Als in Berlin im Herbst 1989 die Mauer fiel und es zu den ersten schüchternen Kontaktversuchen zwischen den Wissenschaftlerkollegen in Ost- und Westberlin kam, war es bei denjenigen, die sich in irgendeiner Hinsicht mit Afrika befassten, nicht anders. Immerhin gab es in der heutigen deutschen Hauptstadt damals auf beiden Seiten der Mauer Linguisten, Ethnographen und Ethnologen, Entwicklungssoziologen, Afrika- und Kolonialhistoriker, Wirtschaftswissenschaftler und Geologen, auf Afrika bezogene Archäologen, Politikwissenschaftler, Geografen, Religions- und Missionswissenschaftler, Landwirtschaftsexperten und Vertreter vieler anderer Disziplinen, die die mannigfachen Probleme des afrikanischen Kontinents als Forschungsthema bearbeiteten.
Es kam zu ersten persönlichen Kontakten, die zum Teil in Teams eine Fortsetzung fanden. Dabei konnte festgestellt werden, dass – wie es einmal der Direktor des Afrika-Instituts in Hamburg mir gegenüber äußerte – man im Westen eher wüsste, was die Kollegen in Japan für afrikabezogene Forschungsthemen verfolgten, als die »anderen Deutschen« östlich der Elbe. Das konnte man bei solchen Zusammentreffen der nun staatlich vereinten Vertreter der afrikawissenschaftlichen Disziplinen in Berlin bestätigt finden.
Die meisten der Ostberliner Afrikawissenschaftler hatten vor dem Mauerfall es wenigstens versucht, zu verfolgen, was die Kollegen auf der anderen Seite der Mauer forschten und publizierten. Bei den Besuchen in Westberliner Bibliotheken nutzen viele sogar entgegen den Direktiven die Gelegenheit, um Kollegen von der anderen Seite der Mauer in ihren Institutionen aufzusuchen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Übrigens gab es mehr »terminierte akademische Mauergänger«, als gemeinhin angenommen wird, denn die DDR verfügte nicht über die Devisen, um in allen Disziplinen auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung zu bleiben, sodass relativ viele Ostberliner Wissenschaftler das Privileg genossen, in Westberliner Bibliotheken arbeiten zu können.
In umgekehrter Richtung gab es solche Kontaktversuche kaum. Mag es daran gelegen haben, wie der Westberliner Nestor der Afrika-Politikwissenschaften Franz Ansprenger in einem Rundtischgespräch mit ostdeutschen Afrikawissenschaftlern nach der deutschen Vereinigung zu deren großen Erstaunen mitteilte, dass auch »wir (…) als Beamte (…), wenn wir aus West-Berlin in Ostblockstaaten, natürlich auch in die DDR, fuhren, darüber berichten« sollten? Einige Kollegen, vor allem von der Freien Universität, stellten ihre eigene Ignoranz der ostdeutschen Afrikaforschungen mit einigem Staunen bei Kaffee- oder Bierrunden fest, wäre für sie doch so eine »Kontaktaufnahme« dennoch ungleich komplikationsloser gewesen als für Berliner Kollegen aus dem Osten. Nachdem dies festgestellt worden war, entschieden sich einige der jüngeren Wissenschaftler aus beiden Teilen Berlins, dass man sich nicht nur persönlich besser kennenlernen sollte, sondern ebenso die Forschungsthemen aller Berliner Kollegen. Es wurde eine »Ringvorlesung« zum Thema »Afrika in historischer Perspektive« ins Leben gerufen, die an der Humboldt-Universität stattfand und an der jeder in Berlin ansässige Afrikawissenschaftler ein oder zwei Vorträge zu seinem konkreten – mehr oder minder populär verpackten – Arbeits- und Forschungsgebiet halten konnte. Die Idee fand an allen Universitäten, Hoch- und Fachschulen Berlins sowie an dortigen relevanten außeruniversitären Instituten großes Interesse; und zwar so stark, dass zuweilen kurzfristig in größere Vorlesungssäle umgezogen werden musste. Damals, also in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, hatten in der deutschen Hauptstadt noch so viele Afrikawissenschaftler gearbeitet, dass vier Semester lang Vorlesungen durchgeführt werden konnten. Heute hätte man auf diese Weise vermutlich gerade einmal ein Semester lang für so ein Projekt Berliner Personal zur Verfügung.
Eine der Vortragenden in unserer Afrika-Vorlesungsreihe war die Ostberliner »Kirchenfrau« Elisabeth Adler, die zumindest den Historikern, Politik- und Missionswissenschaftlern bekannt war. Sie sprach über »Christlichen Widerstand gegen das Apartheidsystem in Südafrika von 1948 bis zur Gegenwart«. Insbesondere ihre in der DDR erschienenen Bücher, so »Wie lange noch?« (1982) und die Biografie von Desmond Tutu (1985) wurden auch von nicht religiös gebundenen Afrikawissenschaftlern in Ost und West geschätzt.
Die durch praktische Beispiele auszeichnende Vorlesung von Elisabeth Adler hatte besonders den Studenten sehr gefallen, wovon die anschließenden Diskussionen Zeugnis ablegten. Beim darauffolgenden Abendessen mit den Organisatoren und weiteren Kollegen teilte sie mit, dass dies die erste Einladung zu einer Vorlesung an einer ostdeutschen Universität gewesen sei. Warum dies so gewesen ist, darüber mutmaßte sie nicht. Aus heutiger Sicht ist dies schier unverständlich.
