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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine geheimnisvolle Schriftstellerin

»Sie war nicht nett.« So lau­te­te der erste Satz der monu­men­ta­len Bio­gra­fie »Die talen­tier­te Miss Highsmith« (2009) von Joan Schen­kar. Wahr­lich, nicht sehr schmei­chel­haft für die ame­ri­ka­ni­sche Kri­mi­nal­schrift­stel­le­rin Patri­cia Highsmith, die als eine der geheim­nis­voll­sten, meist­be­wun­der­ten und meist­ver­film­ten Autorin­nen der Welt gilt. Zwan­zig Roma­ne und meh­re­re Bän­de mit Kurz­ge­schich­ten hat­te sie zu Leb­zei­ten publi­ziert, und bis heu­te gibt es stän­dig Neuauflagen.

Am 19. Janu­ar 1921, vor hun­dert Jah­ren also, in Fort Worth/​Texas gebo­ren, wuchs sie in Texas und New York auf. Mit neun Jah­ren ent­deck­te sie in der Biblio­thek der Eltern ein psych­ia­tri­sches Lehr­buch mit Fall­stu­di­en über Klep­to­ma­nen und Seri­en­mör­der, das zum Lieb­lings­buch des früh­rei­fen, oft allein­ge­las­se­nen Mäd­chens wur­de. Es weck­te bereits im Kin­des­al­ter ihr Inter­es­se an den Abgrün­den der mensch­li­chen See­le. Zwi­schen 1938 und 1942 stu­dier­te Highsmith am Bar­nard Col­lege der Colum­bia Uni­ver­si­ty Eng­lisch, Latein, Grie­chisch und Zoo­lo­gie. Hier gab sie eine Zeit­schrift her­aus, in der sie u. a. ihre eige­nen Geschich­ten ver­öf­fent­lich­te. Nach dem Stu­di­um nahm die 21-jäh­ri­ge pro­mo­vier­te Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin einen Job als Comic­tex­te­rin an. Mit ihrem Erst­lings-Roman »Stran­gers on a Train« (1950, dt. »Zwei Frem­de im Zug«) hat­te sie zunächst wenig Glück, denn er war zuvor von sechs Ver­la­gen abge­lehnt wor­den. Aber die Hitch­cock-Ver­fil­mung nach einer Dreh­buch­be­ar­bei­tung von Ray­mond Chand­ler ein Jahr spä­ter mach­te Highsmith dann über Nacht weltberühmt.

Mit ihrem 1952 unter Pseud­onym ver­öf­fent­lich­ten Roman »The Pri­ce of Salt« (dt. »Salz und sein Preis«) rühr­te Highsmith an eines der größ­ten gesell­schaft­li­chen Tabu­the­men ihrer Zeit: Sie schil­der­te die les­bi­sche Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen einer jun­gen Ver­käu­fe­rin und einer Kun­din. Hät­te Highsmith den Roman unter ihrem eige­nen Namen ver­öf­fent­licht, wäre ihre Schrift­stel­ler­kar­rie­re durch den Skan­dal rui­niert gewe­sen. Das Buch erfuhr jedoch bald eine Auf­la­ge in Mil­lio­nen­hö­he und war für vie­le jun­ge Frau­en der Anstoß, sich zu ihrer Nei­gung zu beken­nen. Es war übri­gens Highsmit­hs ein­zi­ger Roman, in dem sie ohne kit­schi­ge Gefühls­du­se­lei die erfüll­te Lie­be als Glück beschreibt. Erst mit der Neu­aus­ga­be 1984 unter dem Titel »Carol« gab sich Highsmith als Autorin zu erken­nen. Sie selbst hat­te eine Viel­zahl von Bezie­hun­gen zu Frau­en, die meist jedoch nach kur­zer Zeit in einem emo­tio­na­len Fias­ko endeten.

Mit »The Talen­ted Mr. Ripley« (1955, dt. »Der talen­tier­te Mr. Ripley«) erschloss Highsmith dann dem Kri­mi­nal­ro­man neue Dimen­sio­nen. Sie wich vom tra­di­tio­nel­len Gat­tungs­sche­ma ab: Im Mit­tel­punkt stand nicht die Auf­klä­rung des Ver­bre­chens, son­dern der Täter, der kalt­blü­tig sei­nen Freund ermor­det, um des­sen Iden­ti­tät zu über­neh­men. Der ele­gan­te Tom Ripley, der kei­ner­lei Schuld­ge­füh­le ver­spürt, ist gera­de­zu char­mant und sym­pa­thisch; der Leser kann kaum anders, als mit dem Prot­ago­ni­sten mit zu fie­bern. Mit dem Buch gelang Highsmith eine sen­si­ble psy­cho­lo­gi­sche Stu­die über eine Ver­bre­cher­kar­rie­re. Sie habe das »Gespür für Gut und Böse« ver­lo­ren, schrieb sie in ihr Notiz­buch. Der Roman wur­de bereits 1960 ver­filmt (»Nur die Son­ne war Zeu­ge«) mit Alan Delon in der Haupt­rol­le. Bis 1991 ließ Highsmith noch vier wei­te­re Roma­ne mit dem skru­pel­lo­sen Ripley fol­gen und schuf damit eine der belieb­te­sten Romanfiguren.

