Vor wenigen Tage durfte die Welt erleben, dass endlich der letzte westliche Besatzungssoldat Afghanistan verlassen hat – fluchtartig, fast genau zwanzig Jahre, nachdem das US-amerikanische Imperium nebst dessen in Treue fest ergebenen Nato-Vasallen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen das Land am Hindukusch und seine Menschen entfesselt hatten. Diesem Menschen- und Völkerrechtsverbrechen fielen in den letzten zwanzig Jahren Abertausende afghanische Männer, Frauen, Kinder und Alte zum Opfer – ermordet, verstümmelt, vergewaltigt, gefoltert – und dies vielfach gerade auch durch diejenigen, die von vermeintlich zivilisierten, demokratischen Nationen entsandt worden waren mit dem Auftrag, Afghanistan Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Wohlstand zu bringen.
Legitimiert wurde der kriegerische Einfall in das Land am Hindukusch als Selbstverteidigung gegen einen Akt, den Helmut Schmidt als terroristisches »Mammutverbrechen« bezeichnet hatte – wobei es dabei offenbar nicht die geringste Rolle spielte, dass an den Terroranschlägen von New York und Washington am 11. September 2001 nicht ein einziger Afghane beteiligt war. Schon damals gab es weltweit Millionen Menschen, die diesen kriegerischen Willkürakt des US-Präsidenten George W. Bush und seiner Spießgesellen in der Nato nicht hinnehmen wollten und aufstanden, um ihre Stimme gegen Krieg und Terror zugunsten einer nichtmilitärischen Konfliktlösung zu erheben. Dazu zählten auch die vielen Tausend um den Frieden besorgten Bürgerinnen und Bürger, die sich am 13. Oktober 2001 in Stuttgart versammelt hatten, um gegen die wenige Tage zuvor gestartete US-Invasion in Afghanistan zu demonstrieren.
Als seinerzeit noch aktiver Soldat der Bundeswehr war ich aufgefordert worden, einen Beitrag zu dieser Kundgebung zu leisten. Meine Weigerung, dem am Hindukusch inszenierten Akt der Barbarei zuzustimmen, geschweige denn, mich daran zu beteiligen, begründete ich damals unter anderem mit folgenden Worten: »Selbstverständlich muss der mörderische Terrorismus eingedämmt und beseitigt werden; auch bin ich kein Anhänger fundamentalpazifistischer Auffassungen. Dennoch habe ich ganz gravierende Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Terrorismusbekämpfung mittels militärischer Gewaltanwendung in der Form, wie wir sie derzeit erleben müssen. Denn das Töten von Terroristen, Fundamentalisten, Islamisten oder sonstigen Feinden der zivilisierten Völker und die Vernichtung ihrer eher armseligen, jedenfalls schnell zu ersetzenden Infrastruktur stellt doch nur ein Kurieren von Symptomen dar. Es ändert nicht das Geringste an den Ursachen für das Entstehen von Denkschablonen und Handlungsmustern, mit denen fundamentalistische Märtyrer in ihren Heiligen Krieg gegen eine als gottlos und zutiefst ungerecht empfundene Welt ziehen.«
Doch anstatt innezuhalten, die Folgen bisheriger Weltpolitik der USA zu überdenken und diese gegebenenfalls grundlegend zu ändern, verkündete der amerikanische Präsident einen »Kreuzzug gegen den Terrorismus«, sprach von »jagen« und »ausräuchern«, schwor Rache und Vergeltung, forderte in Wildwest-Manier die Auslieferung des Hauptverdächtigen Osama bin Ladin »dead or alive«. Und weltweit stimmten die Regierungen in die Kriegsrhetorik ein, unter dem anfänglichen Beifall fast der gesamten Medienlandschaft.
Dabei starben an jedem Tag, an dem die silbernen Türme des World Trade Centers im Licht der aufgehenden Sonne noch erstrahlten, in der Dritten Welt vierzigtausend Kinder an den Folgen von Elend, Hunger, Krankheit und Krieg. Vierzigtausend – das sind fast zehnmal so viel Opfer, wie nach dem Attentat von New York zu beklagen waren. Aber hat man jemals davon gehört, dass die Börse an der Wall Street ihren Handel mit einer Gedenkminute für diese still und leise vor sich hinsterbenden Kinder in der Dritten Welt eröffnet hätte? Natürlich sind Entsetzen, Wut und Trauer über die »eigenen« Toten stets am größten, aber darf man deshalb den Tod der anderen schlichtweg ignorieren?
