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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die verlorene Bildkultur

Da ist nun die alle fünf Jah­re mit viel Pomp und Power insze­nier­te Schau zu Ende gegan­gen. Die Docu­men­ta 15 in Kas­sel hat in hun­dert Tagen fast 800.000 Men­schen als Publi­kum auf die Bei­ne gebracht. Aber die Medi­en hat­ten dies­mal nur ein dort eta­blier­tes Kunst­werk im Visier. Alle spra­chen nur davon. Außer dem tat­säch­lich anwe­sen­den Publi­kum, das gro­ßes Inter­es­se an allem ande­ren zeig­te. Der aus einem poli­tisch pro­ble­ma­tisch fra­gi­len Indo­ne­si­en gekom­me­ne, zwei­fel­los schar­fe anti­is­rae­li­sche Affront reg­te eine Medi­en­öf­fent­lich­keit so auf, dass sie alles ande­re igno­rier­te. Was außer­dem dort an Sicht­ba­rem zu erle­ben war – kaum eine Kunst­kri­tik woll­te sich damit befas­sen. Und genau das war ein­mal ganz selbst­ver­ständ­lich. So, wie Lite­ra­tur und Musik nach künst­le­ri­schen Gesichts­punk­ten beur­teilt wer­den, geschah es ein­mal auch mit Bil­den­der Kunst.

Blicken wir ein­fach zurück. Zei­ten unmit­tel­ba­rer Bil­d­er­leb­nis­se waren das einst auch beim Kas­se­ler Groß-Event. Ganz ein­fach: Als bil­den­de Kunst noch erfass­ba­re Form auf hohem künst­le­ri­schem Niveau annahm. Und zu schlim­men Zei­ten von Dog­ma­ti­kern sogar ein angeb­li­cher For­ma­lis­mus ange­zählt wur­de, der das über­be­tont haben soll­te. Men­schen vor­ge­schrit­te­nen Alters mit noch oder gera­de wie­der intak­tem Gedächt­nis kön­nen ein Lied davon sin­gen: Was Kunst sei – das hat­te spe­zi­ell der Sozia­li­sti­sche Rea­lis­mus deut­lich mar­kiert. Marx und Engels stan­den mit »Das Sein bestimmt das Bewusst­sein« Pate. Und »Basis und Über­bau« waren Schlag­wor­te, die den Über­bau nur recht flach und platt dach­ten. Lenins Vari­an­te einer »Wider­spie­ge­lungs­theo­rie« wur­de auf einen plat­ten Abklatsch von Rea­li­tät reduziert.

Aber steu­er­te das tat­säch­lich die so üppig sprie­ßen­den Kunst­ta­len­te? Oder gedieh nicht ganz orga­nisch von den Leit­fä­den weg ein beson­de­res Kunst­bio­top? Heu­te stau­nen Jün­ge­re fast befrem­det, was das denn eigent­lich war. Was die Alt­vor­de­ren da Ver­ru­fe­nes getan haben soll­ten. Und dabei umfas­send eine recht anschau­li­che Bild­kul­tur ent­wickel­ten. Eine heu­te rela­tiv spär­lich gesä­te »Ange­wand­te Kunst« gehör­te dazu. Also eine im täg­li­chen Leben vie­ler­orts anseh­ba­re Ästhe­tik mit tie­fe­rem Sinn. Als Kunst am Bau. Als Publi­zie­rung aller Art: vom Pla­kat über Bücher bis ins Fern­se­hen. Als offi­zi­el­le Aus­stel­lun­gen von heu­te unge­ahn­ter Brei­ten­wir­kung. So pro­gram­ma­tisch geprägt wie damals, befrem­den sie heu­te. Die Enge eines Dog­mas streif­ten sie aber bald ab. Ihre Kata­lo­ge regen heu­te wie­der an und auf. Und Ver­glei­che wer­den provoziert.

Heu­te gibt es durch Pri­vat­in­itia­ti­ve ein Puz­zle von viel­fäl­ti­gen Aus­stel­lungs­ak­ti­vi­tä­ten. So weit so gut. Von der Gesell­schaft in Form des Staa­tes wird da jedoch wenig initi­iert. Ein Auf­trags­we­sen zer­fa­sert in spe­zi­el­le Ein­zel-För­de­rung. Weit ins Aus­land hin­aus gip­felt das in so etwas wie der Tra­di­ti­on der »docu­men­ta« Kas­sel. Da gab es seit der docu­men­ta 9 im Jahr 1992 immer wie­der bild­in­ten­si­ve Groß-Erleb­nis­se. Kura­to­risch in Namen wie Jan Hoet und Cathe­ri­ne David, Okwui Enwe­zor und Roger Buer­gel mani­fest. Die poli­ti­sche Haf­tung für den ein­sei­tig zum Abstrak­ten ori­en­tier­ten Kurs des Wer­ner Haft­mann war über­wun­den. Aber was ist heu­te? Eine maß­lo­se Erwei­te­rung des Kunst­be­griffs weg von der Form ent­wickelt die Bil­den­de Kunst zum kul­tu­ra­li­sti­schen Spek­ta­kel. Zuviel Video und ande­re fil­mi­sche Ele­men­te lösen eine dau­er­haf­te Form­ge­bung auf.

