Eine gute Bekannte mailte mir nach der Lektüre meines Textes über »Die Akte Klabautermann« (siehe Ossietzky 18/2022) folgende Sätze:
Interessant finde ich, dass Teutsch einen ›Roman‹ geschrieben hat. Dieses Genre, wenn von tatsächlichen, historischen Personen gehandelt wird, ist ja seit einiger Zeit sehr beliebt. Früher pflegten Historiker nur zu sagen, wahre Objektivität sei in der Geschichtsschreibung nicht möglich (wenn auch anzustreben). Heute nun tritt die Fiktion oder das Biopic als die wahre Objektivität auf. Man könnte doch fragen, warum er sein Werk ›Roman‹ nennt. Soll es die Freiheit schaffen, alle Lücken der Überlieferung mit eigenen Ideen zu füllen oder ist die romanhafte Schilderung eines Lebens tatsächlich die wahrere Geschichte?
Ein kluger Gedankengang, der auch auf das gerade erschienene Buch von Peter Süß über das Jahr 1923 zutrifft, obwohl es nicht als Roman daherkommt. Der Verfasser – von Haus aus Chefautor und Produzent mehrerer TV-Serien – erzielt den Effekt des Authentischen durch die Aneinanderreihung von Schlaglichtern oder, wie in einem Film, von Flashbacks, die in chronologischer Monats-Abfolge Personen und Vorgänge in den Fokus nehmen und mit großem Unterhaltungswert beleuchten.
Als ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, setzte ich im Geiste ein mehr oder weniger großes Fragezeichen hinter den Titel: 1923? Welche 100 Jahre zurückliegende Vorkommnisse könnten die Leserinnen und Leser heute noch interessieren? Ist das Buch nicht nur ein weiteres Glied in der inzwischen stattlichen und beliebten Reihe von »Jahreszahl-Büchern«? Dann aber fiel mein Blick auf ein rückseitig abgedrucktes kurzes Zitat des vormals ebenso geschätzten wie umstrittenen Journalisten Sebastian Haffner (1907 – 1999), und ich griff seine Geschichte eines Deutschen aus meinem Bücherregal, die Erinnerungen des streitbaren Journalisten an die Jahre 1914 bis 1933. Sie wurden von ihm 1939 niedergeschrieben und im August 2000 aus dem Nachlass erstmals veröffentlicht.
Ich zitiere aus dem Kapitel 10: »Es kam das Jahr 1923. Dieses fantastische Jahr ist es wahrscheinlich, was den heutigen Deutschen jene Züge hinterlassen hat, die der gesamten übrigen Menschheit unverständlich und unheimlich und die auch dem normalen ›deutschen Volkscharakter‹ fremd sind: jene hemmungslos zynische Fantastik, jene nihilistische Freude am ›Unmöglichen‹ um seiner selbst willen, jene zum Selbstzweck gewordene ›Dynamik‹. Einer ganzen deutschen Generation ist damals ein seelisches Organ entfernt worden: ein Organ, das den Menschen Standfestigkeit, Gleichgewicht, freilich auch Schwere gibt, und das sich je nachdem als Gewissen, Vernunft, Erfahrungsweisheit, Grundsatztreue, Moral oder Gottesfurcht äußert. (…) Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen ›1923‹-Erlebnis entspricht. (…) Das Jahr 1923 machte Deutschland fertig – nicht speziell zum Nazismus, aber zu jedem fantastischen Abenteuer.«
Jetzt hielt ich also eine Monografie dieses Jahres »1923« in der Hand, gewohnt solide ediert vom Berenberg Verlag, Berlin. Und ich sage schon vorab: Die Lektüre des Buches hat mir großen Spaß gemacht, und sie hat sich gelohnt.
Wen treffe ich nicht alles in diesem Jahr im Auf und Ab ihres Tagwerks und ihrer Nöte und Träume und Wünsche? Den Bankangestellten Joseph Goebbels, den jungen, unbekannten Bertolt Brecht, den späteren »Kronjuristen des Dritten Reiches« Carl Schmitt, Thomas Mann auf einer okkulten Séance, das Arbeiterkind Erich Kästner zu Beginn seiner Laufbahn, er hat gerade die erste Erzählung veröffentlicht, die hungernde Lotte Lenya, den kranken Sigmund Freud, Karl Valentin und Liesl Karlstadt, die einen lustigen Film drehen, Kurt Tucholsky, der den heraufziehenden Ungeist wittert, Willy Fritsch, Else Lasker-Schüler und Ernst Jünger, Max Beckmann, Otto Dix, Rilke, Benn, Franz Kafka und seine letzte Liebe Dora Diamant, Lion Feuchtwanger, Hans Fallada, der ins Gefängnis muss, weil er Geld unterschlagen hat, um sich Morphium zu besorgen, Kurt Weill, Marlene Dietrich – die Reihe der Musikerinnen und Musiker, der Tänzerinnen und Tänzer, der Literaten, der Schauspielerinnen und Schauspieler, der Sängerinnen und Sänger, deren Namen man heute noch kennt, ist schier endlos.
