Vor 70 Jahren trat mit gesamtdeutschem Anspruch ein weitreichendes Gesetz in Kraft, verabschiedet in Bonn, zeitgenössisch Blitzgesetz genannt; sein amtlicher Name lautet: Erstes Strafrechtsänderungsgesetz. Der Skandal bestand nicht nur darin, dass nach sechs Jahren Zwangspause wieder ein politisches Strafrecht eingeführt wurde. (Die Siegermächte hatten 1945 aus gutem Grund sämtliche politischen Delikte aus dem Reichs-Strafgesetzbuch gestrichen; das Verbrechen »Landesverrat« gab es seither nicht mehr.) Auch nicht nur darin, dass es Bürger jenseits der BRD-Staatsgrenze, nämlich in der DDR, für ihr dortiges Handeln bedrohte und nach relativ kurzer Aussprache durch den Bundestag rauschte, weshalb es seinen Spottnamen Blitzgesetz bekam.
Nein, schlimmer: Der damals nur wenigen bekannte Skandal bestand darin, dass die textliche Fassung weitgehend von Juristen erarbeitet worden war, die sich ihre Sporen im Terror-Justizapparat des untergegangenen Großdeutschen Reiches unter Hitler erworben hatten und die in gewohnter Weise weitermachten, allenfalls oberflächlich getüncht als rechtsstaatliche Demokraten.
Der SPD-Kronjurist Adolf Arndt, als Berichterstatter des Rechtsausschusses zugleich Begründer des Blitzgesetzes, bekannte fünf Jahre später seine Gewissensbisse. Ein »Schlangenei« nannte er das Gesetz (in einem Vortrag auf dem SPD-Bundeskongress 1956) und bedauerte seine Mitverantwortung. Von dem Skandal der in der Wolle braungefärbten Gesetzesväter wusste er noch nicht.
Deren Hauptfigur, der Spiritus rector im Hintergrund, war ein gewisser Dr. jur. Schafheutle, zuletzt Oberfeldrichter der Wehrmacht. Über ihn las man vor Jahren schon einiges aus der Feder von Hans Canjé (siehe Ossietzky 13/2013: »Zum Beispiel Josef Schafheutle«). Wikipedia teilt mit: Schafheutle, geboren 1904 im Breisgau, ab 1933 im Reichsjustizministerium tätig, wirkte dort beim Ausarbeiten des politischen Sonderstrafrechts und beim Gesetz über den Vollzug der Todesstrafe mit. Hoch- und Landesverratssachen im Sinne des Naziregimes waren seine Spezialität. Ebenso die Schaffung von Sondergerichten neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Dadurch konnte man nun gegen unliebsame Personenkreise wie z. B. Staatsfeinde mittels Abbau des formalen Rechts rascher urteilen, also »kurzen Prozess« machen.
Das Adenauer-Kabinett hatte ihn, diesen ehemaligen Referatsleiter für politisches Strafrecht, zum Ministerialrat im neuen Justizministerium berufen. Dort hatte er Gelegenheit, das erwähnte Blitzgesetz maßgeblich zu gestalten. Aus seiner im 1000jährigen Reich bewährten Novelle von 1934 (»die wichtigste Änderung ist die Verschärfung der Strafen«) übernahm er zum Teil wortgleich die Landesverratsdelikte. Es war ein eindeutig gegen Kommunisten – wirkliche und vermeintliche – gerichtetes Gesetz, so urteilt der Verfassungsrechtler Alexander von Brünneck.
Ursprünglich war aber ein anderer Gedanke Pate des Projektes. Die westdeutsche Zentrumspartei und die SPD, als Opposition im Bundestag, hatten 1949/1950 zwei Gesetzentwürfe angesichts rechtsextremistischer Umtriebe alter Nazis verfasst. Absicht war, die Demokratie zu schützen vor einem kalten Umsturz, vor einem Staatsstreich von oben »ohne Barrikaden und Gewalt« analog zur sog. »Machtergreifung« der Partei Hitlers 17 Jahre zuvor. Die Bundesregierung brachte nach mehreren Monaten dann einen eigenen Entwurf ins Parlament. Er enthielt zusätzlich zu den Strafnormen des Hoch- und Landesverrats zwei neue Begriffe: den Friedensverrat und die Verfassungsstörung (letzterer Begriff aus der Schweiz entlehnt). Im Verlauf der Ausschussdebatten wurden die Teile gegen den Rechtsradikalismus, z. B. über die Verunglimpfung von Widerstandskämpfern, den Schutz der Kriegsdienstverweigerung und die Vorschriften über den Friedensverrat fallen gelassen.
