1979, in einer kurzen »Auskunft« nach ihrer Aufnahme stellte sich Christa Wolf den Mitgliedern der »Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« in Darmstadt vor: »Heimatsuche kann man aus häufigem Ortswechsel sicher herauslesen; aber vor allem: Da war eine große Neugier, eine starke aktive Anteilnahme an dem Unternehmen einer Gesellschaft, mit den Eigentumsverhältnissen ›das Leben‹ zu ändern. Es schien uns – vielen meiner Generation – ändernswert, und das scheint es mir heute noch. (…) Mir scheint, daß der anstrengende, schmerzhafte Versuch, nicht zu Vereinbarendes miteinander zu vereinbaren, seit langem schon, und bis heute, eine Wurzel für den Zwang zum Schreiben ist. So entsteht – entstand – bei mir Bindung, als ein widersprüchlicher Prozeß; so – aus Übereinstimmung und Reibung, aus Hoffnung und Konflikt – entstanden die Bücher, die ich bisher geschrieben habe.«
Besser kann man es nicht erklären, und weil sie keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik gesehen hat, kann man getrost die jetzt erschienenen drei Bände »Sämtliche Reden und Essays«, herausgegeben von Sonja Hilzinger, unter dieser Warte betrachten und bestätigen: Aus Übereinstimmung und Reibung, aus Hoffnung und Konflikt wurden diese Texte geschaffen, 1800 Seiten! Ein eigenes Lebenswerk neben den bekannten Romanen.
Beim Wieder-Lesen und Blättern wird mir bewusst, wie sehr sie fehlt, aber auch, wie sich das Leben verändert hat und wie anders Schriftsteller heute sind. Fast seismografisch reagierte sie auf die Zeichen der Zeit, mischte sich ein – auf ihre Art, die oft als »essayistisch« bezeichnet wurde. Seit »Nachdenken über Christa T.«, ja schon erkennbar im »Geteilten Himmel«, vervollkommnete sie diese Methode: »Die Gangart nicht gleichmäßig, oft zögernd, stockend, Rückwege eingeschlossen. (…) Autobiografisches Schreiben muß, jedenfalls in unserer Zeit, Selbsterforschung sein, was heißt, in die Untiefen der eigenen Erinnerung abzutauchen, Schmerz und Scham zu erfahren und die Funde, die man in die Bewußtseinshelle heraufbringt, in ihrer Authentizität immer wieder in Frage zu stellen.«
Selten hob sie ab in philosophische Sphären, sie blieb im Irdischen, wenn sie in ihren Texten mitteilte, wo sie gerade schrieb, wer sie angeregt hat, selbst, wie das Wetter gerade war. In ihren Vorlesungen zu »Kassandra« war es eine Griechenlandreise, in die sie die ästhetischen und politischen Probleme einbettete. In den Texten an und über die Freunde ist der Wein, der gemeinsam getrunken worden war, genauso wichtig wie das Essen, das »G.« ihnen zu Ehren gekocht hatte. Schreiben ist für sie eine »heikle Tätigkeit«, sie schreibt nicht aus Lust, gar aus Spaß, sondern aus dem Gewissenszwang, den sie sich selber auferlegt. Und Schmerz? Ja, auch Schmerz über Uneingelöstes teilt sich mit. So entstand der »Christa-Wolf-Sound«, von Jüngeren, beispielsweise Thomas Brussig, belästert, aber von vielen – Briefe bezeugen es – bewundert.
So wurde/war sie eine Instanz. »Erinnerung« und »Gewissen« sind Hauptwörter, und nie ging es um Literatur oder Kunst allein. »Leben« im umfassenden Sinn wurde befragt, sei es das kleinste Detail in Sachen Kindererziehung oder die große Politik. Wie engagiert trat sie für – auch einseitige – Abrüstung ein und wie aufmerksam und sensibel reagierte sie, wenn es um Männer und Frauen ging! Dabei mischte sie sich ein in Sachen, die Schriftsteller lieber anderen – der Wissenschaft – überließen, sie schrieb unter anderem über Krankheiten, Genetik und Atomphysik. Über Kassandras und Medeas wusste sie besser Bescheid als die Spezialisten.
