»Das musst du dir mal vorstellen!« So begann eine meiner Tanten immer dann ein Gespräch, wenn etwas sie beschäftigte, das sie total überrascht hatte, das ihre Vorstellung zu sprengen drohte, eine unerhörte Begebenheit, vom handfesten Ehestreit in dörflicher Nachbarschaft bis zum drohenden Weltuntergang laut Maya-Kalender. Und daher beginne auch ich mit dem Satz: »Das müssen Sie sich mal vorstellen!«
Versuchen Sie doch einmal, sich in folgende Geschichte hineinzuversetzen, die mit einer Mutter namens Mary beginnt, die bei der Geburt ihrer Tochter starb, die dann ebenfalls Mary genannt wurde und die unsere Hauptperson ist. Mit siebzehneinhalb Jahren brachte diese Mary ihr erstes Kind zur Welt, zwei Monate zu früh, schon nach wenigen Tagen starb Töchterchen Clara. Wenige Monate später war Mary erneut schwanger, und im folgenden Jahr kam Sohn William zur Welt. Er starb mit drei Jahren. Im Jahr nach Williams Geburt erblickte erneut ein Töchterchen das Licht der Welt, wiederum Clara genannt. Es wurde nur ein Jahr alt. Im Jahr nach Claras Geburt wurde Sohn Percy Florence geboren. Er überlebte als einziger die Kindheit und wurde 90 Jahre alt. Percy Florence war noch nicht einmal drei Jahre alt, als sein Vater, Marys Ehemann, im Mittelmeer zusammen mit einem Freund und dem Schiffsjungen ertrank, als ihr Boot kenterte. Ihre Leichen wurden nach Tagen an den Strand gespült. Freunde verbrannten den Körper des Ehemanns auf einem Scheiterhaufen am Meer. Einer der Freunde, mit Mary und ihrer Familie gut bekannt, war ein berühmter britischer Dichter, ein Lord, der von dem Zeitpunkt an nur noch zwei Jahre zu leben hatte. Er starb in Griechenland, wo er im Unabhängigkeitskrieg gegen die Osmanen griechische Streitkräfte kommandierte. Erneut ein Schicksalsschlag in nächster Nähe. Zu viele große, persönliche Verluste in kurzer Folge für ein Menschenleben, könnte man meinen, und niemand würde wohl widersprechen.
Aber Mary Shelley, so heißt unsere Protagonistin, war aus anderem Holz geschnitzt. Sie machte es wie Heinrich Heine, der ungefähr zur selben Zeit, als Mary den Unfalltod des Ehemanns beklagen musste, in Hamburg sein Buch der Lieder veröffentlichte (1822/23), von denen eines mit den Zeilen beginnt: »Aus meinen großen Schmerzen / Mach ich die kleinen Lieder.« Mary Shelley überwand ihre zwischenzeitlichen Depressionsschübe, floh ins Schreiben, in dem sie auch Trost fand, machte aus ihren großen Schmerzen Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Reiseberichte, biografische Aufsätze. Sie überlebte ihren Ehemann um 30 Jahre und starb 1851 mit 53 in ihrer Geburtsstadt London.
Mary war die Tochter von William Godwin, seines Zeichens Sozialphilosoph und Begründer des politischen Anarchismus, und der Schriftstellerin und Feministin Mary Wollstonecraft (»Die Verteidigung der Rechte der Frau«, 1792). Ehemann und Vater ihrer Kinder war Percy Bysshe Shelley, dessen Gedicht Wechsel mit den Zeilen »Des Menschen Gestern gleichet nie dem Morgen, / Und nichts als nur der Wechsel hat Bestand« gerade in jüngster Zeit als Sinnspruch in Todesanzeigen Konjunktur hat. Der erwähnte Freund war kein anderer als der auch heute noch gelesene britische Dichter Lord Byron.
Eben diesem Dichter, von Goethe als »das größte Talent des Jahrhunderts« gerühmt, waren Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley 1816 in dessen angemietete Villa am Genfer See nachgereist. In dem kalten, nassen und dunklen »Jahr ohne Sommer« – Näheres zu dem Jahr 1816 lesen Sie in der nächsten Ausgabe von Ossietzky – rückte in dem Haus am See eine kleine Künstlerrunde eng zusammen. Man versuchte, sich gegenseitig zu unterhalten, erzählte sich Schauergeschichten. Mary Shelley entwickelte in dieser düsteren Atmosphäre die Gedanken zu einem Roman, der schon zwei Jahre später, 1818, erschien und der die Einundzwanzigjährige zum Weltruhm führen sollte: Frankenstein or The Modern Prometheus. Der Ruhm hält an bis in die heutigen Tage. 2015 wählte eine 82-köpfige internationale Jury Frankenstein zu einem der bedeutendsten britischen Romane.
