Als meine Schwester und ich morgens gegen sechs ins Hotel torkeln, sind wir nach einer intensiven Nacht bester Stimmung. Der »Weltenbummler«, in dem wir fast zwölf Stunden geredet und getrunken haben, war uns gleich bei der Ankunft im mecklenburgischen Barth aufgefallen. Schon der Name des Lokals gefiel uns und noch mehr der Hinweis an der Tür, dass es sich um eine Raucherkneipe handelt. Als wir am frühen Abend unser Hotel verlassen, um uns auf den Weg zum »Weltenbummler« zu machen, fragt uns die perfekt manikürte Frau an der Rezeption nach unseren Plänen. Und rät uns entsetzt ab: »Auf keinen Fall, das ist kein Lokal für Menschen wie uns. Die Leute da kommen alle aus der Unterschicht.« Sie empfiehlt stattdessen eine Cocktailbar für Raucher. »Gleich um die Ecke. Sehr schick. Angenehmes Publikum.« Natürlich wählen wir den »Weltenbummler«. Schick brauchen wir nicht.
Meine Schwester und ich gönnen uns einen Kurzurlaub an der Ostsee. Am nächsten Tag wollen wir von Barth auf den Darß. Auf dem Weg zur Kneipe betrachten wir die Wahlplakate. »Für alle Kinder die gleichen Chancen. Von Anfang an. Das ist mir wichtig!« behauptet der SPD-Kandidat. »Heimat braucht Kinder. Keine Homo-Ehe« ruft die NPD. Und auch die AfD setzt auf Wahlwerbung mit den Jüngsten: »Wir gemeinsam! Für unser Land und unsere Kinder.« Seit 1990 hat Barth ein Viertel seiner Einwohner verloren. Und die Zahl der unter 15-jährigen hat sich in Mecklenburg-Vorpommern im gleichen Zeitraum beinah halbiert.
Wir öffnen die Tür zum »Weltenbummler« und betreten einen kleinen menschenleeren Raum: Drei Tische mit rot bezogenen Stühlen, die Wände dekoriert mit Fischernetzen und Plastikfischen. Offenbar der Nichtraucherbereich der Kneipe. Auf der Tür an der gegenüberliegenden Wand klebt ein Logo mit einer qualmenden Zigarette. Jetzt hören wir auch Stimmen aus dem Hinterzimmer. Ein großer runder Tisch ist von einer Gruppe offensichtlich einheimischer Männer voll besetzt, an einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen sitzt einsam und traurig ein arabisch aussehender Gast. Der dritte Tisch ist noch frei. Wir nehmen unsicher Platz. Man sitzt so eng beieinander, dass wir uns fast wie Störenfriede fühlen. Tatsächlich wird es still am großen Tisch. Wir werden gemustert und gleich als Westfrauen erkannt. Das wiederum erkennen wir. Wir bestellen bei der Wirtin zwei Bier, das Gespräch am großen Tisch kommt langsam wieder in Gang.
Eine halbe Stunde später erhebt sich einer der Männer. Wir erkennen erst jetzt, dass er wegen seiner Leibesfülle zwei Stühle besetzt hatte. Kaum ist er durch die Tür, werden meine Schwester und ich nachdrücklich in die Runde gebeten. Zwei Stühle sind ja jetzt frei. »Gern, aber nur«, wir zeigen auf den vermutlichen Araber, »wenn er ebenfalls an den Tisch kommt«. Die Neugierde auf uns siegt über die erkennbare Abwehr gegen den Ausländer. Der aber freut sich über die Einladung. Großes Stühlerücken und schon gibt es Platz für alle.
