Die Morde der »NSU«-Terrorgruppe und der verheerende Anschlag des Islamisten Anis Amri auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 haben einiges gemeinsam: Da ist zum einen der – rassistisch oder pseudoreligiös grundierte – Hass auf bestimmte Menschengruppen als treibendes Motiv der Täter. Zum anderen agierten etliche V-Leute der Verfassungsschutzämter im Umfeld sowohl der »NSU« als auch des Attentäters Amri. Hätten diese V-Leute die zuständigen »Sicherheitsbehörden« nicht rechtzeitig warnen können, so dass die Terrorakte hätten verhindert werden können? Die Antwort auf diese – nicht nur aus der Sicht der Opfer – allzu berechtigte Frage suchen seit Jahren mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse auf Bundes- wie auf Landesebene. Ein naiver Zeitgenosse würde nun erwarten, dass der Verfassungsschutz und die anderen involvierten »Sicherheitsbehörden« alles tun, um diese notwendige Aufklärungsarbeit nach Kräften zu unterstützen. Aber weit gefehlt: Die Aufarbeitung des »NSU«-Skandals ist eine einzige Geschichte gezielter staatlicher Vertuschung – von der Aktenvernichtung bis hin zur Weigerung, die Verquickung von V-Leuten in das Tatgeschehen und seine Hintergründe zu offenbaren. Das gilt in gleicher Weise für die Aufklärung des Falles Amri, der einen Sattelzug in den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz lenkte.
Als der Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestages einen Verfassungsschutzbediensteten vernehmen wollte, der für die Führung der V-Personen in der Berliner Islamistenszene verantwortlich ist, verweigerte das Bundesinnenministerium, diesen V-Person-Führer namentlich zu benennen. Die Bundestagsfraktionen der Linken, der Grünen und der FDP stellten daraufhin beim Bundesverfassungsgericht den Antrag, das Ministerium zur Nennung dieses V-Person-Führers zu verpflichten (»Organstreitverfahren«).
Am 3. Februar 2021 wurde nun vom Bundesverfassungsgericht mitgeteilt, dass der Antrag abgelehnt ist (Aktenzeichen 2 BvE 4/18). Beim Einsatz verdeckter Quellen wie in diesem Fall, so die Begründung, »wird das parlamentarische Untersuchungsrecht durch die Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste als Belang des Staatswohls sowie durch die Grundrechte der betreffenden V-Personen begrenzt«. Dieser V-Person sei schließlich seitens des Verfassungsschutzes umfassende Vertraulichkeit zugesichert worden. Dem Gericht erschien es deshalb als »nachvollziehbar, dass die V-Person die Vernehmung ihrer Führungsperson im Untersuchungsausschuss trotz der vorhandenen Möglichkeiten des Geheimschutzes als unzumutbare Einschränkung, gar Bruch der ihr zugesicherten Vertraulichkeit verstehen und in der Folge die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz aufkündigen werde«.
Diese Begründung spricht nicht gerade für eine profunde Kenntnis der Realität des V-Leute-Einsatzes, eher für ein blindes Vertrauen der Verfassungsrichter in die Beteuerung von Regierungsvertretern, V-Leute seien schlichtweg »unverzichtbar« für die Aufklärung terroristischer oder »extremistischer« Bestrebungen. Dabei handelt es sich bei den V-Leuten regelmäßig nicht um engagierte Demokraten, sondern häufig um Kriminelle und hartgesottene Überzeugungstäter. Sie müssen zweifellos stets fürchten, dass sie enttarnt werden, von welcher Seite auch immer – und sorgen deshalb manchmal auf ihre Weise vor. Jedenfalls aus Nazikreisen ist bekannt, dass V-Leute ihren Gesinnungsgenossen nicht selten offenbarten, dass sie vom Staat angeworben worden sind. Ihr Salär wurde dann häufig zum Aufbau der Organisationsstruktur, zur Finanzierung von Propaganda oder zu ähnlichen Zwecken eingesetzt. Auf diese Weise hat der Verfassungsschutz, wie Rolf Gössner (in dem unten genannten Buch, S. 36 f.) schreibt, »rechtsextreme Szenen, Netzwerke, Organisationen und Parteien, die er lediglich beobachten soll, nicht etwa wirklichkeitsnah erfasst, beurteilt und geschwächt, sondern vielfach über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert, geschützt und bestärkt«. Es könne keine Rede davon sein, dass sich die V-Leute als zuverlässige Informationsquelle bewährt hätten – im Gegenteil: »Sie belügen und betrügen nicht nur die eigenen Leute, sondern oft auch die Behörden«, bemerkt der Sozialwissenschaftler Hajo Funke. »Unter dem Deckmantel der Geheimdienste können sie ungestört agieren, sie schützen dann nicht die Verfassung, sondern bekämpfen sie; sie profitieren vom Staat und schwächen ihn zugleich« (Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz, Hamburg 2018, S. 33).
Warum aber meinen die Verfassungsrichter und Richterinnen, dass die Gewährleistung unbedingter Vertraulichkeit gegenüber solchen zwielichtigen Gestalten im Interesse des »Staatswohls« geboten sei? Mit diesem »Staatswohl«, dass immerhin den Vorrang gegenüber dem verfassungsrechtlich verankerten Untersuchungsrecht des Parlaments genießen soll, ist offenbar etwas anderes gemeint: Verteidigt werden soll anscheinend der Nimbus des Verfassungsschutzes mit seinen fragwürdigen Überwachungspraktiken. Die Öffentlichkeit soll auch weiterhin glauben, dass diese Institution zur Bekämpfung des Terrorismus und des »Extremismus« unverzichtbar ist.
In seiner langen Geschichte hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte in vielen Fällen gegen den Machtanspruch staatlicher Instanzen verteidigt. Erinnert sei nur an das Volkszählungsurteil von 1983, mit dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Taufe gehoben wurde, oder an den Brokdorf-Beschluss von 1985 zur Bedeutung der Versammlungsfreiheit. Durch die Verhinderung der parlamentarischen Aufklärung zweifelhafter V-Leute-Einsätze agierten die Richter und Richterinnen in diesem Fall aber eher wie eine Art Staatsgerichtshof, der einer dunklen Seite der Macht seinen Segen erteilt.
Prof. Dr. Martin Kutscha hat bis 2013 Staatsrecht in Berlin gelehrt und kürzlich gemeinsam mit der VVN-Vorsitzenden Cornelia Kerth das Buch »Was heißt hier eigentlich Verfassungsschutz?« herausgegeben.