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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine starke Frau

»Das musst du dir mal vor­stel­len!« So begann eine mei­ner Tan­ten immer dann ein Gespräch, wenn etwas sie beschäf­tig­te, das sie total über­rascht hat­te, das ihre Vor­stel­lung zu spren­gen droh­te, eine uner­hör­te Bege­ben­heit, vom hand­fe­sten Ehe­streit in dörf­li­cher Nach­bar­schaft bis zum dro­hen­den Welt­un­ter­gang laut Maya-Kalen­der. Und daher begin­ne auch ich mit dem Satz: »Das müs­sen Sie sich mal vorstellen!«

Ver­su­chen Sie doch ein­mal, sich in fol­gen­de Geschich­te hin­ein­zu­ver­set­zen, die mit einer Mut­ter namens Mary beginnt, die bei der Geburt ihrer Toch­ter starb, die dann eben­falls Mary genannt wur­de und die unse­re Haupt­per­son ist. Mit sieb­zehn­ein­halb Jah­ren brach­te die­se Mary ihr erstes Kind zur Welt, zwei Mona­te zu früh, schon nach weni­gen Tagen starb Töch­ter­chen Cla­ra. Weni­ge Mona­te spä­ter war Mary erneut schwan­ger, und im fol­gen­den Jahr kam Sohn Wil­liam zur Welt. Er starb mit drei Jah­ren. Im Jahr nach Wil­liams Geburt erblick­te erneut ein Töch­ter­chen das Licht der Welt, wie­der­um Cla­ra genannt. Es wur­de nur ein Jahr alt. Im Jahr nach Cla­ras Geburt wur­de Sohn Per­cy Flo­rence gebo­ren. Er über­leb­te als ein­zi­ger die Kind­heit und wur­de 90 Jah­re alt. Per­cy Flo­rence war noch nicht ein­mal drei Jah­re alt, als sein Vater, Marys Ehe­mann, im Mit­tel­meer zusam­men mit einem Freund und dem Schiffs­jun­gen ertrank, als ihr Boot ken­ter­te. Ihre Lei­chen wur­den nach Tagen an den Strand gespült. Freun­de ver­brann­ten den Kör­per des Ehe­manns auf einem Schei­ter­hau­fen am Meer. Einer der Freun­de, mit Mary und ihrer Fami­lie gut bekannt, war ein berühm­ter bri­ti­scher Dich­ter, ein Lord, der von dem Zeit­punkt an nur noch zwei Jah­re zu leben hat­te. Er starb in Grie­chen­land, wo er im Unab­hän­gig­keits­krieg gegen die Osma­nen grie­chi­sche Streit­kräf­te kom­man­dier­te. Erneut ein Schick­sals­schlag in näch­ster Nähe. Zu vie­le gro­ße, per­sön­li­che Ver­lu­ste in kur­zer Fol­ge für ein Men­schen­le­ben, könn­te man mei­nen, und nie­mand wür­de wohl widersprechen.

Aber Mary Shel­ley, so heißt unse­re Prot­ago­ni­stin, war aus ande­rem Holz geschnitzt. Sie mach­te es wie Hein­rich Hei­ne, der unge­fähr zur sel­ben Zeit, als Mary den Unfall­tod des Ehe­manns bekla­gen muss­te, in Ham­burg sein Buch der Lie­der ver­öf­fent­lich­te (1822/​23), von denen eines mit den Zei­len beginnt: »Aus mei­nen gro­ßen Schmer­zen /​ Mach ich die klei­nen Lie­der.« Mary Shel­ley über­wand ihre zwi­schen­zeit­li­chen Depres­si­ons­schü­be, floh ins Schrei­ben, in dem sie auch Trost fand, mach­te aus ihren gro­ßen Schmer­zen Roma­ne, Erzäh­lun­gen, Kurz­ge­schich­ten, Rei­se­be­rich­te, bio­gra­fi­sche Auf­sät­ze. Sie über­leb­te ihren Ehe­mann um 30 Jah­re und starb 1851 mit 53 in ihrer Geburts­stadt London.

