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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Jahr voller Tollheit und Torheit

Eine gute Bekann­te mail­te mir nach der Lek­tü­re mei­nes Tex­tes über »Die Akte Kla­bau­ter­mann« (sie­he Ossietzky 18/​2022) fol­gen­de Sätze:

Inter­es­sant fin­de ich, dass Teutsch einen ›Roman‹ geschrie­ben hat. Die­ses Gen­re, wenn von tat­säch­li­chen, histo­ri­schen Per­so­nen gehan­delt wird, ist ja seit eini­ger Zeit sehr beliebt. Frü­her pfleg­ten Histo­ri­ker nur zu sagen, wah­re Objek­ti­vi­tät sei in der Geschichts­schrei­bung nicht mög­lich (wenn auch anzu­stre­ben). Heu­te nun tritt die Fik­ti­on oder das Bio­pic als die wah­re Objek­ti­vi­tät auf. Man könn­te doch fra­gen, war­um er sein Werk ›Roman‹ nennt. Soll es die Frei­heit schaf­fen, alle Lücken der Über­lie­fe­rung mit eige­nen Ideen zu fül­len oder ist die roman­haf­te Schil­de­rung eines Lebens tat­säch­lich die wah­re­re Geschichte?

Ein klu­ger Gedan­ken­gang, der auch auf das gera­de erschie­ne­ne Buch von Peter Süß über das Jahr 1923 zutrifft, obwohl es nicht als Roman daher­kommt. Der Ver­fas­ser – von Haus aus Chef­au­tor und Pro­du­zent meh­re­rer TV-Seri­en – erzielt den Effekt des Authen­ti­schen durch die Anein­an­der­rei­hung von Schlag­lich­tern oder, wie in einem Film, von Flash­backs, die in chro­no­lo­gi­scher Monats-Abfol­ge Per­so­nen und Vor­gän­ge in den Fokus neh­men und mit gro­ßem Unter­hal­tungs­wert beleuchten.

Als ich das Buch zum ersten Mal in den Hän­den hielt, setz­te ich im Gei­ste ein mehr oder weni­ger gro­ßes Fra­ge­zei­chen hin­ter den Titel: 1923? Wel­che 100 Jah­re zurück­lie­gen­de Vor­komm­nis­se könn­ten die Lese­rin­nen und Leser heu­te noch inter­es­sie­ren? Ist das Buch nicht nur ein wei­te­res Glied in der inzwi­schen statt­li­chen und belieb­ten Rei­he von »Jah­res­zahl-Büchern«? Dann aber fiel mein Blick auf ein rück­sei­tig abge­druck­tes kur­zes Zitat des vor­mals eben­so geschätz­ten wie umstrit­te­nen Jour­na­li­sten Seba­sti­an Haff­ner (1907 – 1999), und ich griff sei­ne Geschich­te eines Deut­schen aus mei­nem Bücher­re­gal, die Erin­ne­run­gen des streit­ba­ren Jour­na­li­sten an die Jah­re 1914 bis 1933. Sie wur­den von ihm 1939 nie­der­ge­schrie­ben und im August 2000 aus dem Nach­lass erst­mals veröffentlicht.

Ich zitie­re aus dem Kapi­tel 10: »Es kam das Jahr 1923. Die­ses fan­ta­sti­sche Jahr ist es wahr­schein­lich, was den heu­ti­gen Deut­schen jene Züge hin­ter­las­sen hat, die der gesam­ten übri­gen Mensch­heit unver­ständ­lich und unheim­lich und die auch dem nor­ma­len ›deut­schen Volks­cha­rak­ter‹ fremd sind: jene hem­mungs­los zyni­sche Fan­ta­stik, jene nihi­li­sti­sche Freu­de am ›Unmög­li­chen‹ um sei­ner selbst wil­len, jene zum Selbst­zweck gewor­de­ne ›Dyna­mik‹. Einer gan­zen deut­schen Gene­ra­ti­on ist damals ein see­li­sches Organ ent­fernt wor­den: ein Organ, das den Men­schen Stand­fe­stig­keit, Gleich­ge­wicht, frei­lich auch Schwe­re gibt, und das sich je nach­dem als Gewis­sen, Ver­nunft, Erfah­rungs­weis­heit, Grund­satz­treue, Moral oder Got­tes­furcht äußert. (…) Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deut­schen ›1923‹-Erlebnis ent­spricht. (…) Das Jahr 1923 mach­te Deutsch­land fer­tig – nicht spe­zi­ell zum Nazis­mus, aber zu jedem fan­ta­sti­schen Abenteuer.«

Jetzt hielt ich also eine Mono­gra­fie die­ses Jah­res »1923« in der Hand, gewohnt soli­de ediert vom Beren­berg Ver­lag, Ber­lin. Und ich sage schon vor­ab: Die Lek­tü­re des Buches hat mir gro­ßen Spaß gemacht, und sie hat sich gelohnt.

