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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein fast vergessener Skandal

Vor 70 Jah­ren trat mit gesamt­deut­schem Anspruch ein weit­rei­chen­des Gesetz in Kraft, ver­ab­schie­det in Bonn, zeit­ge­nös­sisch Blitz­ge­setz genannt; sein amt­li­cher Name lau­tet: Erstes Straf­rechts­än­de­rungs­ge­setz. Der Skan­dal bestand nicht nur dar­in, dass nach sechs Jah­ren Zwangs­pau­se wie­der ein poli­ti­sches Straf­recht ein­ge­führt wur­de. (Die Sie­ger­mäch­te hat­ten 1945 aus gutem Grund sämt­li­che poli­ti­schen Delik­te aus dem Reichs-Straf­ge­setz­buch gestri­chen; das Ver­bre­chen »Lan­des­ver­rat« gab es seit­her nicht mehr.) Auch nicht nur dar­in, dass es Bür­ger jen­seits der BRD-Staats­gren­ze, näm­lich in der DDR, für ihr dor­ti­ges Han­deln bedroh­te und nach rela­tiv kur­zer Aus­spra­che durch den Bun­des­tag rausch­te, wes­halb es sei­nen Spott­na­men Blitz­ge­setz bekam.

Nein, schlim­mer: Der damals nur weni­gen bekann­te Skan­dal bestand dar­in, dass die text­li­che Fas­sung weit­ge­hend von Juri­sten erar­bei­tet wor­den war, die sich ihre Spo­ren im Ter­ror-Justiz­ap­pa­rat des unter­ge­gan­ge­nen Groß­deut­schen Rei­ches unter Hit­ler erwor­ben hat­ten und die in gewohn­ter Wei­se wei­ter­mach­ten, allen­falls ober­fläch­lich getüncht als rechts­staat­li­che Demokraten.

Der SPD-Kron­ju­rist Adolf Arndt, als Bericht­erstat­ter des Rechts­aus­schus­ses zugleich Begrün­der des Blitz­ge­set­zes, bekann­te fünf Jah­re spä­ter sei­ne Gewis­sens­bis­se. Ein »Schlan­gen­ei« nann­te er das Gesetz (in einem Vor­trag auf dem SPD-Bun­des­kon­gress 1956) und bedau­er­te sei­ne Mit­ver­ant­wor­tung. Von dem Skan­dal der in der Wol­le braun­ge­färb­ten Geset­zes­vä­ter wuss­te er noch nicht.

Deren Haupt­fi­gur, der Spi­ri­tus rec­tor im Hin­ter­grund, war ein gewis­ser Dr. jur. Schaf­heut­le, zuletzt Ober­feld­rich­ter der Wehr­macht. Über ihn las man vor Jah­ren schon eini­ges aus der Feder von Hans Can­jé (sie­he Ossietzky 13/​2013: »Zum Bei­spiel Josef Schaf­heut­le«). Wiki­pe­dia teilt mit: Schaf­heut­le, gebo­ren 1904 im Breis­gau, ab 1933 im Reichs­ju­stiz­mi­ni­ste­ri­um tätig, wirk­te dort beim Aus­ar­bei­ten des poli­ti­schen Son­der­straf­rechts und beim Gesetz über den Voll­zug der Todes­stra­fe mit. Hoch- und Lan­des­ver­rats­sa­chen im Sin­ne des Nazi­re­gimes waren sei­ne Spe­zia­li­tät. Eben­so die Schaf­fung von Son­der­ge­rich­ten neben der ordent­li­chen Gerichts­bar­keit. Dadurch konn­te man nun gegen unlieb­sa­me Per­so­nen­krei­se wie z. B. Staats­fein­de mit­tels Abbau des for­ma­len Rechts rascher urtei­len, also »kur­zen Pro­zess« machen.

