? Und das von Leuten, deren Integrität recht zweifelhaft war.
Hametner erwähnt nur kurz den verwunderten Ausruf von Christoph Hein, wieso der Westen allein das Wort Deutschland für sich reklamiert, während die Ostdeutschen immer noch das Etikett DDR tragen müssen. Traurig genug, wie wenig Widerspruch gegen diese eklatante Schieflage kommt. Als Heinrich Böll und Rolf Hochhuth, Jürgen Habermas und eben Günter Grass vor Jahren öffentlich ein gutes Gewissen artikulierten, war das sehr anders. Heute wird eine gemeinsame deutsche Kulturgeschichte suspendiert. Und die Meister der Sprache schweigen dazu weitgehend. Hametner nennt mit gutem Recht als ausgewiesene Autoren des Ostens Ingo Schulze und Kurt Drawert, Clemens Meyer und Lutz Seiler.
Immer ist jeweils von einem Roman die Rede. Wenig von einer Haltung. Eine, die das Selbstbewusstsein einer kritischen Selbstbesinnung tragen würde – als Distanz zu der arroganten Anmaßung westlicher Alleinvertretung. Denn wenn heute print-mediale und televisionäre Stimmen das Wort Deutschland skandieren, dann meinen sie nach wie vor die BRD in den Grenzen von 1949 bis 1989. Man hat völlig vergessen, den Stahlbeton eines Anspruchs auf Alleinvertretung zu entsorgen, der schon zu Hochzeiten des Kalten Krieges so obsolet war, dass er nur Schaden angerichtet hat. Und vergibt sich auf sträfliche Weise der Chance, sich international auf Positives zu berufen. Als nunmehr gemeinsame deutsche Kultur sind auf der Ostseite viele soziale Themen künstlerisch aufgegriffen worden. Der Antifaschismus war ein Grundzug dieser Kunst. Was gibt es da zu distanzieren? Gegen koloniale Unterdrückung, gegen Frauendiskriminierung, gegen Gewaltherrschaft – das waren immer wiederkehrende Anliegen gesamtdeutscher Progressivität.
Es ist höchste Zeit, dass unsere deutsche Kultur ihrem Rang entsprechend im nunmehr so oder so vereinigten Kontext wahrgenommen wird.
Michael Hametner, Deutsche Wechseljahre. Nachdenken über Literatur und Bildende Kunst, Mitteldeutscher Verlag, 224 S., 14 €.