»Rumps!« sollte es, so wünscht sich jeder, der den rationalen Streit als Mutter der Wissenschaft schätzt, gemacht haben in den Volkswirtschaftsinstituten von Kiel bis München, nachdem der den Ossietzky-Lesern gut bekannte Professor Heinz Josef Bontrup nach Abschluss seiner offiziellen Lehrtätigkeit an der Westfälischen Hochschule zusammen mit dem weiterhin dort tätigen Professor Ralf-Michael Marquardt seine »Einführung« in die »Volkswirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht« auf die Tische der Häuser geknallt hat. Tausend eng bedruckte großformatige Seiten haben die Autoren gefüllt. Aber nicht nur quantitativ ist das ein großes Werk geworden, sondern auch qualitativ. Es gibt im deutschen Sprachraum keine Einführung für Studentinnen und Studenten der Volkswirtschaftslehre, in dem so konzentriert, komprimiert und gleichzeitig im besten humboldtschen Sinne umfassend der gegenwärtige Stand der hiesigen Volkswirtschaftslehre (VWL) referiert und gleichzeitig kritisch reflektiert wird.
Gleich zu Beginn brechen die beiden eine Lanze dafür, die VWL nicht mehr gestelzt als Naturwissenschaft und bis zur Unkenntlichkeit mathematisiert misszuverstehen, sondern als Sozialwissenschaft, die erklären soll, wie und warum Menschen – mit ihren unterschiedlichen sozialen Interessen – ökonomisch und politisch handeln. Auf dieser klärenden Grundlage werden im Anschluss sowohl die dominierende Mikro- als auch die Makroökonomie erläutert.
In den kritischen Anmerkungen finden nicht nur Autoren wie John Maynard Keynes oder Elinor Ostrom den ihnen gebührenden Platz, sondern mit einem eigenen Unterkapitel auch die Marx’sche Lehre.
Wer glaubt, es handele sich hier um eine Kampfansage, die lediglich in den Elfenbeintürmen relevant sei, irrt. Die Ausführungen von Bontrup und Marquardt haben ganz praktische Konsequenzen für laufende politische Debatten. Generationen von »Grünen« beispielsweise sind großgeworden in der festen Überzeugung, Konsumenten hätten eine Verbrauchermacht, die kollektiv eingesetzt den Konzernen Grenzen setzen könnte. Sauber hergeleitet wird dem mit einem Zitat von John Kenneth Galbraith entgegengesetzt: »Der Glaube an eine Marktwirtschaft mit souveränen Verbrauchern ist eine der am weitesten verbreiteten Formen der Täuschung. Wer würde es schon wagen, ohne gezielte Beeinflussung der Verbraucher Waren auf den Markt zu bringen« (S. 393). Die Konsumenten sind eben, wie es schon in den einleitenden Bemerkungen heißt, »keine souveränen Akteure, sondern allein das Objekt der Kapitalisteninteressen« (S. XV).
Hilfreich auch für Autodidakten und nicht nur für diejenigen aus den Lehrkörpern der Universitäten und Hochschulen, die das Buch in ihren Seminaren einsetzen, sind die immer wieder eingestreuten Aufgaben, an denen sich das Verständnis der vermittelten Inhalte überprüfen lässt. Wer beispielsweise bei der Frage »Wie kommt es theoretisch zum tendenziellen Fall der Profitrate?« (S. 405) zögert, dem hilft die Lektüre des Kapitels 3.5 (Arbeit und Arbeitsmärkte).
Zu befürchten ist allerdings, dass es bei vielen Lehrenden nicht »Rumps!« gemacht hat, sondern dass dieses »Fundamentalwerk«, wie es Rudolf Hickel in seinem ausgezeichneten Vorwort nennt, ungelesen in die Bibliotheken verschoben wird. Wenn es aber gelänge, dieses Lehrbuch zum Arbeitsbuch für künftige Volks- und Betriebswirte zu machen, wäre für dieses Land viel gewonnen. Dann gibt es hoffentlich weitere Auflagen.
Für eine zweite gäbe es vom Rezensenten zwei Wünsche: Abgeschlossen wurde das Werk vor dem aktuellen inflationären Schub, von dem immer weniger zu behaupten wagen, er sei nur vorübergehend. Der von Bontrup/Marquardt kurz aufgeführte Ansatz, ursächlich für Inflationsschübe könnten auch dauerhaft höhere Produktionskosten sein (S. 560), sollte angesichts der Eruptionen der Weltwirtschaft in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts vertieft werden. Und so lobenswert es ist, der »Planwirtschaft der DDR« einen eigenen Abschnitt einzuräumen, so irritierend ist es doch, in diesem Kapitel das Schwergewicht auf die letzten beiden Jahre der DDR zu legen, aber das »Neue Ökonomische System« (NÖS) aus der Ära Walter Ulbricht nur mit wenigen Sätzen zu erwähnen.
Dieses NÖS genauer zu betrachten, würde auch helfen, der – wagen wir einmal zu träumen – zehnten Auflage bereits jetzt einen Hinweis auf den langen Arbeitsweg zu geben. Das über vierzig Seiten lange Literaturverzeichnis umfasst nahezu ausschließlich deutsch- oder englischsprachige Titel. Das Durcharbeiten dieser beiden Sprachräume mag mit dem Blick auf die britisch-US-amerikanische Dominanz im 19. und 20. Jahrhundert gerechtfertigt sein, auch wenn französische oder spanische Werke damit teilweise zu Unrecht in die zweite Reihe rutschen. Aber so wie es heutzutage unmöglich ist, wissenschaftlich ohne Kenntnis der englischen Sprache weiterzukommen, so wird es schon in zwanzig Jahren unmöglich sein, ökonomische Studien ohne Kenntnis der Originalarbeiten aus der chinesischen Wissenschaft zu betreiben. Wer dies tut, wird schon jetzt dort intensive Arbeiten über Lenins »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) und eben das schon erwähnte NÖS finden, deren intensives Studium in den dortigen Universitäten als ein Schlüssel für die positive Entwicklung dieser Volkswirtschaft nach 1989 ausgewertet und angesehen wird. Das könnte dann in einer zehnten Auflage ein eigenes Kapitel werden.
Heinz-J. Bontrup, Ralf-M. Marquardt, Volkswirtschaftslehre aus orthodoxer und heterodoxer Sicht, Eine Einführung, Berlin/Boston 2021, 1024 S., 39,95 €.