Ausgeweitet wurde dagegen der Abschnitt über Verfassungsstörung – umbenannt in Staatsgefährdung (Strafmaß: 5 bis 15 Jahre Zuchthaus) –, der zehn verschiedene Strafvorschriften enthielt, von verbotenen politischen Streiks bis hin zur Einfuhr von Propagandaschriften. Schwammige Rechtsbegriffe und Tätigkeitswörter wie »untergraben«, »außer Geltung setzen«, »beeinträchtigen« ließen den Richtern (zu 90 Prozent NSDAP-Parteigenossen) einen weiten Ermessensspielraum, der auch Roland Freisler erfreut hätte. Die Zahl der Ermittlungsverfahren von 1951 bis 1968 wird mit rund 250.000 beziffert. Anders gesagt, sind dies – um die Zahl deutlicher zu machen – im Durchschnitt 14.700 Fälle pro Jahr oder sage und schreibe täglich rund 40 neue Verfahren. Wie der spätere FDP-Minister Maihofer betroffen sagte, sind das »Zahlen, die einem Polizeistaat alle Ehren machen« (zitiert nach Hans Canjé, Ossietzky 13/2013). Etwa zehntausend Menschen wurden aufgrund der Strafvorschriften des Josef Schafheutle verurteilt.
Eine Ohrfeige erhielten die Erzeuger und Geburtshelfer des Blitzgesetzes im zehnten Jahr seines Bestehens. Das Bundesverfassungsgericht – immer wieder einmal für eine Überraschung gut – kippte nach einer Klage der Anwaltskanzlei Heinemann & Posser den § 90a StGB über die rückwirkende Bestrafung. »Was das Grundgesetz gestattet, kann das Strafgesetz nicht verbieten«, war der Tenor des Urteils 1961. Erst mit dem Achten Strafrechtsänderungsgesetz, August 1968, Justizminister war inzwischen Gustav Heinemann, korrigierte der Gesetzgeber weitere Auswüchse im Bereich Landes-, Hochverrat und Staatsgefährdung. (Eine Rehabilitierung der Opfer politischer Willkürjustiz steht bis heute aus.)
Im selben Jahr ist der Name Schafheutle noch einmal zu erwähnen. Es war der sog. Dreher-Skandal. Der Nazifraktion im Apparat des Justizministeriums gelang nämlich 1968 der bis dato erfolgreichste Strafvereitelungsstreich. Auf trickreiche Weise wurde ein Großteil der beschuldigten Nazi-Verbrecher in der BRD straffrei gestellt, und zwar durch einen verklausulierten Passus im unscheinbaren EGOWiG (das war das Ordnungswidrigkeiten-Einführungsgesetz), hierin der Artikel 1 Nr. 6. »Der ungeheuerliche Paragraf tarnte sich. (…) Er führte dazu, dass die Strafen für Mordgehilfen zwingend gemildert werden mussten«, schreibt der investigative Journalist Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung, 6.5.2018), und keiner hat den Skandal so prägnant geschildert wie er: »Man muss sich das EGOWiG vorstellen wie eine Bombe, die in einem Kinderspielzeug versteckt ist. Diese juristische Bombe zerriss die schon laufenden Ermittlungs- und Strafverfahren gegen die NS-Täter und verhinderte weitere. Das Riesenverfahren gegen Hunderte von Beschuldigten aus dem Reichssicherheitshauptamt (…) brach in sich zusammen – die Arbeit von elf Staatsanwälten, 150 000 Aktenordner perdu; alles umsonst.«
Die Auswirkung des Gesetzes hatte angeblich niemand vorhergesehen, weder Rechtsausschuss noch Bundestag noch BGH. Die Bombe produziert und ins EGOWiG geschmuggelt hatte der altgediente Ministerialdirigent Eduard Dreher, einer der blutigen Sonder-Staatsanwälte aus der NS-Zeit, der u.a. in zwölf Bagatellfällen die Todesstrafe beantragt hatte. Dass er 1968 überhaupt noch im Amt war, kam so: Als etwas von seiner Vergangenheit ruchbar wurde im Jahr 1959 und man die alten Innsbrucker Akten kommen ließ, war für die Prüfung niemand anders als Ministerialdirektor Schafheutle zuständig.
Das Ergebnis überrascht nicht: Die Prüfung blieb folgenlos, der Hängt-sie-alle-Jurist und Gesinnungsgenosse Schafheutles amtierte weiter bis 1969. »Das Dreher-Gesetz ist ein Exempel: die alten Nazis waren in der jungen Bundesrepublik überall, in der Verwaltung, in der Justiz, in den Parlamenten«, urteilt Heribert Prantl am Schluss seines Essays und fügt hinzu: »Es gilt heute sehr aufzupassen, dass sich brauner Ungeist nicht schon wieder breitmacht.«