Mary war die Toch­ter von Wil­liam God­win, sei­nes Zei­chens Sozi­al­phi­lo­soph und Begrün­der des poli­ti­schen Anar­chis­mus, und der Schrift­stel­le­rin und Femi­ni­stin Mary Woll­stone­craft (»Die Ver­tei­di­gung der Rech­te der Frau«, 1792). Ehe­mann und Vater ihrer Kin­der war Per­cy Byss­he Shel­ley, des­sen Gedicht Wech­sel mit den Zei­len »Des Men­schen Gestern glei­chet nie dem Mor­gen, /​ Und nichts als nur der Wech­sel hat Bestand« gera­de in jüng­ster Zeit als Sinn­spruch in Todes­an­zei­gen Kon­junk­tur hat. Der erwähn­te Freund war kein ande­rer als der auch heu­te noch gele­se­ne bri­ti­sche Dich­ter Lord Byron.

Eben die­sem Dich­ter, von Goe­the als »das größ­te Talent des Jahr­hun­derts« gerühmt, waren Mary God­win und Per­cy Byss­he Shel­ley 1816 in des­sen ange­mie­te­te Vil­la am Gen­fer See nach­ge­reist. In dem kal­ten, nas­sen und dunk­len »Jahr ohne Som­mer« – Nähe­res zu dem Jahr 1816 lesen Sie in der näch­sten Aus­ga­be von Ossietzky – rück­te in dem Haus am See eine klei­ne Künst­ler­run­de eng zusam­men. Man ver­such­te, sich gegen­sei­tig zu unter­hal­ten, erzähl­te sich Schau­er­ge­schich­ten. Mary Shel­ley ent­wickel­te in die­ser düste­ren Atmo­sphä­re die Gedan­ken zu einem Roman, der schon zwei Jah­re spä­ter, 1818, erschien und der die Ein­und­zwan­zig­jäh­ri­ge zum Welt­ruhm füh­ren soll­te: Fran­ken­stein or The Modern Pro­me­theus. Der Ruhm hält an bis in die heu­ti­gen Tage. 2015 wähl­te eine 82-köp­fi­ge inter­na­tio­na­le Jury Fran­ken­stein zu einem der bedeu­tend­sten bri­ti­schen Romane.

Das Buch wur­de zwar zuerst anonym ver­öf­fent­licht, aber wie schnell die Autorin durch die­sen Roman bekannt gewor­den war, zeig­te sich schon weni­ge Jah­re spä­ter. 1826 erschien in Lon­don ihr Roman The Last Man ver­kaufs­för­dernd mit dem Zusatz by the Aut­hor of Fran­ken­stein. Die­ses bemer­kens­wer­te Buch liegt nun erst­mals voll­stän­dig auf Deutsch vor: aus dem Eng­li­schen über­setzt und mit Anmer­kun­gen von Iri­na Phil­ip­pi, durch­ge­se­hen und mit einem Nach­wort von Rebek­ka Roh­le­der und mit einem Essay von Diet­mar Dath.

End­zeit-Roma­ne gibt es vie­le. Und so man­cher wur­de ver­filmt. Ich den­ke an den Roman Das letz­te Ufer von Nevil Shu­te aus dem Jahr 1957, der von »den letz­ten Men­schen« erzählt, die nur noch eine kur­ze Lebens­span­ne vor sich sehen, nach­dem Atom­bom­ben die nörd­li­che Hemi­sphä­re ver­nich­tet haben. Eine ein­zi­ge gro­ße Ankla­ge. Am Ende ist die Erde wie­der wüst und leer. Ich den­ke an den Roman Ich bin Legen­de von Richard Mathe­son aus dem Jahr 1954, auch unter dem Titel Ich, der letz­te Mensch ver­öf­fent­licht und als Der Ome­ga-Mann 1971 mit Charl­ton Heston und als I am Legend 2007 mit Will Smith ver­filmt. Der SF-Roman spielt in den Jah­ren 1976 bis 1979, als eine von Mos­ki­tos über­tra­ge­ne Seu­che die Mensch­heit hinrafft.

Was Shel­leys apo­ka­lyp­ti­schen Roman von die­sen Wer­ken unter­schei­det, sind vor allem die qua­si halb­bio­gra­fi­schen Dar­stel­lun­gen von Per­so­nen aus ihrem Umfeld: Das Schrei­ben war auch Trau­er­ar­beit. Und so kommt es, dass das sich auf lei­sen Soh­len nähern­de Unheil auf den ersten 200 Sei­ten, dem gesam­ten ersten Teil also, außen vor blei­ben muss, bevor das Grau­en dann mit vol­ler, sich stei­gern­der Wucht zuschla­gen kann.

