Tudeley in der Nähe der Kleinstadt Tonbridge in der Grafschaft Kent. Der Besucher öffnet die schwere Tür der All Saints-Kirche. Wie in einer Vision taucht die Sonne das Gotteshaus in ein unergründliches Licht, wobei blau die alles beherrschende Farbe ist. Das größte Fenster im Ostflügel, das Memorial Window, zeugt augenscheinlich von einer Tragödie. Das Meer im unteren Teil ist unruhig, ständig in Bewegung, und es hat mal wieder Menschenleben gefordert. Eine Gestalt schwebt schwerelos durch das Wasser, es ist die 21-jährige Sarah d’Avigdor-Goldsmid. Im Moment des Todes breitet sie die Arme weit aus und bittet um göttliche Hilfe, um nicht wieder im Meer zu versinken. Hoffnung erscheint am Horizont, es ist ein Reiter auf einem roten Pferd, und rot, so verraten die Chagall-Biografien, hat der Künstler stets als Symbol für Freude verwendet. Nun hat das grausame Meer die junge Frau endgültig freigegeben, und Sarah erklimmt die Himmelsleiter. Vor ihr sieht man ihren Freund David Winn, der damals am 19. September 1963 ebenfalls vor der Kleinstadt Rye an der südostenglischen Küste ertrank. Er hat die Himmelsleiter schon fast erklommen, während Sarah noch auf dem Weg ist. Nach dem Aufstieg bildet die Farbe Rot einen Kreis der Freude. Ein gelber Engel verbreitet durch sein Strahlen Harmonie, und über allem wacht der gekreuzigte Heiland.
Die jungen Leute hatten keine Chance zu überleben. Eine plötzlich aufkommende Sturmbö ließ ihr Segelboot kippen, und sie wurden über Bord geschleudert. Patrick Pakenham, Sohn des Earl of Longford, musste mit ansehen, wie sein Freund David in den Fluten versank. Er selbst erreichte nach 20 Stunden im Wasser das rettende Ufer. Sarah konnte nur noch tot geborgen werden.
Nach der Trauerzeit wollten ihr die Eltern ein bleibendes Andenken setzen. Im Sommer 1961 hatte Sarah mit ihrer Mutter im Pariser Louvre eine Ausstellung mit Werken von Marc Chagall gesehen, der dort seine Entwürfe für die zwölf Synagogenfenster des Jerusalemer Hadassah Hebrew University Medical Center ausgestellt hatte. Design von Fenstern für Gotteshäuser war ursprünglich nicht das Metier von Marc Chagall, der erst im Alter von 70 Jahren mit dieser Kunstform begonnen hatte. Der russisch-jüdische Künstler schien mit seinen unkonventionellen, symbolreichen und vor allem interreligiösen Werken wie geschaffen dafür, das bleibende Andenken an Sarah zu gestalten. Sarahs Mutter, Lady Rosemary d’Avigdor-Goldsmid, gehörte der anglikanischen Kirche an, Sarahs Vater, Sir Henry Joseph d’Avigdor-Goldsmid, war jüdischer Herkunft, ein Nachfahre von Sir Isaac Goldsmid, der unter anderem für die Emanzipation der Juden in England gekämpft hatte und 1841 dort als erster Jude ohne vorherige Konversion zum Christentum in den (erblichen) Adelsstand erhoben worden war.
Für seine Dienste als Armeeoffizier im Zweiten Weltkrieg wurde Sir Henry 1945 das Military Cross verliehen. Er war eigentlich Bankier von Beruf, darüber hinaus aber auch noch als Friedensrichter und Parlamentsabgeordneter für seinen Wahlkreis von Tonbridge tätig. Zusammen mit seinem Vater, Sir Oswald Elim d’Avigdor-Goldsmid, war er einer von vielen Menschen, die auf der berüchtigten »Sonderfahndungsliste Großbritannien« – in England als Hitler’s Black Book bekannt – als Todfeinde gebrandmarkt wurden. Der Plan Hitlers war es, nach erfolgreicher Invasion der Insel alle auf der Liste genannten Menschen durch Sondereinheiten der SS aufzuspüren und zu inhaftieren, wozu es zum Glück nie kam.
Nach anfänglichem Zögern nahm Marc Chagall den Auftrag an, das Gedenkfenster zu entwerfen. Als er 1967 schließlich das fertige Ergebnis sah, war er so begeistert, dass er sich entschloss, auch die elf anderen Fenster der Kirche zu kreieren. »I will do them all!«, soll er euphorisch ausgerufen haben. So wurde die englische Dorfkirche All Saints von Tudeley die einzige Kirche auf der ganzen Welt, in der alle Fenster vom Meister des Kirchenfensterdesigns stammen. Sie sind, wie immer bei Chagall, stark von der Bibel beeinflusst, wobei sich die Symbolik zumeist nicht auf den ersten Blick erschließt. Angefertigt wurden sie von Charles und Brigitte Marq im Atelier Jacques Simon im französischen Reims. Abgeschlossen wurden die Arbeiten in Tudeley 1985, als das letzte der zwölf Fenster eingesetzt war. Nicht alle Gemeindemitglieder waren mit den neuen Fenstern einverstanden gewesen, weil man dafür die alten viktorianischen Fenster hatte entfernen müssen, die schließlich in die Sakristei umziehen mussten. Als hätte er noch auf die Fertigstellung gewartet, starb Chagall kurz danach am 28. März des Jahres in seiner Wahlheimat Frankreich.
Biblische Gestalten und Tiere bevölkern die elf kleineren Fenster der Dorfkirche, angelehnt an Psalm 8 aus dem »Buch der Psalmen«: »All die Schafe und Rinder, und die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer, und alles, was dahinzieht die Pfade der Meere.« Und immer wieder ist da dieses unglaublich tiefe Blau, das die Kirche besonders im Sonnenschein so übernatürlich strahlen lässt. Der Sog des Meeres war für Chagall nicht zuletzt auch ein Symbol für den Kreislauf des Lebens, der sich irgendwann unweigerlich seinem Ende zuneigt. Das war für ihn aber kein Grund zu verzweifeln, und auch die Trauer der Eltern über den Tod der Tochter wurde durch die Verinnerlichung des Bildes mit seiner tröstenden Botschaft vielleicht ein wenig gemildert.
Sechs Jahre nach dem tragischen Tod ihrer Schwester heiratete Chloe d’Avigdor-Goldsmid James Teacher, einen Nachfahren von William Teacher, dem Gründer der berühmten schottischen Whiskeymarke. 1981 verkaufte sie Somerhill, das sie von ihren Eltern geerbt hatte. Die Chagall-Fenster sind für die Ewigkeit. Sarah ist dort gut aufgehoben.