Wer in den 1950er und 1960er Jahren als jugendlicher Leser in der DDR keine Westverwandtschaft hatte, für den waren die Abenteuerbücher von Karl May gewissermaßen tabu. Der musste mit den »Lederstrumpf-Erzählungen« von James F. Cooper, mit Friedrich Gerstäcker, Robert Louis Stevenson oder später mit Jack London »vorliebnehmen«. Sie waren aber weit mehr als ein »Karl-May-Ersatz«, sie boten aufregende Abenteuerlektüre, die man verschlang – nicht selten mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.
Jeder kennt wohl Karl Mays »Old Firehand« oder »Der Schatz im Silbersee«; kaum bekannt ist jedoch, dass die Vorbilder dafür die Werke von Friedrich Gerstäcker waren, dessen 150. Todestag am 31. Mai ist. May übernahm sogar ganze Passagen aus den Erzählungen und Romanen, selbst seine berühmte Winnetou-Figur basierte auf einem Indianer, den Gerstäcker in einem seiner Romane beschrieben hatte. Im 19. Jahrhundert gehörte Gerstäcker zu den meistgelesenen Abenteuerschriftstellern; seine Werke wurden zu Bestsellern und in mehrere Sprachen übersetzt. Im Gegensatz zu Karl May hatte Gerstäcker die Handlungsorte seiner Abenteuererzählungen selbst als Augenzeuge erlebt. Der Umtriebige war durch die Welt gestreift, und so liest sich seine Biografie selbst wie ein Abenteuer.
Friedrich Gerstäcker wurde am 10. Mai 1816 in Hamburg geboren. Die Mutter war Schauspielerin und der Vater ein bekannter Opernsänger, der aber schon 1825 starb, sodass Gerstäcker und seine Schwester bei Verwandten in Braunschweig aufgezogen wurden. Dort besuchte er die Schule und absolvierte eine landwirtschaftliche Lehre. Wie Millionen von jungen Europäern im 19. Jahrhundert träumte auch der junge Gerstäcker von Amerika, mit der Aussicht auf ein besseres Leben. 1837 machte der 21-Jährige seinen Traum wahr und setzte auf einem Auswandererschiff nach New York über. Bis in die entlegensten Winkel streifte er sechs Jahre lang durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Seinen Lebensunterhalt bestritt er dabei in den verschiedensten Berufen – unter anderem als Heizer auf einem Mississippi-Dampfer, als Viehtreiber, Jäger, Farmer, Koch, Silberschmied, Holzfäller oder Schokoladenhersteller. »Ich durchzog die ganzen Vereinigten Staaten quer von Kanada bis Texas zu Fuß, arbeitete unterwegs, wo mir das Geld ausging, und blieb endlich in Arkansas, wo ich ganz und allein von der Jagd lebte, bis ich dort halb verwilderte«, schrieb er in seinen Tagebuchaufzeichnungen, in denen er seine Erlebnisse für die Familie festhielt und die er 1845 in »Streif- und Jagdzüge durch die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas« veröffentlichte. Sie gehören unzweifelhaft zu den authentischsten Berichten über die Pionierzeit Amerikas im 19. Jahrhundert. Vor allem in Europa waren Informationen über die Neue Welt rar.
Als Gerstäcker 1843 das Heimweh packte, verdiente er sich als Hotelier das nötige Geld für die Rückreise. Er ließ sich in Dresden nieder, fertigte Übersetzungen bekannter Autoren aus dem Englischen an und veröffentlichte seine ersten schriftstellerischen Arbeiten in verschiedenen Zeitschriften. Hier entstanden auch seine ersten Abenteuerromane »Die Regulatoren von Arkansas« (1846) und »Die Flusspiraten des Mississippi« (1847), die schnell mehrere Auflagen erreichten und bald in Französisch, Englisch, Holländisch und Russisch erschienen. Neben der spannungsgeladenen, abenteuerlichen Handlung schilderte Gerstäcker hier auch die stürmischen Entwicklungsjahre der jungen amerikanischen Nation, deren Zivilisationsgrenzen sich immer weiter nach Westen verschoben.