Das Buch wurde zwar zuerst anonym veröffentlicht, aber wie schnell die Autorin durch diesen Roman bekannt geworden war, zeigte sich schon wenige Jahre später. 1826 erschien in London ihr Roman The Last Man verkaufsfördernd mit dem Zusatz by the Author of Frankenstein. Dieses bemerkenswerte Buch liegt nun erstmals vollständig auf Deutsch vor: aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Irina Philippi, durchgesehen und mit einem Nachwort von Rebekka Rohleder und mit einem Essay von Dietmar Dath.
Endzeit-Romane gibt es viele. Und so mancher wurde verfilmt. Ich denke an den Roman Das letzte Ufer von Nevil Shute aus dem Jahr 1957, der von »den letzten Menschen« erzählt, die nur noch eine kurze Lebensspanne vor sich sehen, nachdem Atombomben die nördliche Hemisphäre vernichtet haben. Eine einzige große Anklage. Am Ende ist die Erde wieder wüst und leer. Ich denke an den Roman Ich bin Legende von Richard Matheson aus dem Jahr 1954, auch unter dem Titel Ich, der letzte Mensch veröffentlicht und als Der Omega-Mann 1971 mit Charlton Heston und als I am Legend 2007 mit Will Smith verfilmt. Der SF-Roman spielt in den Jahren 1976 bis 1979, als eine von Moskitos übertragene Seuche die Menschheit hinrafft.
Was Shelleys apokalyptischen Roman von diesen Werken unterscheidet, sind vor allem die quasi halbbiografischen Darstellungen von Personen aus ihrem Umfeld: Das Schreiben war auch Trauerarbeit. Und so kommt es, dass das sich auf leisen Sohlen nähernde Unheil auf den ersten 200 Seiten, dem gesamten ersten Teil also, außen vor bleiben muss, bevor das Grauen dann mit voller, sich steigernder Wucht zuschlagen kann.
In diesem ersten Teil stellt Mary die entscheidenden Personen der Handlung vor, voran Lionel Verney, den späteren letzten Menschen, eine Figur, die man getrost als autobiografisch bezeichnen darf: Er ist der Übriggebliebene, der alles und alle überlebt hat. Wie Mary Shelley. Die Figur des Adrian, Sohn des letzten Königs von England, steht für ihren toten Ehemann. Lord Raymond trägt die Züge Lord Byrons. Wie dieser stirbt Raymond in Griechenland während eines griechisch-osmanischen Krieges.
Wir schreiben das Jahr 2089. Der König ist tot, und England ist eine Republik geworden. Die beiden Kinder des Königs freunden sich mit dem Geschwisterpaar Lionel und Perdita Verney an. Die Beziehungen innerhalb dieses sich mit der Zeit erweiternden Zirkels stehen im Mittelpunkt des ganzen ersten Teils und werden von Mary teils mit solch glühenden Worten beschrieben, als wolle sie durch intensive Anrufung die Toten evozieren. Eine Überschwänglichkeit, die mir hie und da ein bisschen zu viel wurde.
Dann aber, im zweiten Teil, kippt die Handlung in die Apokalypse. Mitten im griechischen Unabhängigkeitskrieg gibt die türkische Armee Istanbul auf, und die Soldaten rufen den Griechen zu: »Nehmt es, christliche Hunde! Nehmt die Paläste, die Gärten, die Moscheen, die Wohnstätten unserer Väter – nehmt mit ihnen die Pest. Die Pest ist die Feindin, vor der wir fliehen, wenn sie eure Freundin ist, so drückt sie an euren Busen. Der Fluch Allahs liegt auf Stamboul, teilt sein Schicksal.«
Die neuartige, ausnahmslos tödliche Form der Pest breitet sich nach und nach in Europa und Nordamerika aus, sucht die ganze Erde heim. Bald herrschen auch in England apokalyptische Zustände, wo man sich anfangs als Inselstaat dank der Splendid Isolation sicher glaubte. Keine Maßnahme gegen die Pandemie fruchtet, das Aussterben der Menschheit ist unausweichlich.