Meine Schwester und ich werden sofort ausgefragt: Woher wir kommen, was wir beruflich machen, warum wir hier sind? »Wahrscheinlich, um Immobilien zu kaufen«, mutmaßt einer der Männer. Gelächter. »Nach 89 haben sich die Wessis hier doch reihenweise bereichert, die konnten doch machen, was sie wollten.« Was leider wahr ist. »Denkt doch nur mal an die Werften«, ergänzt ein anderer. Tatsächlich. Die Privatisierung der Werften in Mecklenburg-Vorpommern zählt zu den spektakulärsten Korruptions- und Betrugsfällen unter dem Schutzschirm der Treuhand. 1992 übernahm die Bremer Vulkan AG große Teile des ostdeutschen Schiffbaus. 1996 meldete Vulkan Insolvenz an. Fast eine Milliarde Euro Ost-Fördermittel versickerten im Westen. 1990 arbeiteten 34000 Menschen auf den großen Werften in Mecklenburg-Vorpommern, jetzt sind es noch knapp 3000. Vergangenheit, die trostlos in die Gegenwart reicht.
In der ersten Stunde am großen Tisch hören wir vor allem zu. Und lassen keine Bierrunde aus. Das verbindet. Wenn wir einer Meinung zustimmen können, stimmen wir zu; wenn wir über Aussagen und Meinungen erschrocken sind, schauen wir uns nur an und halten den Mund. Nicht gleich die Besserwessis raushängen. Doch dann beginnen wir mit unseren Fragen: Nach den Berufen der Männer, nach ihrem Familienstand und auch danach, wen sie wählen werden. »AfD natürlich« ist die einhellige Antwort.
Jens, Anfang fünfzig, der Wortführer am Tisch, stellt sich stolz als Kapitän vor. Zwischen April und Oktober betreibt er für eine kleine Reederei den Fährverkehr zwischen Barth und dem Ostseebad Zingst. Mark, Ende dreißig, arbeitet auf Abruf und auf der Basis eines 450-Euro-Jobs für einen westdeutschen Betreiber von Ferienwohnungen. Gegen acht erreicht ihn der Anruf: Morgen früh um fünf muss er zum Reinigen von sechs Appartements antreten. Mark lebt in einer Einraumwohnung und zählt immer wieder heimlich sein Geld, ob es noch für ein Bier reicht. Klaus, ein gelernter Maschinenbauer, ist Anfang sechzig und seit 20 Jahren arbeitslos. Ein stiller Mann, der nur ab und zu eine Bemerkung in die Runde wirft: »Uns braucht doch niemand mehr« oder »Denen sind wir doch ganz egal«.
Zu DDR-Zeiten war Barth eine florierende Industriestadt. Große Betriebe wie das VEG Saatzucht Barth, das Faserplattenwerk, das Betonwerk, die Brauerei, die Zuckerrübenfabrik, die Bootswerft, die Fischfabrik oder der VEB Schiffsanlagenbau Barth (wo einst Klaus beschäftigt war) boten Tausenden von Barthern Arbeit. Mittlerweile gibt es alle diese Großbetriebe nicht mehr. Sie sind abgewickelt, liquidiert. Natürlich entstanden einige neue Arbeitsplätze, einige neue Betriebe, aber die Runde hier am Tisch hat davon nicht profitiert. Und wer heute auf die Seiten mit Jobangeboten in Barth guckt, findet vor allem die Suche nach Reinigungskräften, Servicemitarbeitern oder Verkäufern. »Ich habe früher in der Zuckerfabrik gearbeitet«, erzählt Toni, auch Anfang sechzig, »und jetzt wird das Gebäude von einer Investorengruppe aus dem Westen gekauft. Dort soll wohl ein Hotel entstehen. Und Loft-Wohnungen.« Mit dem »f« von Loft bläst Toni seine Verachtung heraus.
Am Tisch herrscht eine Mischung aus tiefer Resignation und diffuser Wut. Wut auf »die da oben«, auf die Westdeutschen, auf die Grünen. »Die verachten uns«, sagt Jens. »Weil wir Fleisch essen oder das falsche Fernsehen gucken. Die halten sich für was Besseres.« Beim genauen Hinhören spürt man die Sehnsucht danach, auf etwas stolz sein zu können. Kevin, Mitte fünfzig, früher eine Art Hilfsarbeiter beim VEG Saatgut und heute Saisonarbeiter beim Tomatenanbau in Barth, bastelt viele Stunden am Tag Flaschenschiffe: »Richtige Kunst. Ich könnte sogar eine Ausstellung damit machen, hat letztens ein Bekannter zu mir gesagt.« Klaus ist Teil der AFD-Nachbarschaftshilfe (»Wir kümmern uns!«). Jens, der Kapitän, trägt seine Arbeitsuniform sogar in der Kneipe und tönt von seinen Reisen nach Thailand: »Die Frauen dort freuen sich auf die deutschen Männer. Wir sind nämlich viel zärtlicher als zum Beispiel die Engländer.« Ein Satz, der kaum zu ertragen ist.
