»Du, Hugo, müssen wir den Tag tatsächlich mit Philosophie beginnen?«, fragt eine Frau ihren Mann. Ja, in diesem Roman muss das sein: Eine Geschichte, die fast nur Intrigen, Erpressung, Sex inklusive Ausschweifung, Verrat, Zügellosigkeit und Mord (und was es sonst noch gibt im Repertoire menschlicher Begierden und Verfehlungen) zum Thema hat, wirkt mit der Würzpaste »Bildungsgut« doch gleich viel anspruchsvoller. Doch verfeinern die Würzkräuter nur, einen gänzlich anderen Geschmack vermögen sie nicht zu erzeugen. Warum auch? Ich habe mich gut und fesselnd unterhalten gefunden bei der Lektüre, zumal ich lange Zugfahrten zu absolvieren hatte.
Die Hauptfigur des Romans ist Tamás. Ihn lernen wir, wie alle anderen Figuren, nur mit einem Vornamen kennen. Ein Hotelbesitzer ist allerdings »Herr Vid«. Tamás ist Einwanderer, der Klappentext behauptet, in Kanada. Das muss betont werden, denn das Land ist nicht ohne Weiteres zu erkennen. Die Figuren tragen mehr oder weniger deutsch und in wenigen Fällen ungarisch klingende Vornamen, das Geld heißt »Zehner« oder »Zwanziger«, Tamás bemüht sich, die ihm fremde Sprache zu lernen – welche, das erfahren wir nicht. Auch nicht, was Tamás getrieben hat, sein Land und seine Familie, der Roman endet mit der Aussicht auf deren Nachzug, zu verlassen. Ein behaupteter Freiheitsdrang wirkt nicht ganz überzeugend.
Einwanderer, das haben viele Bücher behandelt, finden eine kalte Fremde vor, Widerstände, Misstrauen, Ablehnung. Das widerfährt auch Tamás. Allerdings nimmt ihn Walter, Journalist und Kandidat bei den Parlamentswahlen, unter seine Fittiche, und Tamás gelingt es tatsächlich, Fuß zu fassen in der verdorbenen Gesellschaft seiner neuen Heimat. Wenn zunächst auch nur als ausgebeutetes Faktotum im Hotel des Herrn Vid. Sein Gönner ist da schon tot, es gibt viele bizarre Tode im Roman, manchmal hat man das Gefühl, als müsse sich der Autor einiger seiner Erfindungen entledigen, denn immer mehr Figuren drängen hinein in den Roman – und der Kabalen und Orgien sind viele. Das führt dann auch zu Wiederholungen von bereits Erzähltem. Doch auch von E.T.A. Hoffmann wird kolportiert, dass er in einem seiner Schauerromane die Übersicht verloren habe. »Erschaudern« ist übrigens neben »irgendwie« und »ausgesprochen« eines der zu oft vorkommenden Wörter.
Zentrale der Bösewichte und Opfer ist eine Art Geheimklub in der Stadt – ihren Namen erfährt man nicht. Die Geschichten der Mitglieder stehen denn auch im Mittelpunkt, weniger die von Tamás’. Der fristet nur ein sporadisches Dasein im Buch, er erlebt auch keinen Soft-Porno wie Schlachthofgeschäftsführer Zeno mit seiner Angestellten Wanda – einer leidenschaftlichen Frau, einem Biest höchsten Einfühlvermögens. Der kommt nicht einmal hinein in diesen sich für elitär haltenden Zirkel.
Die philosophischen Exkurse sind durchaus geeignet, die Geschehnisse kommentierend, begründend und auch vertiefend zu begleiten. Wie sonst sollte man Ordnung in eine chaotische Welt bringen? Zoltán Böszörményi versteht sein Handwerk als philosophischer Schriftsteller, als Schilderer des Einwandererelends und als Verfasser einer rasanten, spannungsgeladenen Story, deren Ausgang man unbedingt erfahren will. Dieses Buch zwingt förmlich zum Lesen, es reißt einen mit sich in den Untergangstanz einer fremden Welt mit ganz vertrauten Verhaltensweisen der Menschen.
Ein Wort noch zur Übersetzung: Ein solch wuchtiges Werk ins Deutsche zu übertragen, ist eine Mammutaufgabe, die größten Respekt verdient. Doch überzeugt die sprachliche Gestaltung nicht durchgehend, es haben sich eine ganze Menge Unzulänglichkeiten eingeschlichen; der Verlag sollte vor einer weiteren Auflage eine Korrektur veranlassen.
Zoltán Böszörményi: Weicher Körper der Nacht. Roman. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 444 S., 25 €.