Es ist nach Mitternacht. Ich bin wieder zu Hause nach einem Theaterabend, der bereits um 21.30 Uhr zu Ende war. Aber danach hatte Julia, ein Mitglied aus dem Ensemble, das gerade auf der Bühne gestanden hatte, im Vorraum der Bühne der Thalia-Spielstätte in der Gaußstraße, sich ihre Gitarre und ein Mikro gegriffen und dem Premierenpublikum mit Shanties, wie es einer Hafenstadt wie Hamburg gebührt, eingeheizt. Eine derart temperamentvolle Darbietung, an der sich mindestens noch drei weitere Ensemblemitglieder beteiligten, war nicht zu erwarten gewesen, denn die Laiendarstellerinnen und -darsteller, die sich einem Casting hatten unterziehen müssen und etwa zwei Monate lang geprobt hatten, waren alle im Rentenalter, teils auch über 80 Jahre alt.
Einige hatten auch eigene Erfahrungen mit »Kinderkuren in Deutschland« (so der Untertitel) nach 1945. (Anja Röhl hat das Thema »Verschickungskinder« publik gemacht.) Daher mochte vielleicht das Bedürfnis rühren, sich in lauter Musik und durch wildes Tanzen Luft zu machen.
Als ich aus der Vorstellung ging, dachte ich: Es ist unmöglich, über einen solchen Theaterabend eine Rezension zu schreiben. Das sagte ich dann auch in kleiner Runde. Aber während ich begründete, weshalb dies unmöglich war und weshalb meiner Meinung nach die gezeigten Leistungen durch das Raster einer Beurteilung schauspielerischer Beurteilungskriterien fielen, wurde mir klar, dass dies sehr wohl möglich war.
Nun gut: »Ein Leben (geschweige denn die Lebensläufe einer Opfergruppe) kann man nicht rezensieren.« Trotzdem ist die Leistung der Darstellerinnen und Darsteller sehr wohl zu würdigen. Ihre Leistung beruhte darauf – und dies ist keineswegs gering zu schätzen –, dass sie bereit waren, sich bei den Proben einer Dressur zu unterwerfen, der sich die Verschickungskinder in vergangenen Jahrzehnten unter Realbedingungen hatten unterwerfen müssen.
Sie hatten als Laien, zudem in fortgeschrittenem Alter, große Mühen auf sich genommen. Sie hatten in Kinderkleidung und mit Kindermasken agieren müssen. Die Text waren von Kindern eingesprochen worden; eine diffizile Präzisionsarbeit, aber keineswegs l’art pour l’art; so wurde vielmehr nicht nur die Realität der Brechung ihrer Charaktere durch schwarze Pädagogik widergespiegelt, sondern darüber hinaus die qualvolle Erinnerung alter Menschen, die all dies hatte erleiden müssen: Die Verschickungskinder mussten den Tag über und auch nachts nach den Vorgaben einer »totalen Institution« funktionieren: schlafen, ohne vorm Einschlafen reden zu dürfen, alles aufessen, auch Ekliges, zuweilen auch Erbrochenes, Schläge erleiden, in Gelasse gesperrt zu werden, mittels Briefzensur von den Eltern isoliert zu werden, nicht mit Namen, sondern mit Nummern angeredet zu werden. Diese Methoden und andere mehr wurden bis zum Überdruss szenisch so illustriert, dass das Publikum es als Qual empfinden mochte.
Die Leistung der vier alten Frauen und vier alten Männer sowie der drei Darstellerinnen und Darsteller des Heimpersonals wurde mit frenetischem Beifall belohnt.
»Heim-Weh«, nächste Vorstellungen: 8.6., 20 Uhr, 11.6., 20 Uhr.