Inzwischen sind meine Schwester und ich Teil der Runde. Wir wagen uns immer mehr aus der Deckung. Kurze Blickkontakte mit der Wirtin, die sich nun auch an den Tisch gesetzt hat. Sie freut sich über unsere Widerworte. Sexreisen nach Thailand sind nicht zu akzeptieren, erklären wir. »Hast Du Angst vor einer Frau, die nicht von Dir abhängig ist«, fragt meine Schwester. Und ich ergänze: »Sex gegen Geld. Das kann Dir doch keine Bestätigung geben.« Die Frage, ob Jens nicht besser in Barth nach einer Freundin suchen wolle, nach einer Frau, die er nicht bezahlen muss, weil sie ihn einfach mag, trifft ins Schwarze. Jens ist geschieden, seine Ex-Ehefrau lebt seit 20 Jahren mit einem anderen Mann im Westen. Wieder eine Wunde, die nicht heilt, weil sie mit Macht offengehalten wird. Weil es oft leichter ist, Opfer zu bleiben, als neuen Mut zu fassen.
Schuld am Elend der Männerrunde im »Weltenbummler« sind nicht nur die Politiker und die Frauen. Schuld sind auch die Ausländer. »Warum?« fragen wir. Die üblichen Behauptungen folgen: Sie klauen den Deutschen die Arbeitsplätze, sie bekommen fürs Nichtstun Geld, sie haben keinen Respekt vor »unseren Frauen«. »Wer fährt denn hier nach Thailand«, frage ich. Und tatsächlich gibt es endlich eine kleine Irritation in der Runde. Und dann verschämtes Gelächter. »Wer von Euch bekommt Hartz IV oder Grundsicherung?«, fragt nun meine Schwester. Alle am Tisch. Mindestens als Aufstocker. »Ihr kriegt also auch Geld fürs Nichtstun!« »Aber wir wollen ja arbeiten.« »Asylbewerber wollen auch arbeiten. Aber sie dürfen nicht. Das ist Gesetz.« »Ach«, sagt Peter, ein Mann um die fünfzig, der ab und zu im Windjammer-Museum in Barth an der Kasse sitzt. »diese Ausländer gehören einfach nicht hierhin.« »Meinst Du auch Tarek?«, frage ich. Längst wissen wir den Namen des arabischen Mannes. Er stammt aus dem Libanon und hat palästinensische Wurzeln. Hier in Deutschland arbeitet Tarek als Hilfs-Leiharbeiter auf Großbaustellen. Mal in Barth, mal in Rostock, mal in Frankfurt/Oder. Gemeldet ist er an der Firmenadresse, eine eigene Wohnung hat er nicht, er schläft zusammen mit anderen Leiharbeitern in irgendwelchen Mehrbettzimmern in der jeweiligen Stadt. Um Integration bemüht, trinkt er mit uns das ein oder andere Bier. »Nein«, sagt Jens, »Tarek ist ja ein netter Kerl.«
Es wird eine sehr lange Nacht. Wir hören viele Geschichten: Anekdoten aus der alten DDR, Erinnerungen an schöne Feste, Erzählungen über Fußballspiele oder Ausflüge mit den Enkeln. Aber auch Geschichten von Scheidungen und von Kindern, die sich entfernt haben; von langen Stunden vor irgendwelchen Türen im Arbeitsamt; von alten Träumen und frischen Demütigungen. Die Männer erzählen über Abschiede von ihren alten Betrieben und der vertrauten Geborgenheit; von immer wieder enttäuschten Hoffnungen und schwindendem Mut; von verlorener Heimat. Sie reden über das lähmende Gefühl, besiegt zu sein – vom Westen, von einem neuen System, einer neuen Sprache. Davon, dass die eigene Biografie nur noch als Lebenslauf des Versagens gilt.
