Als der Literaturnobelpreis 1930 erstmals an einen amerikanischen Schriftsteller verliehen werden sollte, wurden vor allem zwei Namen gehandelt: Sinclair Lewis und Theodore Dreiser. Als die Entscheidung schließlich auf Lewis fiel, war die Enttäuschung in der amerikanischen Fachwelt spürbar groß, galt doch Dreiser als einer der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Naturalismus und einer der größten Romanciers seiner Zeit. Selbst Lewis erkannte das in seiner Nobelpreis-Dankesrede an: »Dreiser, wie kein anderer, geht seinen Weg allein. In der Regel ohne Anerkennung, oft verfolgt, hat er den Weg der amerikanischen Literatur von der viktorianischen Zaghaftigkeit und Sanftmut eines Howells frei gemacht für Ehrlichkeit, Kühnheit und die Leidenschaftlichkeit des Lebens. Ich zweifle, ob ohne seine Pionierleistung irgendeiner von uns versuchen könnte, dem Leben, der Schönheit und dem Schrecken Ausdruck zu verleihen.«
Wer war dieser Theodore Dreiser, dem solche Lobeshymnen galten, dessen Werke aber heute kaum noch verlegt werden? Am 27. August 1871 in Terre Haute, Indiana, geboren, war Dreiser der Sohn eines deutschen Einwanderers aus der Eifel, der als Mühlenarbeiter im ländlichen Mittelwesten meist arbeitslos war. Mit zwölf Geschwistern wuchs der junge Theodore in ärmlichen Verhältnissen auf und wurde streng katholisch erzogen. Er besuchte die Volksschule und danach die Indiana University Bloomington (1888-1890). Nach dem abgebrochenen Studium zog er von Chicago aus bis zur Ostküste durch das Land, wo er zunächst als Gelegenheitsarbeiter und später als Zeitungsreporter in verschiedenen Städten seinen Lebensunterhalt verdiente. 1894 kam Dreiser nach New York City, wo er ebenfalls für mehrere Zeitungen arbeitete.
Dreiser hatte sich als Reporter und Autodidakt in Redaktionsstuben, Gerichten, Polizeirevieren und auf der Straße die Bildung und Lebenserfahrung verschafft, die ihm der lückenhafte Schulaufenthalt nicht hatte bieten können. In seinem ersten Roman »Schwester Carrie«, der im Jahr 1900 veröffentlicht wurde, erzählt er die Geschichte eines unerfahrenen, aber ehrgeizigen Mädchens. Die 18-jährige Caroline (Carrie) Meeber hat ihren Heimatort in Wisconsin verlassen, um in Chicago ihr Glück zu versuchen. Doch die Wirklichkeit antwortet zunächst mit einem Hohnlächeln, denn Carrie findet nur einen Job in einer Schuhfabrik, wo sie den ganzen Tag an einer Lederstanze steht. Als Geliebte sowohl des flatterhaften Handlungsreisenden Charles Drouet als auch seines Freundes George Hurstwood, der Geschäftsführer einer mondänen Bar ist, scheint sich ihr Traum jedoch zu erfüllen. Hurstwood stiehlt aus dem Safe seiner Bar eine größere Geldsumme und flieht mit Carrie nach New York, wo sie am Broadway zur gefeierten Schauspielerin und Tänzerin aufsteigt, während er in Armut dahinsiecht. Carrie ist eine selbstbewusste, moderne Frau, die jede sich bietende Gelegenheit beim Schopf packt, um vorwärtszukommen.
Mit seiner realistischen Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Alltagswelt und der Arbeitsbedingen in den USA zur Jahrhundertwende ist Dreisers Roman ein Meilenstein der amerikanischen Literatur auf dem Weg zu einer eigenständigen literarischen Identität. Doch die puritanische Öffentlichkeit wollte die Aussage des Buches nicht akzeptieren, sie war von der Darstellung einer »wilden Ehe« schockiert. Dabei war die Erstausgabe vom Verlag gekürzt und zensiert worden und es sollte bis 1981 dauern, ehe das vollständige Manuskript in Amerika erschien.