Die Rüstungsausgaben der USA erreichen in diesem Jahr die astronomische Summe von etwa 700 Milliarden DM – das ist mehr als das Fünfzehnfache des deutschen Verteidigungsetats. Diese ungeheuerliche Verschwendung von Ressourcen ist schlechterdings obszön. Nicht allein deswegen, weil die gewaltigste Militärmaschinerie der Weltgeschichte angesichts der eiskalten Rationalität, der kaum überbietbaren kriminellen Energie, der barbarischen Entschlossenheit und der selbstmörderischen Furchtlosigkeit der Täter grandios versagt hat, ja versagen musste. Sondern vor allem deswegen, weil bereits mit einem Bruchteil der für militärische Zwecke aufgewendeten Mittel die Ursachen und nicht nur die Symptome terroristischer Gewalt bekämpft werden könnten. Stattdessen stellt der amerikanische Kongress umstandslos, quasi aus der Portokasse, über 80 Milliarden DM für eine unsinnige Terroristenhatz mit militärischen Mitteln zur Verfügung. Man stelle sich die Entrüstung derselben Abgeordneten vor, hätte man von ihnen verlangt, die gleiche Summe für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Dabei ist offensichtlich, dass in einem Land wie Afghanistan, in dem seit Jahrzehnten der Bürgerkrieg tobt, Bomben und Raketen das letzte sind, was zur Friedensstiftung beitragen kann.
Robert Bowman, der als Kampfpilot der amerikanischen Streitkräfte während des Vietnamkriegs selbst Tod und Vernichtung vom Himmel schickte und heute als Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach, Florida, wirkt, geißelt die Kriegspolitik seiner Regierung mit folgenden Worten: »Anstatt unsere Söhne um die Welt zu schicken, um Araber zu töten, damit wir das Öl, das unter deren Sand liegt, haben können, sollten wir sie senden, um deren Infrastruktur wieder in Stand zu setzen, reines Wasser zu liefern und hungernde Kinder füttern.« Und er fährt fort: »Kurzum, wir sollten Gutes tun anstelle von Bösem. Wer würde versuchen, uns aufzuhalten? Wer würde uns hassen? Wer würde uns bombardieren wollen? Das ist die Wahrheit, die die amerikanischen Bürger und die Welt hören müssen.«
Nicht Krieg also kann den Frieden bringen, sondern allein Gerechtigkeit. In Abwandlung des altbekannten römischen Wahlspruchs muss die Devise demnach lauten: Wenn du den Frieden willst, so diene dem Frieden! Dieser Kampf für den Frieden muss um die Seelen und Herzen der Menschen in den islamischen Ländern geführt werden. Jede Bombe auf Afghanistan steigert den Hass und die Ressentiments gegen die USA in der muslimischen Welt ins Unermessliche. Jeder Raketeneinschlag dient der Stabilisierung von Regierungen im Nahen und Mittleren Osten, die durch und durch korrupt, menschenverachtend und alles andere als demokratisch sind. Doch all dies zählt offenbar nichts, wenn frühere Schurken heute als Alliierte benötigt werden. Die sich zivilisiert nennenden Nationen dieser Welt sollten nicht dem Jargon von Terror und Gegenterror verfallen. Angesichts der entsetzlichen Katastrophe von New York und Washington und der sich nun abzeichnenden, mindestens so grauenvollen Hunger- und Flüchtlingskatastrophe in Afghanistan sollten sie sich stattdessen mit aller Kraft der Verbesserung der unerträglichen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in jener Region der Welt widmen.
Ich habe afghanische Flüchtlingslager im Iran und Pakistan mit eigenen Augen gesehen, das Elend in den Palästinenserlagern des Südlibanon und die unbeschreibliche Armut der Menschen im Sudan. Zumindest ein Gedanke resultiert aus jenen Bildern, nämlich dass dies die Höllen sind, in denen jene zornigen jungen Männer geboren werden, die nur ein Wunsch beseelt: Ihre Hölle in unsere Hölle zu verwandeln.
Zugleich bin ich im Verlaufe vieler Reisen durch den Nahen und Mittleren Osten ungezählten Menschen – Männern und Frauen, Kindern und Alten – begegnet, die mir als »reichem Aleman« trotz eigener Armut dutzendfach großartige Herzlichkeit und überwältigende Gastfreundschaft entgegenbrachten. Es ist an der Zeit, etwas von diesen Erfahrungen zurückzugeben, und wenn es nur ein wenig Solidarität und die Gewissheit ist, dass dieser Krieg nicht mein Krieg ist!