Das geschilderte Ereignis blieb lange Zeit meine einprägsamste Erinnerung an Frau Adler. Bis nun das hier vorzustellende Buch erschien, welches Einblicke in Leben und Wirken von ihr erlaubt.
Nach ihrem beruflichen Start als Reisesekretärin in der Geschäftsstelle der Berliner Studentengemeinde, wo sie ihre ersten internationalen Kontakte knüpfen konnte, begann im Jahre 1956 ihre Tätigkeit als Studienleiterin in der Evangelischen Akademie von Ostberlin. Drei Jahre später wurde sie Leiterin des Europa-Referats des Christlichen Studenten-Weltbundes in Genf. Weitere Funktionen und Mitgliedschaften in Institutionen der ökumenischen Bewegung folgten. Ab 1967 war sie Leiterin der inzwischen verselbständigten Evangelischen Akademie im Osten Berlins. Wie auch schon zuvor, engagierte sie sich in dieser Funktion verstärkt für die kirchliche Solidaritätsarbeit vor allem mit den im Süden Afrikas agierenden Befreiungsorganisationen ANC und SWAPO. Ihr unermüdliches Engagement gegen Rassismus und Apartheid blieb zeitlebens eines ihrer wichtigsten Anliegen als Christin. Dafür erntete sie oftmals Kritik von einigen westdeutschen Kirchenfunktionären, wie aus dem vorzustellenden Buch hervorgeht.
Durch ihr Eintreten für die Menschenrechte wurde ihr vor allem Anerkennung von den Bewohnern des globalen Südens sowie von denjenigen, die an ihrer Seite standen, entgegengebracht. Und die Geschichte hat Elisabeth Adler Recht gegeben, als nach der Beendigung des Ost-West-Konflikts im Süden Afrikas der ANC-Führer Nelson Mandela freigelassen wurde und er und seine zur Partei gewandelte Organisation die ersten freien Wahlen in Südafrika gewannen. Eine andere, heute nicht mehr zu beantwortende Frage ist, wie sie auf die gegenwärtige Entwicklung in Südafrika reagiert hätte, wo sich eine zum Teil außerordentlich korrupte schwarze Elite auf Kosten der Masse der Bevölkerung bereichert.
Nicht alles, was Elisabeth Adler im Laufe ihres Lebens geschrieben hat, ist auch zeitgleich veröffentlicht worden. Diese und andere Schriftstücke, die eigentlich nicht für den Druck vorgesehen waren, verdienen es, der Nachwelt zur Kenntnis gegeben und bewahrt zu werden. Aus solchen Dokumenten besteht das vorzustellende Buch. Selbst konnte sie diese Arbeit nicht mehr leisten. Statt ihrer haben sich ehemalige Wegbegleiter dieser Aufgabe gestellt und entsprechendes Material gesammelt, welches aus dem schriftlichen Nachlass der Protagonistin stammt und nun eine Art »Elisabeth-Adler-Kompendium« bildet, gemeinsam mit Dokumenten, die in Archiven und im Privatbesitz gefunden worden sind, sowie Artikeln aus Zeitungen und Zeitschriften. Diese Materialien vermitteln überzeugende Einblicke in die Gedanken, die Arbeit und das Wirken einer bemerkenswerten Frau, die sowohl in der Geschichte der weltweiten Ökumene als auch in der Kirchengeschichte der DDR sichtbare Spuren hinterlassen hat. Richtig heißt es auf dem Cover des Buches: »In ihrem Wirken spiegelt sich die weltweite Geschichte des Ökumenischen Rates der Kirchen ebenso wider wie die Geschichte der Evangelischen Kirchen in der DDR.«
Für den Rezensenten steht, wie wohl für nicht wenige Leser aus den ostdeutschen Bundesländern, neben ihrem Wirken in der ökumenischen Bewegung der Verdienst Adlers im Vordergrund, die Christen in der DDR ermutigt zu haben, sich für die »Kirche im Sozialismus« zu engagieren. Dies wird noch einmal sehr deutlich in ihrem letzten Interview, welches sie Günter Krusche kurz vor ihrem Tod gab und das nun hier als letztes von etwa zwei Dutzend Dokumenten zum Abdruck gelangt ist. Den Herausgebern ist insgesamt gelungen, was die Einleitung des Buches verspricht: »Ihr Leben als Bürgerin der DDR und ihr solidarisches Engagement in dieser Gesellschaft« (S. 12) spiegeln sich in den hier präsentierten Dokumenten wider.
Elisabeth Adler verstarb am 15. Januar 1997. Die Herausgeber ließen sich nach eigenen Worten in der Einleitung von der Überzeugung leiten, dass Erinnerung unverzichtbar ist, um Zukunft zu gestalten, und möchten deshalb, dass Elisabeth Adlers Leben und Denken nicht vergessen wird. Sie haben dafür einen wertvollen Beitrag geleistet.
Freunde des Hendrik-Kraemer-Haus e. V. (Hrsg.): »… dass du wieder jung wirst wie ein Adler«. Texte von Elisabeth Adler aus Akademie, Ökumene und kirchliche Praxis, Erev-Rav Verlag, Woltersburger Mühle 2022.