Dank Peter Süß »durchlebe« ich mit ihnen das Jahr, begleite sie durch den inflationären und für einige bedrohlichen Alltag, erfahre von ihren Liebeleien und Geldsorgen, von ihrem Hunger, ihrer Armut und der Gewalt, der sie ausgesetzt sind.
Natürlich spielen auch all die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse eine Rolle, die noch heute in den Geschichtsbüchern stehen: Die Franzosen rücken ins Ruhrgebiet ein. Der Dollar steigt und steigt. Der Kurs der Mark befindet sich im freien Fall. In Essen sterben 13 Krupp-Arbeiter im französischen Kugelhagel. Die Brüder Tietz und Rudolph Karstadt gründen ihre großen Warenhäuser, »Tempel der Moderne«. Der Industrielle Hugo Stinnes ist der größte Inflationsgewinner aller Zeiten, besitzt zum Jahresende 1535 juristisch selbständige Unternehmen mit fast 3000 Betrieben. Sein Auslandsbesitz ist über den ganzen Globus verteilt. Fleisch wird teurer, der Konsum sinkt; nur ein Tier wird 1923 so viel verzehrt wie nie zuvor: Hund. In Hamburg kommt es unter Führung von Ernst Thälmann zu einem Umsturzversuch, bei dem 24 Kommunisten und 17 Polizisten sterben. In Berlin (und sicherlich nicht nur dort) stehen an den Ecken bettelnd »die Invaliden des Krieges, zerlumpt, auf Krücken oder ohne Beine und halten ihre alten Soldatenmützen hin«. Tumulte ums Brot brechen aus: Im Oktober kostet der Laib 7,5 Milliarden Mark. Es ist das Jahr, in dem »Geldentwertung und Teuerung« ein »galoppierendes Tempo« haben und sich »die Angst um die Zukunft der eigenen Existenz zur zermürbenden Qual« steigert.
Und dann ist da noch einer, der daraus Kapital schlagen will, der sich selbst als den zukünftigen Führer stilisiert, der in dem Buch Kapitel für Kapitel, Monat für Monat auftaucht, Schlagzeilen provoziert, vor allem in Bayern, dessen Staatsregierung »die reaktionärste in ganz Deutschland ist« (Süß): Adolf Hitler. Im November 1923 »füllte er die Schlagzeilen zwei Tage lang (…) mit der unglaublichen Unternehmung, eine Revolution in einem Bierkeller zu veranstalten« (Haffner). Der Hitler-Ludendorff-Putschversuch wurde nach einem Tag von der bayerischen Polizei niedergeschlagen. Im März 1923 war Hitler in München mit dem Chef der Reichswehr zusammengetroffen, den er für seine Pläne gewinnen wollte. Dabei hielt er, lese ich bei Süß, »eine blutrünstige Tirade«, wonach »die Defätisten der gegenwärtigen Regierung« an die Laternenpfähle verbracht werden sollten. »Im Anschluss werde man den Reichstag in Brand setzen.«
Einen Monat später lauschte der Verleger Stefan Großmann, Herausgeber des linksliberalen Tage-Buchs, in München im Circus Krone einer Hitler-Rede und notiert: »Seine Urwüchsigkeit als Redner (…) wäre wahrscheinlich beschädigt worden, wenn er sich durch Studium geistige Hemmungen geschaffen hätte. Nichts ist frischer als die schlagwortfrohe Unwissenheit.« Eine Einschätzung, die bis heute ihre Gültigkeit behalten hat. Corona hat es uns gerade gezeigt.
Großmann beobachtet, »ebenso beeindruckt wie erschrocken«, auch die Parade Tausender junger Burschen in Sechser- oder Fünferreihen durch die Münchener Ludwigstraße, stolz Kampflieder singend, und hält neunzig Prozent der Teilnehmer für nicht älter als sechzehn bis zwanzig. Und er notiert, ich zitiere nach Süß: »Hitler ersetzt den Fußball.« Großmann kann auch keine Züge der »Verwilderung und Pöbelhaftigkeit« erkennen, im Gegenteil: »Gute, abenteuerfreudige Jungens sind, vom besten Willen beseelt, zu selbstlosem Tun fähig.« Erschreckend hellsichtig folgt: »Das wird sie nicht hindern (…), gemeinsam viehische Grausamkeiten zu begehen.« Die Geschichte hat ihm Recht gegeben.
1923 werden auch Kinder geboren, am 26. Mai in Elberfeld zum Beispiel der später bekannteste Oberinspektor Deutschlands, der Schauspieler Horst Tappert. Eine andere Geburt meldet Süß mit zwei Zeilen, die man in dieser Zuspitzung selten liest: »Einen Tag später erblickt der Friedensnobelpreisträger und Kriegsverbrecher Henry Kissinger in Fürth das Licht der Welt.« Am 5. November wird in Hannover Rudolf Augstein geboren.
Im Anhang des Buches, und das ist vorbildlich, belegt Süß über 30 Seiten die Quellen seiner verwendeten Zitate und Darstellungen und dokumentiert auf weiteren 15 Seiten die benutzten zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften, Tagebücher, Briefwechsel, Monografien, Aufsätze und audiovisuellen Medien.
Peter Süß: 1923 – Endstation. Alles einsteigen!, Berenberg Verlag, Berlin 2022, 368 S., 28 €.