Als »se dem Willem dem Doofen, dem Oberjanoven, de Krone jeklaut ham«, wie es in einem vielgesungenen anonymen Spottlied und Gassenhauer aus dem Jahr 1918 heißt, und als der Kaiser vom deutschen Hauptquartier im belgischen Spa ins Exil in die Niederlande entwichen war, aus dem er nicht mehr wiederkehrte, da geriet sein trautes Heim in Berlin in akute Gefahr.
Über 400 Jahre hatten die Hohenzollern in dem Schloss in der historischen Mitte Berlins residiert. Jetzt war mit ihrer Herrschaft Schluss. Am 9. November 1918 öffnete sich das Hauptportal, und ein Automobil, auf dessen Oberdeck Karl Liebknecht, der Anführer des Spartakusbundes, stand, schob sich in den Innenhof. Kurze Zeit später rief Liebknecht vom Balkon des Schlosses herab die Republik aus, zwei Stunden nach dem Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, der von einem Fenster des Reichstags aus die Republik verkündet hatte.
Revolutionäre im Schloss, revolutionäre Massen ad portas: Die Gefahr lag auf der Hand, dass es zu Plünderungen und Sachbeschädigungen kommen könnte, was ja auch teilweise geschah. Dass aber das Schloss jene Tage des Umbruchs relativ unbeschadet überstand, ist vor allem Karl Liebknecht zu verdanken: Er ernannte schon am 9. November den bisherigen Hohenzollernsitz zum Volkseigentum und stellte ihn unter den Schutz des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates.
Christian Walther, Diplom-Politologe und Journalist, der an der Freien Universität Berlin Publizistik lehrt, beschreibt den nun folgenden Funktionswandel so: »Die Zofen zogen aus, Kultur und Wissenschaft zogen ein: Kunstgewerbemuseum, Museum für Leibesübungen, Deutscher Akademischer Austauschdienst, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) – sie alle hatten ihren Sitz im Schloss. Und mit ihnen tauchte ein neuer Typus Frau auf: zumeist Akademikerinnen der ersten Generation, deren Mütter noch nicht studieren durften, und die als Wissenschaftlerinnen, Museumsdirektorinnen und Politikerinnen für die zaghaften Anfänge beruflicher Chancengleichheit standen, oft jüdisch, nicht selten aus dem Ausland.«
Über das Berliner Schloss ist in jüngster Zeit aus Anlass des umstrittenen Aufbaus und seiner Auferstehung als Humboldt-Forum im Juli 2021 unter historischen, künstlerischen, architektonischen, ideologiekritischen und gesellschaftstheoretischen Aspekten viel geschrieben worden, kritisch auch von Ossietzky-Herausgeber Otto Köhler (junge Welt, 24. Juli 2021: »Wo der Deutsche gerne hingeht«). Walther dagegen legt in seinem in diesem Sommer erschienenen Buch »Des Kaisers Nachmieter. Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss« den Schwerpunkt auf die wenig bekannte nach-kaiserliche Ära des Schlosses. Und erinnert damit daran, was der Bau »seit der Revolution wirklich gewesen ist: das Schloss der Republik«.
Über 90 Seiten widmet Walther der Zeit zwischen 1918 und 1933, nur sechs den Jahren zwischen 1933 und 1945. In einem Interview mit der taz (»Es war Volkseigentum«, 17. Juli 2021) sagte er zur Begründung, das Schloss habe in der NS-Zeit »gemessen an der Größe des Baukörpers und der zentralen Lage in der Stadt eine erstaunlich nebensächliche Rolle gespielt«. Es seien auch keine großen Nazi-Institutionen eingezogen. Die Nationalsozialisten hätten eher das Alte Museum »als Bezugspunkt ihrer Masseninszenierungen genommen, das mit seiner griechischen antiken Ästhetik viel besser zur Nazi-Ästhetik passte als das barocke Schloss«.
Ironie der Geschichte: Hatte 1918 ein Liebknecht das Schloss vor marodierenden Gruppen gerettet, war 1950 in der DDR ein Liebknecht beim Abriss vorneweg dabei: der Architekt und Stadtplaner Kurt Liebknecht, ein Neffe von Karl Liebknecht. Laut Walther spricht jedoch vieles dafür, dass er später seinen Entschluss bereute. Die Sprengung erfolgte im Dienste der reinen Leere: An der Stelle des Schlosses wurde unter Einbeziehung des historischen Lustgartens der Marx-Engels-Platz angelegt, als zentraler Ort für Kundgebungen und Manifestationen in der Hauptstadt der DDR.
Walthers Buch punktet auch mit einer Vielzahl von historischen Fotos. Ein Extrakapitel gehört der Fotografin und Kommunistin Eva Kemlein, »eine der bekanntesten Bildchronistinnen der zerstörten, sich dem Wiederaufbau zuwendenden Stadt«. Sie hatte in den letzten zwölf Monaten vor dem Abriss »eine spezielle Aufgabe: Sie sollte das Schloss komplett und maßstabgetreu mit Spezialkameras dokumentieren. Gewissermaßen für die Ewigkeit.« Walther recherchierte: Eva Kemleins Fotos, auch jene vom Schloss, existieren noch.
Ein verdienstvolles Buch, das Fragen stellt, die so meines Wissens noch niemand gestellt hat und das eine Lücke in der Geschichtsschreibung schließt, indem das historische Gebäude ins republikanische Gedächtnis heimgeholt wird.
Christian Walther: Des Kaisers Nachmieter. Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021, 184 S., 25 €. – Das Lied »Wem hamse de Krone jeklaut« ist u. a. auf der LP »Liederbuch« der Musikgruppe Liederjan aus dem Jahre 1979 zu finden.