Wir sind längst auf Augenhöhe. Die Männer aus Barth. Tarek, dessen Geschichte wir erfahren haben. Jennifer, die Wirtin, übrigens eine Anhängerin der Freien Wähler. Und wir Westfrauen. Denn auch meine Schwester und ich öffnen uns. Erzählen ebenfalls von Niederlagen, Fehlentscheidungen, Trennungen. Na klar, auch wir kennen Resignation und die diffuse Wut auf die Welt.
»Aber warum wählt Ihr die AfD«, frage ich. »Deren Abgeordnete und Chefs verachten die Demokratie, sie verachten auch Euch. Sie schüren nur Hass, den sie dann als Macht verkaufen. Aber Hass macht nicht stark, sondern schwach.« »Die AFD-Mitglieder«, antwortet Peter zögernd, »die kümmern sich um uns. In der Nachbarschaft. So wie Klaus.« »Sie helfen alten Leuten und gehen für sie einkaufen«, sagt Toni. »Die haben hier in Barth sogar einen Sportplatz gebaut«, ergänzt Jens. »Die verstehen uns, die machen sich nicht über uns lustig«, sagt Mark.
»Warum wählt Ihr nicht die Linke?«, fragt meine Schwester. »Die kämpfen doch wirklich für soziale Gerechtigkeit.« Erst großes Schweigen, dann die kollektive Suche nach Worten. Schließlich stellt sich heraus, dass die Linken in Barth nicht als präsent empfunden werden, dass sie angeblich kein Ohr mehr haben für die alltäglichen Nöte. »Die kümmern sich neuerdings um Sachen, mit denen wir nichts anfangen können.« »Denen geht es doch auch nur noch um Feminismus und Rauchverbote und den angeblichen Rassismus.« »Und sie lassen kein gutes Haar mehr an der DDR. Als müsse man sich als DDR-Bürger schämen.«
Dass die vielen generellen Rauchverbote unsere Grundrechte verletzen, darüber sind wir uns mitten im Zigarettenqualm sofort einig. »Aber Rassismus«, sage ich, »den findet Ihr doch auch scheiße. Nämlich dann, wenn er sich gegen Euch richtet. Wenn Euch irgendwelche arroganten Wessis pauschal für stasiverseucht oder unfähig halten.« »Und den Feminismus«, argumentiert meine Schwester schlau, »habt Ihr doch in der DDR erfunden. Noch vor Alice Schwarzer.« »Es war eben doch nicht alles gut in der DDR«, brummt Klaus – und wir lachen und lachen.
Morgens um sechs, als die Wirtin uns alle energisch vor die Tür setzt, sind wir natürlich keine Freunde fürs Leben geworden. Aber wir sind uns nahe gekommen, weil wir uns in dieser Nacht jenseits der alles beherrschenden Vorurteile und Gräben und Opfer-Konkurrenzen begegnet sind; jenseits von Ost und West, von Minderheit oder Mehrheit, von »richtig« oder »falsch«, von links oder rechts. Im Hinterzimmer des »Weltenbummlers« haben wir für ein paar Stunden das gesellschaftliche Dauergeschrei der massenhaft auftrumpfenden Rechthaber*innen nicht hören müssen. Wir konnten selbst denken. Und hinfühlen. Wer Menschen erreichen will, muss ihnen zuhören.
Am nächsten Mittag haben meine Schwester und ich einen stattlichen Kater. Von Kopfschmerzen und Frösteln geplagt, sind wir nicht mehr so sicher, dass wir alle AfD-Wähler aus dem »Weltenbummler« quasi über Nacht zur Wahl einer eher erträglichen Partei bekehrt haben. Aber wir sind sicher, dass sich hier und da eine Tür geöffnet hat für andere Gedanken oder Blickwinkel. So wie bei uns beiden.