Das Ade­nau­er-Kabi­nett hat­te ihn, die­sen ehe­ma­li­gen Refe­rats­lei­ter für poli­ti­sches Straf­recht, zum Mini­ste­ri­al­rat im neu­en Justiz­mi­ni­ste­ri­um beru­fen. Dort hat­te er Gele­gen­heit, das erwähn­te Blitz­ge­setz maß­geb­lich zu gestal­ten. Aus sei­ner im 1000jährigen Reich bewähr­ten Novel­le von 1934 (»die wich­tig­ste Ände­rung ist die Ver­schär­fung der Stra­fen«) über­nahm er zum Teil wort­gleich die Lan­des­ver­rats­de­lik­te. Es war ein ein­deu­tig gegen Kom­mu­ni­sten – wirk­li­che und ver­meint­li­che – gerich­te­tes Gesetz, so urteilt der Ver­fas­sungs­recht­ler Alex­an­der von Brünneck.

Ursprüng­lich war aber ein ande­rer Gedan­ke Pate des Pro­jek­tes. Die west­deut­sche Zen­trums­par­tei und die SPD, als Oppo­si­ti­on im Bun­des­tag, hat­ten 1949/​1950 zwei Gesetz­ent­wür­fe ange­sichts rechts­extre­mi­sti­scher Umtrie­be alter Nazis ver­fasst. Absicht war, die Demo­kra­tie zu schüt­zen vor einem kal­ten Umsturz, vor einem Staats­streich von oben »ohne Bar­ri­ka­den und Gewalt« ana­log zur sog. »Macht­er­grei­fung« der Par­tei Hit­lers 17 Jah­re zuvor. Die Bun­des­re­gie­rung brach­te nach meh­re­ren Mona­ten dann einen eige­nen Ent­wurf ins Par­la­ment. Er ent­hielt zusätz­lich zu den Straf­nor­men des Hoch- und Lan­des­ver­rats zwei neue Begrif­fe: den Frie­dens­ver­rat und die Ver­fas­sungs­stö­rung (letz­te­rer Begriff aus der Schweiz ent­lehnt). Im Ver­lauf der Aus­schuss­de­bat­ten wur­den die Tei­le gegen den Rechts­ra­di­ka­lis­mus, z. B. über die Ver­un­glimp­fung von Wider­stands­kämp­fern, den Schutz der Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung und die Vor­schrif­ten über den Frie­dens­ver­rat fal­len gelassen.

Aus­ge­wei­tet wur­de dage­gen der Abschnitt über Ver­fas­sungs­stö­rung – umbe­nannt in Staats­ge­fähr­dung (Straf­maß: 5 bis 15 Jah­re Zucht­haus) –, der zehn ver­schie­de­ne Straf­vor­schrif­ten ent­hielt, von ver­bo­te­nen poli­ti­schen Streiks bis hin zur Ein­fuhr von Pro­pa­gan­da­schrif­ten. Schwam­mi­ge Rechts­be­grif­fe und Tätig­keits­wör­ter wie »unter­gra­ben«, »außer Gel­tung set­zen«, »beein­träch­ti­gen« lie­ßen den Rich­tern (zu 90 Pro­zent NSDAP-Par­tei­ge­nos­sen) einen wei­ten Ermes­sens­spiel­raum, der auch Roland Freis­ler erfreut hät­te. Die Zahl der Ermitt­lungs­ver­fah­ren von 1951 bis 1968 wird mit rund 250.000 bezif­fert. Anders gesagt, sind dies – um die Zahl deut­li­cher zu machen – im Durch­schnitt 14.700 Fäl­le pro Jahr oder sage und schrei­be täg­lich rund 40 neue Ver­fah­ren. Wie der spä­te­re FDP-Mini­ster Mai­ho­fer betrof­fen sag­te, sind das »Zah­len, die einem Poli­zei­staat alle Ehren machen« (zitiert nach Hans Can­jé, Ossietzky 13/​2013). Etwa zehn­tau­send Men­schen wur­den auf­grund der Straf­vor­schrif­ten des Josef Schaf­heut­le verurteilt.

