Hans Ticha, der 1990 aus dem Prenzlauer Berg in Berlin nach Mainz und drei Jahre später nach Maintal-Hochstadt bei Hanau übergesiedelt ist, hat als Buchgestalter und Illustrator in mehr als 30 Jahren über 90 Bücher ausgestattet und dafür viele Preise erhalten. Der Galerist Johannes Zielke betreut seit mehr als 10 Jahren sein bildnerisches Werk und zeigt jetzt Arbeiten in unterschiedlichen Techniken: Bleistift, Farbstift, Aquarelle und Zeichnungen, auch Mischtechniken aus den 1970er bis 1990er Jahren, meist Vorarbeiten für größere Gemälde. Was an Tichas Arbeiten auffällt, das ist ihre provokant plakative Farbigkeit, die sich meist auf die Grundfarben Rot, Gelb und Blau beschränkt, die Dominanz runder, normgerechter Formen und geometrischer Figuren, gesichtsloser Marionetten mit variablen Gerüststrukturen und symbolischen Versatzstücken, die Diskrepanz von kleinen Köpfen und großen Körpern beziehungsweise riesigen Händen. Buchstaben werden zeichenartig in die Komposition eingefügt, auch Elementarformen wie Kreis, Dreieck und Viereck. So entsteht ein Scheinleben mit lauter Ritualen.
Seit 1976 hatte Ticha die Nachrichten der Aktuellen Kamera aufmerksam verfolgt und Zeitungsfotos gesammelt: Fahnenübergaben, Ordensverleihungen, das Austauschen von Bruderküssen, Fähnchenschwenken, Beifallskundgebungen, Vorbeimärsche von Marschblocks vor Tribünen mit hohen Partei- und Staatsfunktionären, Parteitage mit brausenden Hochrufen, Appelle, Militärparaden, Spielmannszüge, Staatsempfänge. Und die dienten ihm dann als Vorlage für seine eigenen Bilder: »Klatscher«, »Klatschender Bauch«, »Fröhliche Jugend«, »Großer Staatsbesuch«, »Republikgeburtstag«, »Brausende Hochrufe«, »Er weiß, worauf es ankommt«, »Orden an die Truppenfahne«, aber auch das Sportmonster, das Siegen um jeden Preis, der zum Politikum hochgetrimmte Leistungssport, das Zähneputzen als Ausdruck gymnastischen Körperkultes – alles unter Kontrolle. Diese heimlich gemalten Bilder standen »mit dem Gesicht zur Wand« hinter seiner verschlossenen Ateliertür am Prenzlauer Berg und konnten erst nach dem Ende der DDR gezeigt werden.
Ticha hat Anregungen von Fernand Léger, den Bauhausmalern, den russischen Konstruktivisten und dann auch von Pop-Art erhalten. Légers Werke waren geprägt von Rot-, Blau- und Gelbtönen, die sich zu Formen und Gesichtern zusammenfügten oder auflösten, Symbole einer mechanisierten, aus stereometrischen Elementen bestehenden Welt. Die tänzerisch bewegten Figurinen Tichas lassen an die Tanzpuppen aus Oskar Schlemmers »Triadischem Ballett« denken, einen Reigen plastischer farbiger Kostümgebilde, die zu abstrakten Kunstfiguren stilisiert sind. Aber auch die suprematistischen Androiden von Kasimir Malewitsch dürften eine Rolle gespielt haben. Zwar übernahm Ticha die Stilrichtung der Pop-Art, passte die Themen aber an seine Realität in der DDR an: »Das dominierende Motiv der amerikanischen Pop-Art war der Massenkonsum, das war in der DDR gar kein Thema. Ich habe die Propaganda der DDR als Motiv genommen, so wie sich die DDR dargestellt hat. Das war mein Thema, das ich bis zum Ende verfolgt habe.« Aus dem propagandistischen Begriff Agit-Prop wurde Agit-Pop, eine Stilrichtung, wie ihn Künstler wie Ticha mit ihren ironisch-kritischen Werken geprägt haben. Anders als in der amerikanischen Pop-Kunst ist der ost- und westdeutschen Spielart gemeinsam, dass hinter dem Alltag Abgründe lauern.
Der Künstler ist zum Monteur geworden, der Automaten, Gliederpuppen, Roboterkörper herstellt, das gesellschaftliche Gefüge erscheint als eine leerlaufende Maschine, die den Menschen gleichschaltet, ihn seiner Identität und Subjektivität beraubt. Ein Sinnbild für menschliche Beziehungen, die reibungslos wie ein Uhrwerk funktionieren, alle Leidenschaft veräußerlicht haben, in Ritualen verkommen sind. Mit ihren sich durchdringenden Ebenen und den genauen, sachlichen Raumkörpern sind sie mehr um eine dynamische Diagonale konstruiert als um die passive Horizontale oder autoritäre Vertikale, sie sollen sozusagen »Umsteigestationen« von der Zeichnung zum Gemälde, zur Plastik und zur Architektur sein.
»Ballspieler« (1976): Rhythmisch bewegte Körper – Arme, Hände, Beine, Füße wirbeln durcheinander. Ein Trabrennen mit einer Gliederpuppe als Pferd mit Kugelgelenken und einer Mensch-ärgere-dich-nicht-Figur (Spielfigur) als Jockey im Siegerkranz mit den flatternden Schleifen – anderswo ist die unnachahmliche Handbewegung des Siegers angefügt –, der aber nur den zweiten Platz bedeutet (»Platz, Sieg, R«, 1974). Ein Rundkörper mit kleinem Kopf und riesigen Händen, die sich im rhythmischen Klatschen bewegen (»Klatscher auf orangefarbenem Grund«, 1982/91). »Die kahle Sängerin«, nach dem Anti-Stück von Eugène Ionesco, in der sinnloses Gerede die Banalität und Oberflächlichkeit des Lebens überspielen soll, wird als plappernde Marionette vorgeführt.
Ticha setzt sich auch mit den Erscheinungsformen im wiedervereinigten Deutschland – den Werbekampagnen, Manipulierungspraktiken der Politik und Massenmedien – auseinander. So wird ein amputierter Frauenkörper zum Schnäppchenpreis angeboten (»Ab 20,90«, 2001).
Man mag Tichas Arbeiten nun als Bildparabeln schätzen oder als »Gebrauchskunst« geringschätzen, in jedem Fall provozieren sie, man geht nicht an ihnen vorbei. Sie setzen eindringliche Zeichen, die man nicht mehr vergisst.
Klaus Hammer
Hans Ticha – Malerei Zeichnung. Galerie LÄKEMÄKER Johannes Zielke, Berlin, Prenzlauer Berg, Schwedter Str. 17, Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa 11-14 Uhr, bis 9. April 2022. Katalog (Eigenverlag der Galerie) 25 €.