Wen tref­fe ich nicht alles in die­sem Jahr im Auf und Ab ihres Tag­werks und ihrer Nöte und Träu­me und Wün­sche? Den Bank­an­ge­stell­ten Joseph Goeb­bels, den jun­gen, unbe­kann­ten Ber­tolt Brecht, den spä­te­ren »Kron­ju­ri­sten des Drit­ten Rei­ches« Carl Schmitt, Tho­mas Mann auf einer okkul­ten Séan­ce, das Arbei­ter­kind Erich Käst­ner zu Beginn sei­ner Lauf­bahn, er hat gera­de die erste Erzäh­lung ver­öf­fent­licht, die hun­gern­de Lot­te Lenya, den kran­ken Sig­mund Freud, Karl Valen­tin und Liesl Karl­stadt, die einen lusti­gen Film dre­hen, Kurt Tuchol­sky, der den her­auf­zie­hen­den Ungeist wit­tert, Wil­ly Frit­sch, Else Las­ker-Schü­ler und Ernst Jün­ger, Max Beck­mann, Otto Dix, Ril­ke, Benn, Franz Kaf­ka und sei­ne letz­te Lie­be Dora Dia­mant, Lion Feucht­wan­ger, Hans Fal­la­da, der ins Gefäng­nis muss, weil er Geld unter­schla­gen hat, um sich Mor­phi­um zu besor­gen, Kurt Weill, Mar­le­ne Diet­rich – die Rei­he der Musi­ke­rin­nen und Musi­ker, der Tän­ze­rin­nen und Tän­zer, der Lite­ra­ten, der Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler, der Sän­ge­rin­nen und Sän­ger, deren Namen man heu­te noch kennt, ist schier endlos.

Dank Peter Süß »durch­le­be« ich mit ihnen das Jahr, beglei­te sie durch den infla­tio­nä­ren und für eini­ge bedroh­li­chen All­tag, erfah­re von ihren Lie­be­lei­en und Geld­sor­gen, von ihrem Hun­ger, ihrer Armut und der Gewalt, der sie aus­ge­setzt sind.

Natür­lich spie­len auch all die poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ereig­nis­se eine Rol­le, die noch heu­te in den Geschichts­bü­chern ste­hen: Die Fran­zo­sen rücken ins Ruhr­ge­biet ein. Der Dol­lar steigt und steigt. Der Kurs der Mark befin­det sich im frei­en Fall. In Essen ster­ben 13 Krupp-Arbei­ter im fran­zö­si­schen Kugel­ha­gel. Die Brü­der Tietz und Rudolph Kar­stadt grün­den ihre gro­ßen Waren­häu­ser, »Tem­pel der Moder­ne«. Der Indu­stri­el­le Hugo Stin­nes ist der größ­te Infla­ti­ons­ge­win­ner aller Zei­ten, besitzt zum Jah­res­en­de 1535 juri­stisch selb­stän­di­ge Unter­neh­men mit fast 3000 Betrie­ben. Sein Aus­lands­be­sitz ist über den gan­zen Glo­bus ver­teilt. Fleisch wird teu­rer, der Kon­sum sinkt; nur ein Tier wird 1923 so viel ver­zehrt wie nie zuvor: Hund. In Ham­burg kommt es unter Füh­rung von Ernst Thäl­mann zu einem Umsturz­ver­such, bei dem 24 Kom­mu­ni­sten und 17 Poli­zi­sten ster­ben. In Ber­lin (und sicher­lich nicht nur dort) ste­hen an den Ecken bet­telnd »die Inva­li­den des Krie­ges, zer­lumpt, auf Krücken oder ohne Bei­ne und hal­ten ihre alten Sol­da­ten­müt­zen hin«. Tumul­te ums Brot bre­chen aus: Im Okto­ber kostet der Laib 7,5 Mil­li­ar­den Mark. Es ist das Jahr, in dem »Geld­ent­wer­tung und Teue­rung« ein »galop­pie­ren­des Tem­po« haben und sich »die Angst um die Zukunft der eige­nen Exi­stenz zur zer­mür­ben­den Qual« steigert.