Eine Ohr­fei­ge erhiel­ten die Erzeu­ger und Geburts­hel­fer des Blitz­ge­set­zes im zehn­ten Jahr sei­nes Bestehens. Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt – immer wie­der ein­mal für eine Über­ra­schung gut – kipp­te nach einer Kla­ge der Anwalts­kanz­lei Hei­ne­mann & Pos­ser den § 90a StGB über die rück­wir­ken­de Bestra­fung. »Was das Grund­ge­setz gestat­tet, kann das Straf­ge­setz nicht ver­bie­ten«, war der Tenor des Urteils 1961. Erst mit dem Ach­ten Straf­rechts­än­de­rungs­ge­setz, August 1968, Justiz­mi­ni­ster war inzwi­schen Gustav Hei­ne­mann, kor­ri­gier­te der Gesetz­ge­ber wei­te­re Aus­wüch­se im Bereich Lan­des-, Hoch­ver­rat und Staats­ge­fähr­dung. (Eine Reha­bi­li­tie­rung der Opfer poli­ti­scher Will­kür­ju­stiz steht bis heu­te aus.)

Im sel­ben Jahr ist der Name Schaf­heut­le noch ein­mal zu erwäh­nen. Es war der sog. Dre­her-Skan­dal. Der Nazifrak­ti­on im Appa­rat des Justiz­mi­ni­ste­ri­ums gelang näm­lich 1968 der bis dato erfolg­reich­ste Straf­ver­ei­te­lungs­streich. Auf trick­rei­che Wei­se wur­de ein Groß­teil der beschul­dig­ten Nazi-Ver­bre­cher in der BRD straf­frei gestellt, und zwar durch einen ver­klau­su­lier­ten Pas­sus im unschein­ba­ren EGO­WiG (das war das Ord­nungs­wid­rig­kei­ten-Ein­füh­rungs­ge­setz), hier­in der Arti­kel 1 Nr. 6. »Der unge­heu­er­li­che Para­graf tarn­te sich. (…) Er führ­te dazu, dass die Stra­fen für Mord­ge­hil­fen zwin­gend gemil­dert wer­den muss­ten«, schreibt der inve­sti­ga­ti­ve Jour­na­list Heri­bert Prantl (Süd­deut­sche Zei­tung, 6.5.2018), und kei­ner hat den Skan­dal so prä­gnant geschil­dert wie er: »Man muss sich das EGO­WiG vor­stel­len wie eine Bom­be, die in einem Kin­der­spiel­zeug ver­steckt ist. Die­se juri­sti­sche Bom­be zer­riss die schon lau­fen­den Ermitt­lungs- und Straf­ver­fah­ren gegen die NS-Täter und ver­hin­der­te wei­te­re. Das Rie­sen­ver­fah­ren gegen Hun­der­te von Beschul­dig­ten aus dem Reichs­si­cher­heits­haupt­amt (…) brach in sich zusam­men – die Arbeit von elf Staats­an­wäl­ten, 150 000 Akten­ord­ner per­du; alles umsonst.«

Die Aus­wir­kung des Geset­zes hat­te angeb­lich nie­mand vor­her­ge­se­hen, weder Rechts­aus­schuss noch Bun­des­tag noch BGH. Die Bom­be pro­du­ziert und ins EGO­WiG geschmug­gelt hat­te der alt­ge­dien­te Mini­ste­ri­al­di­ri­gent Edu­ard Dre­her, einer der blu­ti­gen Son­der-Staats­an­wäl­te aus der NS-Zeit, der u.a. in zwölf Baga­tell­fäl­len die Todes­stra­fe bean­tragt hat­te. Dass er 1968 über­haupt noch im Amt war, kam so: Als etwas von sei­ner Ver­gan­gen­heit ruch­bar wur­de im Jahr 1959 und man die alten Inns­brucker Akten kom­men ließ, war für die Prü­fung nie­mand anders als Mini­ste­ri­al­di­rek­tor Schaf­heut­le zuständig.

Das Ergeb­nis über­rascht nicht: Die Prü­fung blieb fol­gen­los, der Hängt-sie-alle-Jurist und Gesin­nungs­ge­nos­se Schaf­heut­les amtier­te wei­ter bis 1969. »Das Dre­her-Gesetz ist ein Exem­pel: die alten Nazis waren in der jun­gen Bun­des­re­pu­blik über­all, in der Ver­wal­tung, in der Justiz, in den Par­la­men­ten«, urteilt Heri­bert Prantl am Schluss sei­nes Essays und fügt hin­zu: »Es gilt heu­te sehr auf­zu­pas­sen, dass sich brau­ner Ungeist nicht schon wie­der breitmacht.«