Das Jahr 1816 hat in meinen Nachschlagewerken keinen großen Auftritt. Werner Stein genügten in seinem 2000 Seiten umfassenden Wälzer Der große Kulturfahrplan sieben schmale Spalten von jeweils acht Zentimetern Länge. Sie enden mit dem folgenden lapidaren Hinweis: »Extrem kalter Sommer i. Europa.« Der dafür maßgebliche Vorgang hatte sich schon am 10. April 1815 östlich von Java ereignet und lässt sich in der Rubrik des Vorjahres finden: »Vulkanausbruch auf Sumbawa erf. über 56 000 Tote.«
Der große Plötz, die Enzyklopädie der Weltgeschichte, meldet ebenfalls in zwei Zeilen den Vulkanausbruch und außerdem den Tod von »mindestens 70 000 Menschen«. In der Brockhaus Enzyklopädie sind es schon acht Zeilen, dafür aber 60 000 Tote weniger: »Tambora, Vulkan im N der Insel Sumbawa, Indonesien, 2851 m ü. M. Der Ausbruch von 1815 forderte über 10 000 Menschenleben; die Auswurfmassen (150 km3) wurden über ein Gebiet von über 0,5 Mio. km2 verstreut; der Staub soll bis in 70 km Höhe gelangt sein und beeinträchtigte die Witterung auch in Nordamerika und Teilen Europas erheblich (›Jahr ohne Sommer‹).«
Die Lücke in der Darstellung der Nachschlagewerke hat der Journalist Timo Feldhaus mit seinem im Mai dieses Jahres erschienenen Buch Mary Shelleys Zimmer – Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte geschlossen. Nach seinen Angaben starben allein auf Sumbawa und den umliegenden Inseln Lombok und Bali 117 000 Menschen durch den Ausbruch des Vulkans. Der an der Universität des Saarlandes lehrende Historiker Wolfgang Behringer vermutet sogar, »dass die direkten Auswirkungen des Vulkanausbruchs, die Hungersnöte, sozialen Krisen und die sich daraus entwickelnde Cholera weltweit mehr Opfer forderten als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen«. In Indonesien wurde der Lebensraum der Überlebenden auf Jahre zerstört.
Der Vulkanausbruch auf der 12 000 Kilometer von Europa entfernten Insel gilt als die ungeheuerlichste Explosion in historischer Zeit, »mit der Kraft von zehntausenden Hiroshima-Bomben«:
»Drei glühende Lavasäulen schossen in den Himmel, fielen herab und verwandelten den Vulkanberg in ein Inferno aus Feuer. Millionen Tonnen Gestein, Gas und Staub kämpften sich durch den Schlund und stießen unter unvorstellbarem Donner in alle Richtungen.« Der Magmastrom »traf den Ozean mit solcher Kraft, dass sich ein mächtiger Tsunami bildete. Zugleich ließ die heiße Luft, die aus dem Schlund kroch, Orkanwinde zusammenlaufen, die Häuser und Menschen aufs Meer hinaustrugen.«
Die Tonnen von Schwefel wurden außergewöhnlich hoch in die Stratosphäre geschleudert. Das vulkanische Material »umschlang in nur drei Wochen den Äquator wie ein Gürtel. Innerhalb des nächsten Jahres« – dem Jahr 1816 – »breitete es sich über den ganzen Erdball aus. Dort stellte die graue Wolke sich dem Sonnenlicht in die Quere. Sie reflektierte das Licht zurück ins All, und die Erde kühlte ab.«
Dem, was zu jener Zeit unter dieser riesigen Schwefelwolke vor allem in Europa geschah, hat Feldhaus nachgespürt. Und so eilt er mit leichtem Ton und zügigem Tempo zwischen ausgewählten Schauplätzen und ausgesuchten Protagonisten hin und her durch die Lande: London, Weimar, Paris, Rügen, Dresden, Genf, Berlin und selbstverständlich Sumbawa sind die zentralen Handlungsorte.
Wir begegnen Lord Byron, der London für immer verlässt und sich am Genfer See eine Villa mietet, wohin ihm Mary und Percy Bysshe Shelley folgen. Wir treffen auf Goethe, der an seinem Westöstlichen Divan und der Autobiografie Dichtung und Wahrheit arbeitet und in Anbetracht des »himmlischen Schauspiels« seinen Versuch einer Witterungslehre unternimmt. Wir treffen Caspar David Friedrich, der in jenen Tagen Bilder mit schwefelgelben Wolken und mit Landschaften in entschiedenem Rot und Grün malt. Wir beobachten Napoleon während seiner Verbannung auf Sankt Helena, wo er über die am 18. Juni 1815 verlorene Schlacht bei Waterloo sinniert, als »Regen die Kleider der Soldaten durchtränkte«, »den Feind unsichtbar« und »den Tag fast zu einer halben Nacht machte«, wie Joseph Roth 1936 in seinem Napoleon-Roman »Die 100 Tage« schrieb. Und wir begegnen Friedrich Wilhelm Jahn, der mit nationalistischen Reden und körperlicher Ertüchtigung Studenten für den Krieg stählte und sie derartig zu Fanatikern machte, dass einer der Burschenschaftler, Karl Ludwig Sand, vier Jahre später den Schriftsteller Ferdinand von Kotzebue erschoss. Dieser hatte den »Turnvater Jahn« sowie die Turnerbünde und Burschenschaften in seinem Literarischen Wochenblatt verspottet. In mehreren Kapiteln befasst sich Feldhaus mit den Auswirkungen der durch die »schwarze Sonne« herbeigeführten Hungersnot unter der Bevölkerung und mit den Vorboten der industriellen Entwicklung auf dem europäischen Festland und in England.
Im Mittelpunkt aber stehen die titelgebende Mary Shelley und die fantasievollen Gespräche in der von Lord Byron angemieteten Villa Diodati am Genfer See zwischen ihr, ihrem Ehemann Percy Bysshe Shelley, dem Dichter Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori, in denen Mary Shelley die Idee zu ihrem nur zwei Jahre später erscheinenden Weltroman Frankenstein entwickelte. (Siehe dazu: Ossietzky, Heft 13/2022, »Eine starke Frau«, über Mary Shelleys Roman »Der letzte Mensch«.)
Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer – Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte, 318 S., Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 26 €.