Die neue Berliner Theatersaison beginnt in diesem Herbst vielgestaltig. Der Spielplan kündigt gleich drei Neuinszenierungen von Brecht-Stücken an. Gleichsam als Kontrast zu den Neuaufführungen der »Dreigroschenoper« am BE und von »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« in der Komischen Oper bereichert das SiDat, das Simon Dach Projekttheater in Friedrichshain das Repertoire der hauptstädtischen Theaterszene mit Brechts gesellschaftskritischem Stück »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe oder Reich und Reich gesellt sich gern«. Musik Hanns Eisler.
Während sich Barrie Koskys Neuinszenierung der »Dreigroschenoper« um originelle Zugänge jenseits der seiner Meinung nach »abgegriffenen Kapitalismuskritik« gefällt, erleben wir in der von Peter Wittig präsentierten Parabel zupackendes politisches Theater. Mit den Mitteln eines mit Clownerien und Grotesken dargebotenen Spiels entfaltet sich die bissige schwarze Komödie, in der demagogische Machenschaften und Verführungen von Menschen in Krisenzeiten lustvoll vorgeführt werden.
Shakespeares »Maß für Maß« als Vorlage nutzend, hatte Bertolt Brecht das Stück 1932-34 im dänischen Exil geschrieben. Vor dem Hintergrund der Zeitereignisse, bestimmt von der erstarkenden faschistischen Bewegung in Deutschland, schrieb er ein zwischen Lehrstück und Dokumentartheater changierendes Stück, in dem es um manipulativ eingesetzte Maßnahmen zur Stabilisierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen mit den Mitteln völkischer Parolen und der Zuweisung von Sündenböcken geht.
In den folgenden Jahren mehrfach bearbeitet, wurde das Stück 1936 in Kopenhagen uraufgeführt. Begleitet von Hanns Eislers eingängigen Balladen sollte die Gesellschaftskritik um Aufstieg und Herrschaftsmechanismen des Hitlerregimes nach Brechts Vorstellungen spielerisch und elegant als »Gräuelmärchen« antidemokratischer Machenschaften dargeboten werden.
In der Alten Feuerwache im Kulturhaus Friedrichshain, etwas abseits vom großen Berliner Theaterbetrieb, kann man diese neue Brecht-Adaption nun ansehen. Das Publikum sitzt in der Studiobühne an kleinen runden Tischen. Vor Spielbeginn begrüßt der als Zirkusdirektor daherkommende Regisseur das Publikum, indem er ganz im Sinne Brechts einlädt, dem Bühnengeschehen entspannt zu folgen, wenn schon nicht rauchend, so aber nach Gusto mit einem Glas Wein. Die Bühne ist als Guckkasten mit schwarzem Tuch ausgeschlagen. An den Seitenwänden hängen verschiedene Hüte und andere Utensilien.
Fünf Schauspielerinnen und sieben Schauspieler kommen in unterschiedlich hellbraun gefärbten Latzhosen und Ringelstrümpfen auf die Bühne. Ihr Spiel beginnt mit einem sinnfälligen Bild. Unter einem zerrissenen Regenschirm stehend, kündigen die Staatslenker eines Fantasielandes einen Politikwandel an. Der Staat Jahoo steht am Rande des Zusammenbruchs. Die Schere zwischen arm und reich wird immer größer. Es herrscht Überproduktion bei den Pachtherren, und die Pächter sind zunehmend zahlungsunfähig. Unter dem revolutionären Zeichen der Sichel formieren sie sich zu einem Aufstand gegen die Verpächter.
Daraufhin kommen Vizekönig und Staatsrat überein, zur Rettung des Staates den skrupellos emotionslos agierenden Politstrategen Angelo Iberin (Anne Sophie Schleicher) um Hilfe zu rufen und ihn mit den Staatsgeschäften zu betreuen. Rasch entpuppt er sich als Marionette der Kapitalinteressen. Sein Trick: Die soziale Ungleichheit wird abgeschafft und durch biologisch begründete Unterscheidung ersetzt. Die Bewohner Jahoos werden nicht mehr in arm und reich klassifiziert, sondern aufgrund ihrer Physiognomie in Rund- und Spitzköpfe eingeteilt. Die Spitzköpfe werden als »fremde Elemente« gebrandmarkt und zu Sündenböcken der allseits empfundenen Misere erklärt. Dazu präsentiert sich Iberin wirkungsvoll als sozialer Hoffnungsträger und Freund der »armen Leute«.
Die unheilvolle Saat geht auf. Schließlich gehen die zwei bisher friedlich koexistierenden Bevölkerungsgruppen – die Tschuchen und die Tschichen – aufeinander los, indem sie sich gegenseitig den Hut vom runden oder spitzen Kopf reißen. Die aufsässigen Pächter wollen oben und unten endlich abschaffen. Die Pachtherren aber streben danach, ihre Privilegien zu erhalten und die revoltierende Bewegung der Pächter zu spalten.
Mit sichtbarer Spielfreude führt das Ensemble in verschiedenen, wechselnden Rollen das Panorama gesellschaftlicher Existenz- und Verhaltensweisen vor. Die Kleinbürger Frau Cornamontis, Frau Tomaso, Herr Palmosa und Herr Callamassi erhoffen sich von den neuen Machtverhältnissen die Verbesserung ihrer sozialen Position. Der tschichische Pachtherr de Guzman hat mit der in einem Bordell arbeitenden Tochter des Pächters Nanna ein Verhältnis. Er wird von Iberin vor Gericht gebracht und zum Tode verurteilt. Der als Rundkopf auftretende Pächter Callas klagt sein Recht gegen den Pachtherrn, einen Spitzkopf, vor Gericht ein. Er hält die neue Rassenlehre für ein gerechtes Mittel, seine eigene soziale Position zu verbessern. Gleichzeitig verbreitet Iberins Söldnertruppe Angst und Schrecken. Weil die in der aufständischen Bewegung vereinten Sichelleute im Bürgerkrieg zunächst die Regierungstruppen beherrschen, fürchten die Pachtherren um ihre Existenz und ersinnen Finten, das Blatt zu wenden. Ein Pächter kann in einen mit Stahlhelm und kugelsicherer Weste ausgestatteten Söldner verwandelt werden.
Dank Iberins »Gewaltkur« scheint die Krise des Staats überwunden. Die alten Machtverhältnisse sind wieder hergestellt. Guzman kommt frei und Iberin, der die Macht sichern half, wird als untergeordneter Staatsdiener weiter beschäftigt. Am Ende versammelt man sich wieder unter dem zerfledderten Regenschirm. Das Publikum wird animiert, die als »alternativlos« dargestellten Vorgänge zusammen mit den Spielern zu »entzaubern«.
Die handlungsbegleitenden Songs und Balladen von Hanns Eisler geben dem Abend eine besondere Note (musikalische Leitung Uwe Streibel). Das »Lied von der belebenden Wirkung des Geldes«, das anrührende »Nannas Lied«, in dem »Gott sei Dank« alles schnell vorüber geht, »auch die Liebe und der Kummer sogar«, oder die sozialkritische »Ballade vom Wasserrad«, in dem die gesellschaftlichen Bewegungen immer wieder durchmischt werden, »bis das Rad sich nicht mehr weiter dreht, wenn das Wasser endlich mit befreiter Stärke seine eigene Sach betreibt«, bleiben im Ohr und im Kopf.
Die Warnung: »wehret den Anfängen« sollte angesichts der deutlichen Krisenerscheinungen in den heutigen demokratischen Gesellschaften als Botschaft des Abends gehört werden.