Da Highsmith in den USA nur als Kri­mi­au­to­rin gese­hen wur­de, über­sie­del­te sie 1963 nach Euro­pa, wo man sie als Lite­ra­tin wür­dig­te. Zunächst wech­sel­te sie häu­fig ihren Wohn­ort, leb­te in Süd­ita­li­en, Eng­land und Frank­reich, ehe sie sich schließ­lich in der Schweiz nie­der­ließ. Die Jah­re zwi­schen 1957 und 1977 waren die pro­duk­tiv­ste Pha­se in ihrem Schaf­fen, neue Roma­ne ent­stan­den fast im Jah­res­takt – von »Deep Water« (dt. »Stil­le Was­ser sind tief«) bis zu »Edith’s Dia­ry« (dt. »Ediths Tage­buch«). Wie bei den »Ripley«-Romanen stan­den auch hier meist die psy­cho­lo­gi­schen Umstän­de im Mit­tel­punkt, wel­che Men­schen zu Mör­dern machen. Die Täter gera­ten in zuneh­mend absur­de Ver­ket­tun­gen, sodass ihnen nur noch das Mor­den als Aus­weg und letz­ter Ver­zweif­lungs­schritt bleibt. Am Schluss kommt der Täter jedoch meist davon. Ähn­li­che Täter-Opfer-Kon­stel­la­tio­nen fin­den sich auch häu­fig in ihren Erzäh­lun­gen, die in zahl­rei­chen Aus­wahl­bän­den erschie­nen sind. Ihr ein­zig­ar­ti­ges Werk – häu­fig als »Highsmith-Coun­try« bezeich­net – ist eine eige­ne Welt, in der Lie­be, Mord und Tot­schlag irgend­wie zusam­men­ge­hö­ren. 1991 war Highsmith sogar Kan­di­da­tin für den Literaturnobelpreis.

Nach dem jahr­zehn­te­lan­gen Umher­zie­hen durch ver­schie­de­ne Län­der ver­brach­te Highsmith ihre letz­ten Lebens­jah­re in der Tes­si­ner Berg­welt, in einem bun­ker­ar­ti­gen Haus, das spe­zi­ell nach ihren Ent­wür­fen erbaut wur­de. Hier ver­kroch sich die öffent­lich­keits­scheue Autorin regel­recht, nur umge­ben von Kat­zen und Schnecken, deren Zwei­ge­schlecht­lich­keit sie fas­zi­nier­te. Tie­re waren ihr lie­ber als Men­schen. Das Ere­mi­ten­da­sein war für ihre Fan­ta­sie för­der­li­cher als Gesell­schaft. Patri­cia Highsmith, die, wie sie ein­mal beton­te, nie über ihren Platz in der Lite­ra­tur nach­ge­dacht hat, son­dern eher eine Enter­tai­ne­rin sein woll­te, starb am 4. Febru­ar 1995 in Locarno.

Die ersten deut­schen Über­set­zun­gen ihrer Bücher erschie­nen erst Anfang der 1960er Jah­re im Rowohlt Ver­lag. Seit 1980 ver­treibt der Zür­cher Dio­ge­nes Ver­lag ihre Roma­ne und besitzt seit 1993 die Welt­rech­te an ihrem Gesamt­werk. Zum 100. Geburts­tag von Patri­cia Highsmith hat der Ver­lag ein wah­res Feu­er­werk an Neu­aus­ga­ben gezün­det. Den Auf­takt bil­de­te der Band »Ladies« mit frü­hen Sto­ries, die damals nur ver­streut in Schul- und Frau­en­ma­ga­zi­nen erschie­nen waren. Im Novem­ber und Dezem­ber 2020 folg­ten Neu­edi­tio­nen (im neu­en Out­fit) von sechs Roma­nen (»Tie­fe Was­ser«, »Der Schrei der Eule«, »Ediths Tage­buch«, »Der süße Wahn«, »Salz und sein Preis« und »Elsies Lebens­lust«), in denen Frau­en eine Haupt­rol­le spie­len. Abschluss und Höhe­punkt im Herbst 2021 wird die Aus­ga­be ihrer Tage­bü­cher sein, die welt­weit erst­mals ver­öf­fent­licht wer­den. In 56 Notiz­bü­chern (ins­ge­samt rund 8.000 Sei­ten), die erst nach ihrem Tod in einem Wäsche­schrank ent­deckt wor­den waren, hat­te Patri­cia Highsmith ihr Leben von den jun­gen Jah­ren als Stu­den­tin bis zu ihrem Tod 1995 festgehalten.