»Wenn jeder Mensch – ausgehend von der Idealvorstellung, dass es bei der Beurteilung einer Person keine Unterschiede von Mann und Frau braucht –, wenn also jeder Mensch den eigenen Talenten angemessene Bereiche auswählt und darin tätig wird, dann müssten doch wohl Frauen wie Männer in allen Wissenschaften und in den meisten Berufen in gleicher Weise erfolgreich sein.«
Wer vermutet, dieses Zitat stammt aus einem feministischen Parteiprogramm zu einer bevorstehenden Wahl, der liegt völlig daneben. Es ist eine Passage aus einem Essay, den die japanische Dichterin Yosano Akiko (1878-1942) schon vor mehr als hundert Jahren verfasst hat. Sie war nicht nur eine Vorkämpferin für Frauenrechte, sondern auch eine Schlüsselfigur des kulturellen Lebens ihres Landes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Bemerkenswert ist ihre Biografie. Akiko stammte aus einer Kaufmannsfamilie aus Sakai nahe Osaka. Mit elf Jahren führte sie bereits die Geschäfte der Familie und begann schon früh mit dem Schreiben. Später kümmerte sie sich als dreizehnfache Mutter um ihren arbeitslos gewordenen Ehemann und sicherte durch ihr Schreiben den Lebensunterhalt der großen Familie. Bekannt wurde sie zunächst mit ihren Gedichten und Romanen, ehe sie später vor allem als Publizistin hervortrat. Ihre essayistischen Texte erschienen in ununterbrochener Folge über rund dreißig Jahre hinweg in den verschiedensten Frauenmagazinen. So entstanden bis 1934 fünfzehn Prosa-Anthologien, von tagebuchartigen Notizen über Glossen bis zu längeren Abhandlungen.
Ihre frühen Essays aus den 1910er-Jahren zeigen eine progressive Sicht auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Akiko verteidigte darin die Idee einer Gesellschaft, in der Frauen finanziell unabhängig sein sollten. Selbstbewusst und radikal stellte sie drängende Fragen zur Gleichstellung von Mann und Frau und gab Antworten, die noch heute ins Schwarze treffen.
Mit dem Essayband »Männer und Frauen« macht der Manesse Verlag erstmals auf Deutsch mit der vergessenen japanischen Feministin bekannt. In den dreizehn Texten, unterteilt in vier Kapitel, werden Akikos wichtigste Themen vorgestellt – angefangen von persönlichen Beiträgen über ihre Situation als Schriftstellerin und Mutter bis hin zu Fragen der Demokratisierung der Gesellschaft, des Frauenwahlrechts oder des Erziehungswesens. Den Abschluss bilden aus aktuellem Anlass zwei Fundstücke »Aus der Grippestation« (1918) und »Angst vor dem Tod« (1920), in denen Akiko ihre Pandemieerfahrungen während der Spanischen Grippe schilderte, die vor hundert Jahren auch in Japan wütete.
Eine umfangreiche biografische Chronik und ein Nachwort des Herausgebers Eduard Klopfenstein ergänzen die Auswahl, die für die deutsche Leserschaft eine Entdeckung der couragierten Demokratin und Feministin ist. Der bekannte Japanologe gibt einen kompakten Überblick zur Entwicklung und Wirkung der Schriftstellerin, wobei ihr essayistisches Schaffen im Mittelpunkt steht.
Yosano Akiko: Männer und Frauen – Essays, Manesse Verlag, München 2022, 22 €.