Der Schriftsteller Marko Martin verweigerte als 19-Jähriger vor 30 Jahren den NVA-Dienst, verschwand keinesfalls im Knast, sondern ging in die Bundesrepublik. Er publizierte jahrelang in der Welt und hat jetzt die Kultur seiner Jugend wiederentdeckt, weil er meint, dass die bedeutenden Autoren seiner Zeit und seines Ostens vergessen wurden und in der heutigen Bundesrepublik nur eine geringe Rolle spielen. Das ist ein löbliches Vorhaben, in einer Zeit, da gern allein die Geschichte der bundesdeutschen Literatur von Böll bis Grass, von Bachmann bis Siegfried Lenz vorgeführt wird. Er zitiert die DDR-Kinder- und Jugendliteratur in hohen Auflagen und bester Qualität von einst, die Wolfgang Schreyer und Ludwig Renn, Alex Wedding und Benno Pludra publizierten. Vor allem aber ruft er von Wolf Biermann bis zu Reiner Kunze, von Ulrich Plenzdorf bis Solo Sunny die Helden seiner Jugend ins Bewusstsein; die eigentlich nicht vergessen sind, sondern gerade im Umfeld des 30. Jahrestages immer gern und unablässig zitiert werden. Es gibt natürlich nicht wenige vergessene Ost-Autoren, die aber sieht er als Parteibarden an, hat sie sicherlich nie gelesen, obwohl sie überaus beliebt waren, die Hermann Kant und Günter Görlich, zumindest hören sich seine Kurz-Urteile so an. Seine Heroen hingegen zitiert er nicht selten fehlerhaft; der berühmte Satz von Solo Sunny »Ist ohne Frühstück« gilt nach seiner Meinung ihrem Geliebten, vom Schauspieler Alexander Weigl im Film verkörpert. In Wirklichkeit ist’s ein namenloser One-Night-Stand. Die Brasch-Brüder sortiert er auch mal falsch. Peter Brasch, der jüngste Bruder, ist bei ihm der zweite. Vor allem aber teilt Martin gern in befleckte Künstler (mit Stasi-Kontakt) und die hehren, die der Bundesrepublik und dem christlichen Weltbild dienen. Gundi Gundermann beispielsweise kommt nur mal sehr kurz vor, obwohl er die eigentlich exemplarische Ostbiografie bietet: Gewiss, er ist ja befleckt. Ganz interessant, wie Martin die Geschichte von Jurek Becker und seinem Vater erzählt, bei ihm könnte man meinen, Becker gehöre von Beginn an zu den schwer verfolgten jungen Autoren der DDR, weil Jude. Christoph Hein und Volker Braun hingegen seien unsichere Kantonisten im Sinne der Demokratie. Brauns berühmtes Gedicht »Das Eigentum« von 1989 sei eine DDR-Reinwaschung par excellence, und von Christoph Hein hört man bei Martin nie, dass er eine große Philippika wider die DDR-Zensur auf einem offiziellen DDR-Schriftstellerkongress gehalten habe. Leider ordnet Martin auch alle unbewiesenen IM-Kader mit ihren Decknamen, de Maiziere als IM Czerni und Gysi selbstverständlich als IM Notar, in die Hölle der Stasi-Obristen. Westkorrespondenten sind bestenfalls berühmt und mutig, nie zwielichtig oder gar geheimdiensteifrig. Man ist bei diesem Buch fast an manches betonideologische Frühwerk der DDR erinnert. Ursula Karusseit wird mit der Oberspießermutter der BRD, Mutter Beimer, verglichen. Brigitte Reimann, die bis an ihr Lebensende eine glühende, wenn auch wider den Stachel löckende Sozialistin war, ist bei Marko Martin eine glühende Bundesdeutsche, quasi eine Kampfgefährtin von Ines Geipel und Vera Lengsfeld, die heutzutage immer stramm & eifrig reaktionär argumentieren. Immerhin erfährt man aus diesem wahrlich umfangreichen Buch, dass Maxie Wander in ihrem berühmten Porträtbuch »Guten Morgen, du Schöne« ganz reale Menschen, bis heute berühmt, porträtierte.
Bemerkenswert, welche DDR-Autoren bei Martin, der doch einen ganzen Aufriss der DDR zeigen will, nur am Rande vorkommen – natürlich Peter Hacks oder auch Stefan Heym. Heym kreidet er als Hauptsünde an, dass er sich für die PDS als Bundestagskandidat aufstellen ließ. Den schandbaren Umgang mit jüdischen Schriftstellern, die nach 1945 in die DDR aus gutem Grund zurückkehrten, wirft Martin manchem SED-Oberen zu Recht vor. Was er vergisst, sind jene Intellektuellen, die im Umfeld der überaus populären Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihr Feld beackerten. Hier seien nur die Namen Renate Holland-Moritz, Ernst Röhl, Hansgeorg Stengel, Lothar Kusche genannt und ebenjene in die DDR zurückgekehrten Schriftsteller mosaischer Herkunft, die die Chuzpe der 1920er Jahre in die junge DDR pflanzten und für die oben Genannten echte Lehrer waren: Berta Waterstradt, Georg Honigmann oder Jürgen Kuczynski. So praktiziert Martin genau jenen Stil der Verdrängung – was nicht in meinen Kram passt, erwähne ich nicht – mit dem der Autor in seinem Buch eigentlich abrechnen will.
Marko Martin: »Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens«, Tropen-Verlag Label von Klett-Cotta J.G. Cotta’sche Buchhandlung, 426 Seiten, 20 €