Ungeachtet dessen versicherte eine rot-grüne Bellizisten-Mischpoke, allen voran Gerd Schröder, Joschka Fischer und Peter Struck Deutschlands »uneingeschränkte Solidarität« im Rahmen der unter dem Rubrum »Global War on Terror« anstehenden Globalisierungskriege. Die Nagelprobe für meine damalige, offen angekündigte Weigerung, den Krieg gegen Afghanistan und seine Menschen aktiv zu unterstützen, kam im März 2007, als ich den dienstlichen Befehl erhielt, den vom Deutschen Bundestag mit demokratischer Dignität abgenickten Einsatz von Tornado-Waffensystemen der Luftwaffe im afghanischen Mazar-i-Sharif logistisch zu unterstützen. Daraufhin meldete ich meinem Disziplinarvorgesetzten in einer offiziellen »Dienstlichen Erklärung«, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könne, den Einsatz dieser Waffensysteme in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner Auffassung nach nicht auszuschließen war, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu einem Bundeswehreinsatz beitrage, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie völkerstrafrechtliche Bedenken bestanden. Zugleich beantragte ich, auch von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der »Operation Enduring Freedom« – bei dieser Mission handelte es sich um den völkerrechtswidrigen Privatkrieg des Herrn Bush gegen den Terrorismus – standen, entbunden zu werden.
Mein damaliger Entschluss basierte auf mehreren Überlegungen:
Der Einsatz der Bundeswehr-Tornados in Afghanistan bedeutete notwendigerweise die Teilnahme Deutschlands an völkerrechtswidrigen und vom Nato-Vertrag nicht gedeckten Militäraktionen, denn die von jenen Waffensystemen ermittelten Aufklärungsergebnisse wurden an das amerikanische Oberkommando zu Zwecken der »Operation Enduring Freedom« weitergeleitet – kurz, die deutschen Luftwaffenmaschinen klärten jene Ziele auf, die anschließend von den Alliierten bombardiert wurden.
Die Kriegführung der USA im Rahmen der OEF war unter mehreren Aspekten völkerrechtswidrig, nämlich:
Sie ließ sich nicht mehr als Selbstverteidigung rechtfertigen und war nicht auf ein Mandat des Sicherheitsrats gestützt;
sie überschritt bei der Art und Weise, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, selbst die Ermächtigung der afghanischen Regierung Karzai;
sie war im Hinblick auf die in Kauf genommenen sogenannten Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung mit den völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht vereinbar, und
sie verstieß hinsichtlich der Behandlung von Gefangenen gegen fundamentale menschenrechtliche Grundsätze.
Indem die Bundesregierung den Einsatz der Tornado-Waffensysteme in Afghanistan beschloss, beteiligte sie sich aktiv an einem Kriegseinsatz, der auf der Grundlage einer Militärstrategie geführt wurde, die mit den fundamentalen Grundsätzen der UN-Charta und des Nato-Vertrages unvereinbar war.
Die Entwicklung, die der von einem größenwahnsinnigen US-Imperium inszenierte Krieg in Afghanistan im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre genommen hat, war unvermeidlich und bestätigt sowohl meine Einschätzung als auch mein entsprechendes Handeln vollauf. Denn die Bilanz nach all den Jahren des Krieges lässt sich nur mit einem Wort beschreiben: verheerend. Hunderttausende gezielt ermordete oder als sogenannte zivile »Kollateralschäden« abgebuchte Afghanen und Afghaninnen, Zigtausende euphemistisch zu »Gefallenen« umgelogene fremde Invasoren, ungezählte an Körper und Seele Verwundete auf beiden Seiten, exzessive Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, begangen an der afghanischen Bevölkerung, eine immense Selbstmordrate, vor allem unter den US-amerikanischen Angriffskriegern, von Tausenden Luftangriffen zerbombte Dörfer und Städte, von Munition aus abgereichertem Uran vergiftete Landstriche, Billionen von US-Dollar und Milliarden von Euros verschwendeter Steuergelder, von denen zuvörderst die Rüstungsindustrie, Logistikkonzerne und Söldnerfirmen des Westens profitiert haben, zudem von allgegenwärtiger Korruption vollkommen zerrüttete Staatsstrukturen in Afghanistan, eine als unfähiger Papiertiger demaskierte Nato sowie ein Westen, der nur noch seine moralische Bankrotterklärung offenbaren kann.
Diesbezüglich mag es lediglich eine Petitesse am Rande darstellen, dass die Nomenklatura der Sowjetunion immerhin nach zehn Jahren Krieg begriffen hatte, dass ein solcher in Afghanistan nicht zu gewinnen war, während die Ignoranten und Schwachköpfe in den Regierungskanzleien des Westens doppelt so lange benötigten, um zu dieser im Grunde a priori evidenten Erkenntnis zu gelangen. Wie hatte ein Taliban-Kommandeur diesbezüglich kürzlich angemerkt? »Ihr im Westen habt die Uhren, wir aber haben die Zeit.«
Was bleibt am Ende zu tun? Ganz einfach: großzügig und vor allem uneigennützig Solidarität mit dem afghanischen Volk üben und jedwede Unterstützung leisten, die für einen friedlichen Wiederaufbau des Landes so unabdingbar notwendig ist – und dies gepaart mit der Einsicht: Nie wieder Menschenrechtsimperialismus, nie wieder Krieg!
Der Autor war Oberstleutnant der Bundeswehr und ist Vorsitzender des Förderkreises Darmstädter Signal.