Die Texte sind chronologisch geordnet mit jeweils einem Nachwort der Herausgeberin Sonja Hilzinger. Darin geht sie ein auf die dominierenden Themen in den verschiedenen Jahren. Im ersten Band (1961 – 1980) behandelt sie den Prozess der Selbstfindung als Autorin. Wesentlich dafür war zweifellos die Annäherung an Ingeborg Bachmann und vor allem der Essay »Lesen und Schreiben« (1968). Hier finden sich die grundsätzlichen Positionen, die für Christa Wolfs Literaturverständnis wesentlich wurden. So fragt sie, welche Bedeutung Literatur im Leben des Menschen habe und stellt sich ein Schreckensszenario von einer Menschenwelt ohne Wissen von Märchen und Sagen, ohne die Kenntnis von Weltliteratur, ohne Lieder vor. So eine Welt ohne tiefe Regungen und eine humane Grundsubstanz war damals, da man noch an Zukunft und eine progressive Entwicklung glaubte, geradezu undenk- und unvorstellbar. Literatur stößt in Tiefen und Untiefen, sie sollte – so meinte sie – gar unverfilmbar sein, wobei doch Konrad Wolfs »Der geteilte Himmel« (1964) ein großer Erfolg wurde und es eine Zeit gab, in der sie und Gerhard Wolf vor allem Drehbücher schrieben.
Im zweiten Band (1981-1990) wird die zunehmende Auseinandersetzung mit der Weltlage und die kritische Reflektion der eigenen Gesellschaft erkennbar und dominierend. Manchmal unterscheidet sich ihr Text kaum von denen von Politikern, und so sahen sie und ihre Kollegen sich auch, wenn sie auf internationalen Foren Verständigung, Frieden und Abrüstung einklagten. Der Gedanke, das sei nicht ihre Sache, kam gar nicht auf, schien es doch darum zu gehen, die Welt zu retten. Das haben sie zwar nicht erreicht, hatten aber doch wesentlichen Anteil daran, dass es eine kurze Zeit der Hoffnung für uns gab. Christa Wolf geriet »in den Strudel von Versammlungen, Beratungen, Resolutionen, Meetings, Verlautbarungen, Demonstrationen, in denen wir, überfordert natürlich, versuchen mußten, die Übel des alten Systems mit aller Schärfe zu benennen, aufzudecken und doch gleichzeitig Züge an uns selbst und den anderen zu finden und zu entwickeln, die uns weiterhelfen konnten.«
Christa Wolf beobachtete die Entwicklung genau und sah schnell die Schwachstellen. Nicht leicht dabei war für sie die Erfahrung, nicht gewollt zu sein, auch verleumdet zu werden. Noch schwerer für sie eine vergessene IM-Akte aus frühen Jahren. »Es gibt, lese ich, ein Menschenrecht auf Irrtum. Gibt es ein Menschenrecht auf eine IM-Akte?«, schreibt sie in einem verzweifelten Brief-Gedicht an den Freund Volker Braun.
Mehr noch als früher widmet sie sich den Freunden (allein, wie oft redete sie – ob bei Lebzeiten oder nach deren Tod – mit oder über die Mentorin und Freundin Anna Seghers!) Wenn sie 2009 an Adolf Muschg schreibt: »Die Welt will nicht nach unseren Vorstellungen laufen, nicht wahr?«, blieb sie doch immer die Hellsichtige und die Warnerin: »Die absurde Lage, in der wir uns befinden, ist es ja, daß wir von den zerstörerischen Mächten abhängig sind; daß wir mit ihnen in einem Boot, richtiger: in einem Kriegsschiff sitzen und ihr Untergang uns mit hinabreißen würde. (…) Die große Frage ist, ob die Kräfte, die Alternativen schaffen, schnell genug wachsen können.« (2007) Es sieht leider nach wie vor nicht danach aus.
Christa Wolf: Essays und Reden, hrsg. von Sonja Hilzinger, Suhrkamp, 1800 S., 36 €.