Aber wer kommt da von uns selbst über­haupt zur Gel­tung – und damit zur Wir­kung? Was ist heu­te deut­sche Kunst? Wer macht sich einen Namen? Man sonnt sich im glo­ba­len Touch. Kura­tiert wird von drau­ßen. Und man ist schockiert von Gewit­ter­ein­schlä­gen, wenn dort die Wit­te­rung umschlägt. Die hie­si­gen Gegen­wär­ti­gen stol­pern immer wie­der über kreuz und quer gespann­te neue Leit­li­ni­en. Vom über­dreh­ten Kunst­markt gespannt. Da erst gera­ten sie in Bewe­gung. Unge­wollt trend­mä­ßig sind sie kon­di­tio­niert. Sie chan­gie­ren so oder so. Doch der Weg führt hin zum Abschied von Form­fin­dung. Ohne die­se aber kommt Kunst­lei­stung nun mal so wenig aus wie alle Natur. Bild­kunst muss Gestalt annehmen.

Foto­gra­fiert wird von ihnen heu­te wie die Welt­mei­ster. Gezeich­net und model­liert und gemalt wird lei­der unter dem für die deut­sche Kunst­übung der letz­ten hun­dert Jah­re bekann­ten Niveau. Geschrie­ben und gere­det und gespielt wird im Akkord mei­ster­lich. Doch das visu­ell erfass­ba­re Bild­schaf­fen – wo ist es zu sehen? Gibt es neue skulp­tu­ra­le Denk­mä­ler? Wo wird Archi­tek­tur bild­künst­le­risch ver­edelt? In den Expo­si­tio­nen der klei­nen Gale­rien gibt es genug form­wer­den­de Nischen­kunst jen­seits des Trends. Eine ima­gi­nä­re Leit­kul­tur ori­en­tiert aber gera­de auf Inhal­te. Und giert nach der immer neu­en Provokation.

Nun erschallt das gro­ße Weh­kla­gen der frü­he­ren Macher der docu­men­ta. Bazon Brock heult maß­los von »fun­da­men­ta­li­sti­schem Tota­li­ta­ris­mus«, der alles zur Kunst Sprie­ßen­de tot mache. Im Radio-Gespräch im Deutsch­land­funk mit dem Sozio­lo­gen Heinz Bude erwähnt er aber mit kei­nem Wort kon­kre­te Kunst­wer­ke. Längst haben ihn aktu­el­le Vor­den­ker wie Wolf­gang Ull­rich über­holt. Die rufen nun satt von Resi­gna­ti­on: »Auto­nom« war die Kunst nur, ehe sie in die Hän­de der Groß-Spe­ku­lan­ten fiel. Jetzt gehe das Licht aus, weil dadurch die künst­le­ri­sche Ener­gie für indi­vi­du­el­le Spit­zen­lei­stun­gen feh­le. Die Bil­den­de Kunst wird mau­se­tot gesagt. Doch wie einst der Roman und der Film beer­digt wer­den soll­ten, erin­nern Älte­re mit Schaudern.

Selbst auf die­ser optisch mage­ren docu­men­ta gab es Licht­punk­te. War­um reden wir nicht über den 1986 gebo­re­nen und in Halle/​Saale stu­dier­ten Nino Bul­ling? Wie man hier in Kas­sel sei­ne prä­gnan­ten Gra­phic Novels groß­flä­chig insze­nie­ren konn­te, setzt etwas fort, was Wil­liam Ken­tridge einst kul­ti­vier­te. Oder was der aus Bar­ce­lo­na mit INLAND-Kol­lek­tiv wir­ken­de Mexi­ka­ner Erick Bel­tran als Erneue­rer einer revo­lu­tio­nie­ren­den Tra­di­ti­on sei­nes Hei­mat­lan­des im Abseits des Sepulchral-Muse­ums ver­an­stal­tet – wie­so war das alles nicht erwäh­nens­wert? Wo Anfein­dun­gen mehr als Annä­he­run­gen zäh­len, wird es ech­ter Kunst wahr­lich zusätz­lich schwer gemacht.