Nach seinem skandalumwitterten Erstling sollte es – abgesehen von einigen Kurzgeschichten und journalistischen Arbeiten – bis 1911 dauern, ehe mit »Jennie Gerhardt« Dreisers nächster Roman erschien, in dem er ebenfalls ein Frauenschicksal schildert. Anders als die aufstiegsorientierte Carrie wird die ebenfalls 18-jährige Jennie zum gefallenen Mädchen, die sich in ihr Schicksal fügt. Fast dokumentarisch reflektierte Dreiser das gesellschaftliche Milieu und klagte den öffentlichen Moralkodex an.
Von ganz anderer Thematik war die »Trilogie der Begierde«, mit der Dreiser seinen persönlichen Erfahrungsbereich verließ. Die Romane »Der Finanzier« (1912), »Der Titan« (1914) und »Der Unentwegte« (postum 1947) sind in der Finanzwelt Chicagos angesiedelt. In der Person des skrupellosen Geschäftsmannes und Finanzmagnaten Frank Algernoon Cowperwood deckte Dreiser die dubiosen Machenschaften und die Mechanismen der kapitalistischen Marktgesellschaft auf.
Ein großer Wurf gelang Dreiser dann mit seinem umfangreichen Roman »Eine amerikanische Tragödie« (1925), in dem er einen authentischen Gerichtsfall aus dem Jahre 1906 aufgriff. Im Mittelpunkt steht der aus ärmlichen Verhältnissen kommende Clyde Griffiths, der als Hotelpage den Verlockungen des Glücks und Reichtums erliegt, vom Ehrgeiz getrieben zum Mörder wird und auf dem elektrischen Stuhl endet. Dreisers eigentliches Anliegen war aber die kompromisslose Abrechnung mit einer menschenfeindlichen Justiz. Dreiser, der bisher die Kritik immer gegen sich hatte, erlangte mit diesem Roman schließlich Weltruhm. So ist es nicht verwunderlich, dass sich der Film dieses gewaltigen Stoffes mehrfach bemächtigte, u. a. 1951 unter dem Titel »Ein Platz an der Sonne« mit Montgomery Clift und Elizabeth Taylor in den Hauptrollen.
Mit seinen späteren Werken konnte Dreiser nicht mehr an den Erfolg von »Eine amerikanische Tragödie« anknüpfen. In den 1930er Jahren erschienen vor allem autobiografische Schriften, Reiseberichte, Essays und der Roman »Das Bollwerk« (posthum 1946). In Europa fanden Dreisers Werke größere Anerkennung als in seiner Heimat, wo er häufig als linker »muckraker« (Nestbeschmutzer) angeprangert wurde. 1927 bereiste er monatelang die UdSSR, wo er u.a. Sergej Eisenstein und Wladimir Majakowski traf. Seine Reiseeindrücke veröffentlichte er in »Dreiser Looks at Russia« (1928).
Von Beginn seiner literarischen Karriere bis zu seinen letzten Tagen hielt Dreiser an seinen sozialistischen Ansichten fest. Seit 1932 war er Mitglied des World Anti-War Congress und nahm 1938 an der Konferenz in Paris teil, auf der er sich gegen die Bombardierung Spaniens aussprach. Im August 1945 trat er der Kommunistischen Partei der USA bei. Am 28. Dezember desselben Jahres verstarb Theodore Dreiser in Los Angeles.
Dreiser, der in der Nachfolge von Balzac und Zola stand, hat die neuere amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts wohl am stärksten geprägt. Obwohl seine Werke den Kampf eines Autors gegen die literarischen und moralischen Konventionen seiner Zeit widerspiegeln, sind sie heute mit ihrer Thematik und Modernität unverändert aktuell. Daher ist es unverständlich, ja beschämend, dass seine Romane kaum noch verlegt werden. Auch zu seinem 150. Geburtstag sucht man vergebens einen Dreiser-Titel im Buchhandel. Die Trilogie »Begierde« und der Roman »Eine amerikanische Tragödie« erschienen zuletzt in den 1970er Jahren im Aufbau-Verlag und bei Rowohlt. Einziger Lichtblick: die deutsche Übersetzung von Susan Urban (2017) der ersten vollständigen amerikanischen Ausgabe von »Schwester Carrie« in der Buchreihe »Die andere Bibliothek« (als Band 392).