Wer heute dieses 200 Jahre alte Buch zur Hand nimmt, das auch eine einzige große Elegie ist, wird sofort an den Ablauf der aktuellen Corona-Pandemie erinnert. Aber wenn auch die geschilderten Ereignisse gegen Ende des 21. Jahrhunderts spielen, lebte die Autorin am Anfang des 19. Jahrhunderts, also in einer anderen (Geistes-)Welt als der heutigen. Daher ist die im Buch geschilderte Pestseuche nicht mit der heutigen Corona-Pandemie vergleichbar. Dennoch gibt es verblüffende Parallelen.
In einem sehr informativen Nachwort schildert die Literaturwissenschaftlerin und durch mehrere Veröffentlichungen als Shelley-Spezialistin ausgewiesene Rebekka Rohleder, die am Seminar für Anglistik und Amerikanistik an der Europa-Universität Flensburg arbeitet, ihre Eindrücke aus dem Februar und März 2020, als sie sich mit dem Roman beschäftigte:
»Ich fand mich in einer recht merkwürdigen Lage wieder. [Eine Pandemie kündigte sich in dem Roman] durch Meldungen über den Ausbruch einer tödlichen Seuche in einer entfernten Weltgegend sowie durch das Eintreffen eines Schiffes an, auf dem die Seuche ausgebrochen ist. Die Meldungen über die Seuche kommen […] aus immer mehr Teilen der Welt und schließlich von überall her. Niemand kann sich in Sicherheit wiegen.«
Sie erinnert daran, dass Anfang 2020 erste Alarm-Meldungen aus China kamen, dann rasch von überall her, und dass in den Nachrichten ebenfalls von infizierten Schiffsbesatzungen berichtet wurde. In dem Roman werden schwerwiegende globale Auswirkungen für die Menschen, die Wirtschaft, den Alltag geschildert, wie sie uns heute ebenfalls bekannt sind. Lieferketten brechen zusammen, den Schiffen fehlt die Mannschaft, und die nahrungserzeugenden Landwirte werden selbst hingerafft. Es entstehen Sekten und Verschwörungstheorien, deren falsche Propheten rasch Zulauf erhalten. Wie im wirklichen Leben. Kürzlich schrieb ein Journalist in seiner Reportage nach dem Besuch des Medizinhistorischen Museums in Hamburg den treffenden Satz: »Erstaunlich, wie Seuchen den immer gleichen Unsinn heraufbeschwören.«
Der anspruchsvolle Essay des Schriftstellers, Journalisten (FAZ), Marx- und Hegel-Kenners Dietmar Dath setzt den Schlusspunkt in diesem bemerkenswerten Buch. Dath hat ein Faible für dieses Genre und hat mit seinem 942 Seiten starken Buch Niegeschichte (Matthes und Seitz, Berlin 2019) eine Einführung in die Theorie der Science-Fiction und anderer spekulativer Literatur verfasst. Unter der Überschrift »Das Einzelherz verallgemeinern – Wie Mary Shelleys Der letzte Mensch der Epoche ihr Schicksal wahrsagt« befasst er sich mit dem Gedankengebäude der Autorin, wodurch sich ihr Buch ebenfalls von anderen Romanen dieser Gattung unterscheidet.
Daths Resümee: »Wer den Sinn für [den] Zusammenhang [von Wissen, politischer Entschlossenheit zum Kampf gegen natürliche und soziale Not und der dafür nötigen Macht] nicht teilt oder geringschätzt, steht hilflos vor dem Lärm, mit dem nötiges Wissen heute zunehmend übertönt wird, und ertrinkt im stupiden Krach von Neo-Esoterik, monokausalen Weltbildern des Schwachsinns, Verschwörungsmythen und Hetze. Mary Shelleys großes Buch vom letzten Menschen gehört, weil es Verstand und Seele genau dagegen impft, in die Schule, zu der die Moderne das ganze menschliche Leben gemacht hat.«
Mary Shelley: Der letzte Mensch, 587 S, Reclam, Ditzingen 2021, 26 €. – Zum Nachlesen empfohlen: »Umbruch und Aufbruch« in Ossietzky, 2/2022. Der Text befasst sich mit dem Buch »Die Welt neu beginnen« von Helge Hesse über das Vierteljahrhundert zwischen 1775 und 1799, in dem Mary Shelleys Eltern sich kennenlernten und Mary geboren wurde.