Wir trafen uns auf Hiddensee im September. Wenige Wochen vor seinem 91. Geburtstag und Monate vor Corona. Alfred Kosing verließ einmal im Jahr sein Exil in der Türkei, in das er sich in den neunziger Jahren begeben hatte. Vornehmlich wegen des Klimas, das seiner Frau besser bekam als das hiesige. Aber nicht nur deshalb. Er kehrte gelegentlich nach Deutschland zurück, um sich wegen seiner fortschreitenden Augenerkrankung behandeln zu lassen, um Freunde zu treffen, um an vertrauten Orten Urlaub zu machen – und um sein jüngstes Buch vorzustellen. Zwischen 2008 und 2020 waren es neun Publikationen bei der edition ost. Und das bei stetig nachlassender Sehfähigkeit. Inzwischen schrieb er in riesengroßen Lettern, um den eigenen Text lesen zu können.
Egon Krenz war mit der Fähre aus Stralsund gekommen, ich ließ mein Auto in Schaprode stehen. In Vitte parlierten wir mehrere Stunden miteinander. Weniger über Gott, mehr über die Welt. Kosing war Philosoph, aber zunehmend in ein Fach gewechselt, das sich heute Politikwissenschaft nennt. (Obgleich Politik kaum etwas mit Wissenschaft zu tun hat.) Er analysierte die Gegenwart, sezierte messerscharf und maß mit marxistischer Elle Entwicklungen und Prozesse. Das tat er auch diesmal. Die Russophobie, die China-Feindlichkeit des Westens, die Entwicklung in den USA, das Weltklima, die Abwesenheit von Theorie und historischem Wissen bei den Linken … Kein Thema, das ihn nicht beschäftigte. Nicht jedes Urteil teilte der Ex-Politiker Krenz, etwa das über Stalin und Trotzki oder die Gründe unseres Scheiterns. Kosing hatte intensiv Originalquellen in russischen Archiven studiert und Ursprung, Wesen und Wirkung des Stalinismus untersucht. Da kam er auch zu Schlüssen, die sich auf den Nachhall bezogen, welcher bis in die Gegenwart reicht. Diese selbstkritische Haltung zog sich nahezu durch alle seine Arbeiten, etwa zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution mit dem schlichten, wenngleich vieldeutig-polemischen Titel »Aufstieg und Untergang des realen Sozialismus«.
Das Gespräch an jenem lauen Spätsommertag auf Hiddensee war, wie immer mit Kosing, anregend, kontrovers und konstruktiv. Kosing bewies mit bemerkenswerter geistiger Frische einmal mehr – so sein soeben verstorbener Weggefährte Herbert Graf zu Kosings 90. –, dass er »zu den produktivsten marxistischen Philosophen der vergangenen sieben Jahrzehnte« gehörte. 1960 hatte der ostpreußische Bauernsohn die erste deutsche grundlegende Arbeit über das Wesen der marxistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verfasst, 1962 legte er eine über die Theorie der Nationen vor, es folgten philosophische Wörter- und Lehrbücher, Vorträge, über hundert fundierte wissenschaftliche Veröffentlichungen, die auch internationale Beachtung und Anerkennung fanden. Seit den siebziger Jahren gehörte der DDR-Nationalpreisträger Kosing dem Institut International de Philosophie (IIP), die Weltakademie der Philosophen, in Paris an, in den achtziger Jahren war er Vizepräsident der Fédération Internationale des Sociétés de Philosophie (FISP).
Nach dem stundenlangen Gespräch in Vitte, von dem keiner der Beteiligten ahnte, dass es unser letztes sein würde, brachten wir Krenz zur Fähre. Einige, die den Ex-Staatsratsvorsitzenden und Ex-Generalsekretär erkannten, baten darum, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Kosing erkannte niemand, der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Das wissen wir. Alfred Kosing konnte damit leben wie eben auch damit, dass es seine Bücher nie in Bestsellerlisten schafften. Es betrübte ihn lediglich, dass selbst die wenigen Medien, denen er noch eine gewisse Nähe zum Marxismus unterstellte, seine Arbeiten ignorierten. Die intellektuelle Weite, die doch dem Marxismus innewohnt, hatte man dort offenkundig doch nicht begriffen oder eben dem Zeitgeist Tribut gezollt.
Vor Jahrzehnten schon hatten DDR-Ärzte bei ihm Neuropathie diagnostiziert, die sich mit den Jahren verstärkte. Im Sommer hatten Mediziner ihn in einer aufwendigen Bein-Operation, für die er sich finanziell verschulden musste, zu helfen versucht. Der Unternehmung blieb der Erfolg versagt. Am 21. Oktober ist Alfred Kosing in der Türkei gestorben. Er wird auch dort bestattet werden. Deutschland hat einen großen Denker verloren. Und der Verleger einen Freund.