Und dann ist da noch einer, der dar­aus Kapi­tal schla­gen will, der sich selbst als den zukünf­ti­gen Füh­rer sti­li­siert, der in dem Buch Kapi­tel für Kapi­tel, Monat für Monat auf­taucht, Schlag­zei­len pro­vo­ziert, vor allem in Bay­ern, des­sen Staats­re­gie­rung »die reak­tio­när­ste in ganz Deutsch­land ist« (Süß): Adolf Hit­ler. Im Novem­ber 1923 »füll­te er die Schlag­zei­len zwei Tage lang (…) mit der unglaub­li­chen Unter­neh­mung, eine Revo­lu­ti­on in einem Bier­kel­ler zu ver­an­stal­ten« (Haff­ner). Der Hit­ler-Luden­dorff-Putsch­ver­such wur­de nach einem Tag von der baye­ri­schen Poli­zei nie­der­ge­schla­gen. Im März 1923 war Hit­ler in Mün­chen mit dem Chef der Reichs­wehr zusam­men­ge­trof­fen, den er für sei­ne Plä­ne gewin­nen woll­te. Dabei hielt er, lese ich bei Süß, »eine blut­rün­sti­ge Tira­de«, wonach »die Defä­ti­sten der gegen­wär­ti­gen Regie­rung« an die Later­nen­pfäh­le ver­bracht wer­den soll­ten. »Im Anschluss wer­de man den Reichs­tag in Brand setzen.«

Einen Monat spä­ter lausch­te der Ver­le­ger Ste­fan Groß­mann, Her­aus­ge­ber des links­li­be­ra­len Tage-Buchs, in Mün­chen im Cir­cus Kro­ne einer Hit­ler-Rede und notiert: »Sei­ne Urwüch­sig­keit als Red­ner (…) wäre wahr­schein­lich beschä­digt wor­den, wenn er sich durch Stu­di­um gei­sti­ge Hem­mun­gen geschaf­fen hät­te. Nichts ist fri­scher als die schlag­wort­fro­he Unwis­sen­heit.« Eine Ein­schät­zung, die bis heu­te ihre Gül­tig­keit behal­ten hat. Coro­na hat es uns gera­de gezeigt.

Groß­mann beob­ach­tet, »eben­so beein­druckt wie erschrocken«, auch die Para­de Tau­sen­der jun­ger Bur­schen in Sech­ser- oder Fün­fer­rei­hen durch die Mün­che­ner Lud­wig­stra­ße, stolz Kampf­lie­der sin­gend, und hält neun­zig Pro­zent der Teil­neh­mer für nicht älter als sech­zehn bis zwan­zig. Und er notiert, ich zitie­re nach Süß: »Hit­ler ersetzt den Fuß­ball.« Groß­mann kann auch kei­ne Züge der »Ver­wil­de­rung und Pöbel­haf­tig­keit« erken­nen, im Gegen­teil: »Gute, aben­teu­er­freu­di­ge Jun­gens sind, vom besten Wil­len beseelt, zu selbst­lo­sem Tun fähig.« Erschreckend hell­sich­tig folgt: »Das wird sie nicht hin­dern (…), gemein­sam vie­hi­sche Grau­sam­kei­ten zu bege­hen.« Die Geschich­te hat ihm Recht gegeben.

1923 wer­den auch Kin­der gebo­ren, am 26. Mai in Elber­feld zum Bei­spiel der spä­ter bekann­te­ste Ober­inspek­tor Deutsch­lands, der Schau­spie­ler Horst Tap­pert. Eine ande­re Geburt mel­det Süß mit zwei Zei­len, die man in die­ser Zuspit­zung sel­ten liest: »Einen Tag spä­ter erblickt der Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger und Kriegs­ver­bre­cher Hen­ry Kis­sin­ger in Fürth das Licht der Welt.« Am 5. Novem­ber wird in Han­no­ver Rudolf Aug­stein geboren.

Im Anhang des Buches, und das ist vor­bild­lich, belegt Süß über 30 Sei­ten die Quel­len sei­ner ver­wen­de­ten Zita­te und Dar­stel­lun­gen und doku­men­tiert auf wei­te­ren 15 Sei­ten die benutz­ten zeit­ge­nös­si­schen Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten, Tage­bü­cher, Brief­wech­sel, Mono­gra­fien, Auf­sät­ze und audio­vi­su­el­len Medien.

 Peter Süß: 1923 – End­sta­ti­on. Alles ein­stei­gen!, Beren­berg Ver­lag, Ber­lin 2022, 368 S., 28 €.