Da ist nun die alle fünf Jahre mit viel Pomp und Power inszenierte Schau zu Ende gegangen. Die Documenta 15 in Kassel hat in hundert Tagen fast 800.000 Menschen als Publikum auf die Beine gebracht. Aber die Medien hatten diesmal nur ein dort etabliertes Kunstwerk im Visier. Alle sprachen nur davon. Außer dem tatsächlich anwesenden Publikum, das großes Interesse an allem anderen zeigte. Der aus einem politisch problematisch fragilen Indonesien gekommene, zweifellos scharfe antiisraelische Affront regte eine Medienöffentlichkeit so auf, dass sie alles andere ignorierte. Was außerdem dort an Sichtbarem zu erleben war – kaum eine Kunstkritik wollte sich damit befassen. Und genau das war einmal ganz selbstverständlich. So, wie Literatur und Musik nach künstlerischen Gesichtspunkten beurteilt werden, geschah es einmal auch mit Bildender Kunst.
Blicken wir einfach zurück. Zeiten unmittelbarer Bilderlebnisse waren das einst auch beim Kasseler Groß-Event. Ganz einfach: Als bildende Kunst noch erfassbare Form auf hohem künstlerischem Niveau annahm. Und zu schlimmen Zeiten von Dogmatikern sogar ein angeblicher Formalismus angezählt wurde, der das überbetont haben sollte. Menschen vorgeschrittenen Alters mit noch oder gerade wieder intaktem Gedächtnis können ein Lied davon singen: Was Kunst sei – das hatte speziell der Sozialistische Realismus deutlich markiert. Marx und Engels standen mit »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« Pate. Und »Basis und Überbau« waren Schlagworte, die den Überbau nur recht flach und platt dachten. Lenins Variante einer »Widerspiegelungstheorie« wurde auf einen platten Abklatsch von Realität reduziert.
Aber steuerte das tatsächlich die so üppig sprießenden Kunsttalente? Oder gedieh nicht ganz organisch von den Leitfäden weg ein besonderes Kunstbiotop? Heute staunen Jüngere fast befremdet, was das denn eigentlich war. Was die Altvorderen da Verrufenes getan haben sollten. Und dabei umfassend eine recht anschauliche Bildkultur entwickelten. Eine heute relativ spärlich gesäte »Angewandte Kunst« gehörte dazu. Also eine im täglichen Leben vielerorts ansehbare Ästhetik mit tieferem Sinn. Als Kunst am Bau. Als Publizierung aller Art: vom Plakat über Bücher bis ins Fernsehen. Als offizielle Ausstellungen von heute ungeahnter Breitenwirkung. So programmatisch geprägt wie damals, befremden sie heute. Die Enge eines Dogmas streiften sie aber bald ab. Ihre Kataloge regen heute wieder an und auf. Und Vergleiche werden provoziert.
Heute gibt es durch Privatinitiative ein Puzzle von vielfältigen Ausstellungsaktivitäten. So weit so gut. Von der Gesellschaft in Form des Staates wird da jedoch wenig initiiert. Ein Auftragswesen zerfasert in spezielle Einzel-Förderung. Weit ins Ausland hinaus gipfelt das in so etwas wie der Tradition der »documenta« Kassel. Da gab es seit der documenta 9 im Jahr 1992 immer wieder bildintensive Groß-Erlebnisse. Kuratorisch in Namen wie Jan Hoet und Catherine David, Okwui Enwezor und Roger Buergel manifest. Die politische Haftung für den einseitig zum Abstrakten orientierten Kurs des Werner Haftmann war überwunden. Aber was ist heute? Eine maßlose Erweiterung des Kunstbegriffs weg von der Form entwickelt die Bildende Kunst zum kulturalistischen Spektakel. Zuviel Video und andere filmische Elemente lösen eine dauerhafte Formgebung auf.
Aber wer kommt da von uns selbst überhaupt zur Geltung – und damit zur Wirkung? Was ist heute deutsche Kunst? Wer macht sich einen Namen? Man sonnt sich im globalen Touch. Kuratiert wird von draußen. Und man ist schockiert von Gewittereinschlägen, wenn dort die Witterung umschlägt. Die hiesigen Gegenwärtigen stolpern immer wieder über kreuz und quer gespannte neue Leitlinien. Vom überdrehten Kunstmarkt gespannt. Da erst geraten sie in Bewegung. Ungewollt trendmäßig sind sie konditioniert. Sie changieren so oder so. Doch der Weg führt hin zum Abschied von Formfindung. Ohne diese aber kommt Kunstleistung nun mal so wenig aus wie alle Natur. Bildkunst muss Gestalt annehmen.
Fotografiert wird von ihnen heute wie die Weltmeister. Gezeichnet und modelliert und gemalt wird leider unter dem für die deutsche Kunstübung der letzten hundert Jahre bekannten Niveau. Geschrieben und geredet und gespielt wird im Akkord meisterlich. Doch das visuell erfassbare Bildschaffen – wo ist es zu sehen? Gibt es neue skulpturale Denkmäler? Wo wird Architektur bildkünstlerisch veredelt? In den Expositionen der kleinen Galerien gibt es genug formwerdende Nischenkunst jenseits des Trends. Eine imaginäre Leitkultur orientiert aber gerade auf Inhalte. Und giert nach der immer neuen Provokation.
Nun erschallt das große Wehklagen der früheren Macher der documenta. Bazon Brock heult maßlos von »fundamentalistischem Totalitarismus«, der alles zur Kunst Sprießende tot mache. Im Radio-Gespräch im Deutschlandfunk mit dem Soziologen Heinz Bude erwähnt er aber mit keinem Wort konkrete Kunstwerke. Längst haben ihn aktuelle Vordenker wie Wolfgang Ullrich überholt. Die rufen nun satt von Resignation: »Autonom« war die Kunst nur, ehe sie in die Hände der Groß-Spekulanten fiel. Jetzt gehe das Licht aus, weil dadurch die künstlerische Energie für individuelle Spitzenleistungen fehle. Die Bildende Kunst wird mausetot gesagt. Doch wie einst der Roman und der Film beerdigt werden sollten, erinnern Ältere mit Schaudern.
Selbst auf dieser optisch mageren documenta gab es Lichtpunkte. Warum reden wir nicht über den 1986 geborenen und in Halle/Saale studierten Nino Bulling? Wie man hier in Kassel seine prägnanten Graphic Novels großflächig inszenieren konnte, setzt etwas fort, was William Kentridge einst kultivierte. Oder was der aus Barcelona mit INLAND-Kollektiv wirkende Mexikaner Erick Beltran als Erneuerer einer revolutionierenden Tradition seines Heimatlandes im Abseits des Sepulchral-Museums veranstaltet – wieso war das alles nicht erwähnenswert? Wo Anfeindungen mehr als Annäherungen zählen, wird es echter Kunst wahrlich zusätzlich schwer gemacht.