In die­sem ersten Teil stellt Mary die ent­schei­den­den Per­so­nen der Hand­lung vor, vor­an Lio­nel Ver­ney, den spä­te­ren letz­ten Men­schen, eine Figur, die man getrost als auto­bio­gra­fisch bezeich­nen darf: Er ist der Übrig­ge­blie­be­ne, der alles und alle über­lebt hat. Wie Mary Shel­ley. Die Figur des Adri­an, Sohn des letz­ten Königs von Eng­land, steht für ihren toten Ehe­mann. Lord Ray­mond trägt die Züge Lord Byrons. Wie die­ser stirbt Ray­mond in Grie­chen­land wäh­rend eines grie­chisch-osma­ni­schen Krieges.

Wir schrei­ben das Jahr 2089. Der König ist tot, und Eng­land ist eine Repu­blik gewor­den. Die bei­den Kin­der des Königs freun­den sich mit dem Geschwi­ster­paar Lio­nel und Per­di­ta Ver­ney an. Die Bezie­hun­gen inner­halb die­ses sich mit der Zeit erwei­tern­den Zir­kels ste­hen im Mit­tel­punkt des gan­zen ersten Teils und wer­den von Mary teils mit solch glü­hen­den Wor­ten beschrie­ben, als wol­le sie durch inten­si­ve Anru­fung die Toten evo­zie­ren. Eine Über­schwäng­lich­keit, die mir hie und da ein biss­chen zu viel wurde.

Dann aber, im zwei­ten Teil, kippt die Hand­lung in die Apo­ka­lyp­se. Mit­ten im grie­chi­schen Unab­hän­gig­keits­krieg gibt die tür­ki­sche Armee Istan­bul auf, und die Sol­da­ten rufen den Grie­chen zu: »Nehmt es, christ­li­che Hun­de! Nehmt die Palä­ste, die Gär­ten, die Moscheen, die Wohn­stät­ten unse­rer Väter – nehmt mit ihnen die Pest. Die Pest ist die Fein­din, vor der wir flie­hen, wenn sie eure Freun­din ist, so drückt sie an euren Busen. Der Fluch Allahs liegt auf Stam­boul, teilt sein Schicksal.«

Die neu­ar­ti­ge, aus­nahms­los töd­li­che Form der Pest brei­tet sich nach und nach in Euro­pa und Nord­ame­ri­ka aus, sucht die gan­ze Erde heim. Bald herr­schen auch in Eng­land apo­ka­lyp­ti­sche Zustän­de, wo man sich anfangs als Insel­staat dank der Sple­ndid Iso­la­ti­on sicher glaub­te. Kei­ne Maß­nah­me gegen die Pan­de­mie fruch­tet, das Aus­ster­ben der Mensch­heit ist unausweichlich.

Wer heu­te die­ses 200 Jah­re alte Buch zur Hand nimmt, das auch eine ein­zi­ge gro­ße Ele­gie ist, wird sofort an den Ablauf der aktu­el­len Coro­na-Pan­de­mie erin­nert. Aber wenn auch die geschil­der­ten Ereig­nis­se gegen Ende des 21. Jahr­hun­derts spie­len, leb­te die Autorin am Anfang des 19. Jahr­hun­derts, also in einer ande­ren (Geistes-)Welt als der heu­ti­gen. Daher ist die im Buch geschil­der­te Pest­seu­che nicht mit der heu­ti­gen Coro­na-Pan­de­mie ver­gleich­bar. Den­noch gibt es ver­blüf­fen­de Parallelen.

