Am 15.02.1909, vor mehr als 135 Jahren erschien in Die Fackel (Doppelnummer 272/273 vom 15.02.1909), herausgegeben von Karl Kraus, der meine armselige SprechSchreibstellerei nun schon Jahrzehnte begleitet, der Text »Das Ehrenkreuz«. Karl Kraus der viele Lesungen, auch in Berlin, gehalten hat, ist mit diesem Text als O-Ton zu hören. Keine 300 haben das bisher getan, bei YouTube.
Der Text dieser Gerichtsreportage aus dem Jahre 1909 endet so: »Gibt aber ein Gast einem Mädchen statt zwanzig Kronen ein Ehrenkreuz, so darf sie das Ehrenkreuz nicht tragen, oder muss die zwanzig Kronen dem Gericht geben. Denn die Justiz ist eine Hure, die sich nicht blitzen lässt und selbst von der Armut den Schandlohn einhebt!« In der komplett digitalisierten Fackel lassen sich noch weitere Texte von Karl Kraus lesen, die sich, in herausragendem Stil, kritisch mit der Justiz und ihrer oft nicht ausgeübten Pflicht, Recht von Unrecht zu unterscheiden, auseinandersetzen.
Sich mit diesen Texten zu beschäftigen, lohnt sich schon deswegen, weil es jetzt darum geht, ein Buch hinzuweisen, das unbedingt eine weite Verbreitung finden sollte, damit die Justiz keine Hure bleibt. In einer sich »liberal« nennenden Tageszeitung aus Österreich heißt es zu diesem Buch: »Ein Richter will die Linke aus dem Schlaf rütteln!« Gäbe es im Land der Burenwurst oder im Land der Currywurst eine schlafende Linke, na gut, das Buch wäre sicher sogar mehr als ein Wecker. Aber bis auf die zweitgrößte Stadt Österreichs, Graz, findet man kaum schlafende oder nichtschlafende Linke, und in Deutschland kriecht diese schlafend einer Sozialdemokratie in den Arsch, dass Bebel im Grab randalieren müsste.
Der, der der »Wecker« der Linken sein soll, heißt Oliver Scheiber und hat das Buch »MUT zum RECHT« geschrieben. Oliver Scheiber ist im Wiener Gemeindebezirk Meidling Bezirksgerichtsvorsteher. Zwei Jahre war er in Brüssel Berater der Vertretung Österreichs in Justizfragen, und er ist Experte für den Europarat und die EU in Fragen der Justiz.
»Ich arbeite seit 25 Jahren für die Justiz. Seit mehr als zwanzig Jahren bin ich Richter. Wenn ich gesund bleibe, trete ich nun ins letzte Drittel meines Erwerbslebens. Rechne ich die Zahl der bisher von mir geführten Verfahren hoch, werden bei meiner Pensionierung rund 15.000 Angeklagte auf mich als Richter getroffen sein.« Das steht in der persönlichen Einführung am Anfang des Buches. Wer nun befürchtet, eine jener sprachlichen Furztrockenheiten zu lesen, die meist »Juristendeutsch« genannt, sieht sich getäuscht. Oliver Scheiber ist einer jener Richter, die Rudolf Wassermann (Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig) wie folgt beschreibt: »Richter sind Menschen und Bürger, die ihre Geschichte, ihre Ansichten und Bindungen haben. Wenn es aber einen meinungslosen Richter nicht geben kann, so liegt es im Interesse des rechtssuchenden Bürgers wie der Justiz, wenn Präferenzen nicht verborgen, sondern offen zum Ausdruck gebracht werden.«
Es war im Jahre 1964 in Wien, und im Theater am Kärntnertor trat Herwig Seeböck auf mit seiner »Häfenelegie« (Gefängniselegie): Er hatte für eine Auseinandersetzung (a bsoffne Gschicht) mit Wiener Polizisten, normalerweise von der Justiz mit Geldstrafen geahndet, viereinhalb Monate schweren Kerker aufgebrummt bekommen. In mehr als einer Stunde klopfte Seeböck die Justiz samt Strafvollzug in die Tonne. Bei YouTube kann Leserin/Leser dieses Stück anschauen. Es ist lohnende bössatirische und aufklärerische Begleitung zu einer realen Justiz, die heute noch in Deutschland und Österreich fröhliche Umtriebe feiert – und die Notwendigkeit des Buches von Oliver Scheiber, das die Erneuerung der Justiz fordert, deutlich werden lässt.
In 10 Kapiteln mit jeweils dazugehöriger These, also 10 Thesen, ist dieses Buch nicht nur notwendige Lektüre für die Juristerei Studierende, sondern auch für all jene, die für eine schon längst notwendige Justizreform mit europäischer Perspektive eintreten.
Einige Beispiele. These 2: Die Justiz muss raus aus dem Elfenbeinturm. These 4: Es ist wichtig, ein Zeichen in Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus zu setzen. These 5: Das Strafrecht verfehlt heute seine gesellschaftliche Bestimmung. These 7: Die Bevölkerung versteht die Sprache der Justiz nicht – also muss die Justiz anders kommunizieren. These 8: Zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht braucht es mehr Abgrenzung und eine effizientere wechselseitige Kontrolle. These 10: Um den berechtigten Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen, muss die Justiz eine völlige Änderung ihrer Unternehmens- und Kommunikationskultur anstreben.
Diese Thesen werden in den einzelnen Kapiteln des Buches ausführlich begründet. Der Autor bestätigt damit berühmte »Urteile« über die real existierende Justiz: »Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen« (Tacitus). »Um sicher Recht zu tun, braucht man sehr wenig vom Recht zu wissen. Allein um sicher Unrecht zu tun, muss man die Rechte studiert haben« (Georg Christoph Lichtenberg).
Noch eine kleine Textkostprobe: »Stellen Sie sich vor. Sie haben einen PKW, den auch Ihre Frau benutzt. Ihre Frau fährt mit dem PKW einkaufen, verstößt dabei gegen die Straßenverkehrsordnung und erhält eine Verwaltungsstrafe. Aber auch Sie erhalten eine Verwaltungsstrafe. Die Behörde bezeichnet Sie als Beitragstäter, weil Sie Ihrer Frau den PKW überlassen haben.«
Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einer Justizerneuerung, wie sie Europa braucht.
Oliver Scheiber: MUT zum RECHT, Falter Verlag, Wien 2019, 232 S., 19,90 Euro.