Gerstäcker nahm auch regen Anteil am politischen Geschehen in Deutschland; so setzte er sich während der revolutionären Ereignisse um 1848 für die neuen demokratischen Ideen ein. Obwohl Gerstäcker 1845 geheiratet und eine Familie gegründet hatte, war das Fernweh stärker. Mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Parlamentes in Frankfurt und der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung brach er im Frühjahr 1849 erneut auf und reiste nach Südamerika, dann weiter nach Kalifornien. Dort erlebte er den Goldrausch und versuchte sich selbst als Goldgräber, verdiente sein Geld aber auch als Holzfäller und Lebensmittelhändler. Von San Francisco aus durchquerte er per Schiff den Pazifik mit Stationen auf Hawaii und Tahiti. Es schloss sich eine größere Rundreise auf dem australischen Kontinent an. Über Java kehrte Gerstäcker erst 1852 wieder nach Deutschland zurück. Da seine Familie inzwischen durch seine veröffentlichten Werke finanziell abgesichert war, unternahm Gerstäcker 1860 eine zweite Südamerika-Reise. Auf der Rückreise erhielt er jedoch die traurige Nachricht vom Tod seiner Frau. Daheim stürzte er sich in seine schriftstellerische Arbeit; neben dem javanischen Sittenbild »Unter dem Äquator« (1861) und dem Reisebericht »Achtzehn Monate in Süd-Amerika« (1862) entstanden weitere Erzählungen und unzählige Beiträge für Zeitschriften, in denen er sich mitunter auch dem Schicksal der deutschen Auswanderer, dem amerikanischen Bürgerkrieg und der Befreiung der schwarzen Sklaven widmete, ohne jedoch tiefgreifende geistig-politische Zusammenhänge herauszuarbeiten. Zunehmend bediente Gerstäcker eine Leserschaft, die eine mehr oberflächliche Unterhaltungsliteratur verlangte.
Gerstäcker hatte inzwischen einen solchen Ruf als anerkannter Reiseschriftsteller, dass er auf Einladung Herzog Ernsts II. von Sachsen-Coburg und Gotha mit einer Reisegesellschaft (u. a. mit dem Naturforscher Alfred Brehm) 1862 die Kulturdenkmäler in Ägypten und die Länder der Habab, Mensa und Bogos besuchte. Der Herzog nutzte die Kulturreise allerdings auch zur Großwildjagd. Ein Jahr später heiratete Gerstäcker ein zweites Mal. Im Sommer 1867 brach er zu seiner letzten Reise auf, die ihn in die USA, nach Mexiko, die Karibik und Venezuela führte. Auch diese Erlebnisse verwertete er in zahlreichen Erzählungen und Zeitschriftenbeiträgen. 1869 zog er mit der Familie nach Braunschweig und war noch kurzzeitig Kriegsberichterstatter im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Ein Jahr später wollte Friedrich Gerstäcker zu einer Asien-Reise aufbrechen, doch noch während der Vorbereitungen starb er am 31. Mai 1872 in Braunschweig im Alter von nur 56 Jahren.
Nach seinem Tod erschienen seine »Gesammelten Schriften« in 45 (!) Bänden. Doch der Erfolgsautor geriet bald in Vergessenheit. Im 20. Jahrhundert wurden seine Werke meist als Jugendliteratur abgetan – abgesehen von einer kleinen Renaissance in den 1960er Jahren als mit den Karl-May- und zwei Gerstäcker-Verfilmungen das Wildwest-Interesse groß war. Seit Jahren sucht man Gerstäcker jedoch vergebens in den größeren Verlagen; gedruckte Exemplare sind meist nur noch antiquarisch erhältlich. Allerdings kann der interessierte Leser auf zahlreiche ePub-Ausgaben zugreifen. 2016 musste das Gerstäcker-Museum in Braunschweig schließen. An seinem Geburtshaus in Hamburg und seinem Wohnhaus in Braunschweig erinnern immerhin eine Plakette bzw. eine Infotafel an den Schriftsteller. Seit 1947 wird außerdem alle zwei Jahre der »Friedrich-Gerstäcker-Preis« für Jugendliteratur verliehen. Mit dem ältesten Jugendbuchpreis der Bundesrepublik werden Werke ausgezeichnet, die für Toleranz und Weltoffenheit werben.
Ganz anders ehrt Amerika den Abenteuerschriftsteller: In Arkansas wurde Friedrich Gerstäcker 1957 posthum zum Ehrenbürger erklärt und seit 1986 gilt dort zudem sein Geburtstag, der 10. Mai, als »Friedrich Gerstäcker Day«.
Wie also Friedrich Gerstäcker zu seinem 150. Todestag die Referenz erweisen? Neuerscheinungen zu dem Jubiläum sucht man vergebens; also werde ich in den nächsten Wochen meine alten Ausgaben (meist aus den Verlagen Neues Leben und Kultur und Fortschritt) wieder einmal zur Hand nehmen – auch wegen der eigenen Jugenderinnerungen.
Übrigens wurde Karl May in den 1980er Jahren auch in der DDR »gesellschaftsfähig«, als im Verlag Neues Leben die »Karl-May-Edition« gestartet wurde, die nach der Wende bis zum Verlagsende 2001 (insgesamt 66 Bände im dunkelgrünen Outfit) fortgesetzt wurde.