In einem sehr infor­ma­ti­ven Nach­wort schil­dert die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin und durch meh­re­re Ver­öf­fent­li­chun­gen als Shel­ley-Spe­zia­li­stin aus­ge­wie­se­ne Rebek­ka Roh­le­der, die am Semi­nar für Angli­stik und Ame­ri­ka­ni­stik an der Euro­pa-Uni­ver­si­tät Flens­burg arbei­tet, ihre Ein­drücke aus dem Febru­ar und März 2020, als sie sich mit dem Roman beschäftigte:

»Ich fand mich in einer recht merk­wür­di­gen Lage wie­der. [Eine Pan­de­mie kün­dig­te sich in dem Roman] durch Mel­dun­gen über den Aus­bruch einer töd­li­chen Seu­che in einer ent­fern­ten Welt­ge­gend sowie durch das Ein­tref­fen eines Schif­fes an, auf dem die Seu­che aus­ge­bro­chen ist. Die Mel­dun­gen über die Seu­che kom­men […] aus immer mehr Tei­len der Welt und schließ­lich von über­all her. Nie­mand kann sich in Sicher­heit wiegen.«

Sie erin­nert dar­an, dass Anfang 2020 erste Alarm-Mel­dun­gen aus Chi­na kamen, dann rasch von über­all her, und dass in den Nach­rich­ten eben­falls von infi­zier­ten Schiffs­be­sat­zun­gen berich­tet wur­de. In dem Roman wer­den schwer­wie­gen­de glo­ba­le Aus­wir­kun­gen für die Men­schen, die Wirt­schaft, den All­tag geschil­dert, wie sie uns heu­te eben­falls bekannt sind. Lie­fer­ket­ten bre­chen zusam­men, den Schif­fen fehlt die Mann­schaft, und die nah­rungs­er­zeu­gen­den Land­wir­te wer­den selbst hin­ge­rafft. Es ent­ste­hen Sek­ten und Ver­schwö­rungs­theo­rien, deren fal­sche Pro­phe­ten rasch Zulauf erhal­ten. Wie im wirk­li­chen Leben. Kürz­lich schrieb ein Jour­na­list in sei­ner Repor­ta­ge nach dem Besuch des Medi­zin­hi­sto­ri­schen Muse­ums in Ham­burg den tref­fen­den Satz: »Erstaun­lich, wie Seu­chen den immer glei­chen Unsinn heraufbeschwören.«

Der anspruchs­vol­le Essay des Schrift­stel­lers, Jour­na­li­sten (FAZ), Marx- und Hegel-Ken­ners Diet­mar Dath setzt den Schluss­punkt in die­sem bemer­kens­wer­ten Buch. Dath hat ein Fai­ble für die­ses Gen­re und hat mit sei­nem 942 Sei­ten star­ken Buch Nie­ge­schich­te (Matthes und Seitz, Ber­lin 2019) eine Ein­füh­rung in die Theo­rie der Sci­ence-Fic­tion und ande­rer spe­ku­la­ti­ver Lite­ra­tur ver­fasst. Unter der Über­schrift »Das Ein­zel­herz ver­all­ge­mei­nern – Wie Mary Shel­leys Der letz­te Mensch der Epo­che ihr Schick­sal wahr­sagt« befasst er sich mit dem Gedan­ken­ge­bäu­de der Autorin, wodurch sich ihr Buch eben­falls von ande­ren Roma­nen die­ser Gat­tung unterscheidet.

Daths Resü­mee: »Wer den Sinn für [den] Zusam­men­hang [von Wis­sen, poli­ti­scher Ent­schlos­sen­heit zum Kampf gegen natür­li­che und sozia­le Not und der dafür nöti­gen Macht] nicht teilt oder gering­schätzt, steht hilf­los vor dem Lärm, mit dem nöti­ges Wis­sen heu­te zuneh­mend über­tönt wird, und ertrinkt im stu­pi­den Krach von Neo-Eso­te­rik, mono­kau­sa­len Welt­bil­dern des Schwach­sinns, Ver­schwö­rungs­my­then und Het­ze. Mary Shel­leys gro­ßes Buch vom letz­ten Men­schen gehört, weil es Ver­stand und See­le genau dage­gen impft, in die Schu­le, zu der die Moder­ne das gan­ze mensch­li­che Leben gemacht hat.«

 Mary Shel­ley: Der letz­te Mensch, 587 S, Reclam, Dit­zin­gen 2021, 26 €.Zum Nach­le­sen emp­foh­len: »Umbruch und Auf­bruch« in Ossietzky, 2/​2022. Der Text befasst sich mit dem Buch »Die Welt neu begin­nen« von Hel­ge Hes­se über das Vier­tel­jahr­hun­dert zwi­schen 1775 und 1799, in dem Mary Shel­leys Eltern sich ken­nen­lern­ten und Mary gebo­ren wurde.