Die US-amerikanische Schriftstellerin Donna Leon, am 28. September 1942 in Montclair/New Jersey geboren, hat 26 Jahre lang (von 1981 bis 2007) in Venedig gelebt und seit 1992 Jahr für Jahr einen neuen in Venedig spielenden Kriminalroman geschrieben. Im Mai dieses Jahres erschien mit »Milde Gaben« bereits ihr einunddreißigster Krimi, alle mit dem sympathischen Commissario Guido Brunetti als Protagonisten, mit dem sie ein ebenbürtiges italienisches Pendant zum französischen Kollegen Maigret geschaffen hat.
Zunächst hatte Leon in New Jersey Englisch und englische Literatur studiert. Im Alter von 23 Jahren verließ sie Amerika und lebte bis heute ständig im Ausland. Es war der Beginn eines äußerst wechselvollen Lebens. Sie siedelte nach Italien über und setzte in Perugia und Siena ihr Studium fort. Anschließend ging sie nach Rom, wo sie als Reiseleiterin arbeitete. Doch bald verließ sie Italien wieder, um in London als Werbetexterin ihr Brot zu verdienen. Nach London folgte die Schweiz, wo sie als Lehrerin an einer amerikanischen Schule beschäftig war. Ihre Lehrertätigkeit setzte sie dann im Iran, in China und in Saudi-Arabien fort.
Im Jahr 1981 kehrte Leon nach Italien zurück und erklärte es zu ihrer Wahlheimat. Sie ließ sich in Venedig nieder. Bis 1995 war sie als Professorin für englische und amerikanische Literatur an der Außenstelle der Universität Maryland auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Vicenza tätig. Erst mit rund fünfzig Jahren fing sie an zu schreiben. Und das eher zufällig. Während eines Besuchs im venezianischen Opernhaus La Fenice ereiferte sich ihr Begleiter: »Ich könnte den Dirigenten umbringen!« Donna Leon beruhigte ihn: »Ich erledige das für dich, aber in einem Roman.« Das Resultat war der Roman »Death at La Fenice«, der 1992 erschien. Ein Jahr später in deutscher Übersetzung als »Venezianisches Finale«. Bereits mit ihrem Erstling erzielte Leon ihren literarischen Durchbruch; so wurde sie mit dem japanischen Suntory-Preis geehrt.
Aus diesem erfolgreichen Auftakt wurde eine Reihe, die im Jahrestakt literarischen Zuwachs bekam. Ihre Krimis erscheinen seitdem im Diogenes Verlag und erreichten stets Spitzenplätze in den internationalen Bestsellerlisten. Die meisten ihrer Krimis spielen in Venedig. Neben der spannenden Handlung und der Auflösung des Falls (meist Korruption, Betrug oder Mafiamethoden) baut Leon auch oft gesellschaftskritische Töne in ihre Romane ein. Die private Familienidylle ihres Kommissars bildet dabei den wohltuenden Gegenpol zu der kriminellen Seite der Lagunenstadt. Gewalt kommt in ihren Romanen selten vor. »Mir geht es um die Aufklärung, um die Darstellung der Zusammenhänge – nicht um Blut und spritzende Hirnmasse«, äußerte sie einmal in einem Interview.
Seit Jahren hat Donna Leon ihren festen Wohnsitz in der Schweiz. Venedig stattet sie zwar regelmäßig, meist aber nur noch kurze Besuche ab. Sie kennt die Lagunenstadt in und auswendig und muss für einen neuen Roman nicht extra eine Tatortbesichtigung vornehmen.
Leons Romane wurden bisher in 35 Sprachen übersetzt; auf ihren Wunsch hin jedoch nicht ins Italienisch, damit die Venezianer, von denen sie ihre Geschichten und Ideen hat, weiterhin unvoreingenommen mit ihr umgehen. Sie möchte eine von ihnen sein. Zur großen Popularität – vor allem in Deutschland – trugen auch die bisher 26 TV-Verfilmungen bei. Seit 2000 ermittelte Commissario Brunetti im Ersten Deutschen Fernsehen. In den ersten vier Fällen der Reihe wurde der Ermittler noch von Joachim Król verkörpert; ab 2003 übernahm Uwe Kockisch die Rolle. Die letzte Folge wurde am 25. Dezember 2019 ausgestrahlt; aus ihrer Handlung ging jedoch nicht hervor, dass die Reihe endet.
Ihre Krimi-Reihe hat Donna Leon dennoch fortgesetzt. Commissario Brunettis neuester, einunddreißigster Fall »Milde Gaben« beginnt zunächst recht harmlos. Über Venedig hat sich ebenfalls die Ruhe der Pandemie ausgebreitet. Die Touristen bleiben weg, Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Selbst die Straftaten sind auf einem Tiefststand. Da wird Brunetti – natürlich vollständig geimpft – von einer alten Bekannten, einer ehemaligen Nachbarstochter, um einen Freundschaftsdienst gebeten. Diese macht sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter und bittet den Kommissar, verdeckt zu ermitteln. Natürlich ist Brunetti hilfsbereit, doch wird die Tochter wirklich bedroht, oder sind es nur übertriebene mütterliche Befürchtungen? Nach einem Einbruch in die Tierarztpraxis der Tochter stößt Brunetti jedoch auf einen Sumpf von Scheingeschäften, Unterschlagungen und Steuerhinterziehungen. Nur langsam kommen die Ermittlungen in Fahrt, doch wie so oft schon führt seine Intuition Brunetti schließlich zur Auflösung des Falles. Der Leser darf dabei jeden einzelnen seiner Gedankengänge mitverfolgen.
Zu ihrem 80. Geburtstag gibt Donna Leon, deren Name übrigens kein Pseudonym ist, auch etwas aus ihrem Privatleben preis. In »Ein Leben in Geschichten« erzählt sie von den Stationen ihres Lebens. Dabei kehrt sie weit zurück zu ihren Wurzeln in New Jersey, wo sie sich an das Farmleben der Großeltern, ihren ersten Schultag, an die familiären Weihnachtsfeiern oder ihre Teenager-Liebe für klassische Musik erinnert. Danach berichtet sie unter »Drugs, Sex, and Rock ’n’ Roll« von ihren Erlebnissen im Iran, den Gelegenheitsjobs in China oder von ihrem akademischen Jahr in Saudi-Arabien. Einige Geschichten sind Italien und der Schweiz gewidmet, wo sie z. B. in Venedig auf der Suche nach dem perfekten Cappuccino ist, oder wie sie im Gotthardtunnel stets eine kriminelle Fantasie beschleicht. Die autobiografischen Essays – kurzweilig, humorvoll und ehrlich – beweisen das bunte Leben von Donna Leon, Geschichte für Geschichte. Und sie gesteht, dass die Vorstellung, sich mit achtzig endgültig an einem Ort niederzulassen und nur noch eine Sache zu tun, für sie überhaupt keinen Reiz hat.
Donna Leon: Milde Gaben, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 343 S., 25 €.
Donna Leon: Ein Leben in Geschichten, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 160 S., 22 €.