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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Pfade des Meeres

Tude­ley in der Nähe der Klein­stadt Ton­bridge in der Graf­schaft Kent. Der Besu­cher öff­net die schwe­re Tür der All Saints-Kir­che. Wie in einer Visi­on taucht die Son­ne das Got­tes­haus in ein uner­gründ­li­ches Licht, wobei blau die alles beherr­schen­de Far­be ist. Das größ­te Fen­ster im Ost­flü­gel, das Memo­ri­al Win­dow, zeugt augen­schein­lich von einer Tra­gö­die. Das Meer im unte­ren Teil ist unru­hig, stän­dig in Bewe­gung, und es hat mal wie­der Men­schen­le­ben gefor­dert. Eine Gestalt schwebt schwe­re­los durch das Was­ser, es ist die 21-jäh­ri­ge Sarah d’Avigdor-Goldsmid. Im Moment des Todes brei­tet sie die Arme weit aus und bit­tet um gött­li­che Hil­fe, um nicht wie­der im Meer zu ver­sin­ken. Hoff­nung erscheint am Hori­zont, es ist ein Rei­ter auf einem roten Pferd, und rot, so ver­ra­ten die Chagall-Bio­gra­fien, hat der Künst­ler stets als Sym­bol für Freu­de ver­wen­det. Nun hat das grau­sa­me Meer die jun­ge Frau end­gül­tig frei­ge­ge­ben, und Sarah erklimmt die Him­mels­lei­ter. Vor ihr sieht man ihren Freund David Winn, der damals am 19. Sep­tem­ber 1963 eben­falls vor der Klein­stadt Rye an der süd­ost­eng­li­schen Küste ertrank. Er hat die Him­mels­lei­ter schon fast erklom­men, wäh­rend Sarah noch auf dem Weg ist. Nach dem Auf­stieg bil­det die Far­be Rot einen Kreis der Freu­de. Ein gel­ber Engel ver­brei­tet durch sein Strah­len Har­mo­nie, und über allem wacht der gekreu­zig­te Heiland.

Die jun­gen Leu­te hat­ten kei­ne Chan­ce zu über­le­ben. Eine plötz­lich auf­kom­men­de Sturm­bö ließ ihr Segel­boot kip­pen, und sie wur­den über Bord geschleu­dert. Patrick Paken­ham, Sohn des Earl of Longford, muss­te mit anse­hen, wie sein Freund David in den Flu­ten ver­sank. Er selbst erreich­te nach 20 Stun­den im Was­ser das ret­ten­de Ufer. Sarah konn­te nur noch tot gebor­gen werden.

Nach der Trau­er­zeit woll­ten ihr die Eltern ein blei­ben­des Andenken set­zen. Im Som­mer 1961 hat­te Sarah mit ihrer Mut­ter im Pari­ser Lou­vre eine Aus­stel­lung mit Wer­ken von Marc Chagall gese­hen, der dort sei­ne Ent­wür­fe für die zwölf Syn­ago­gen­fen­ster des Jeru­sa­le­mer Hadas­sah Hebrew Uni­ver­si­ty Medi­cal Cen­ter aus­ge­stellt hat­te. Design von Fen­stern für Got­tes­häu­ser war ursprüng­lich nicht das Metier von Marc Chagall, der erst im Alter von 70 Jah­ren mit die­ser Kunst­form begon­nen hat­te. Der rus­sisch-jüdi­sche Künst­ler schien mit sei­nen unkon­ven­tio­nel­len, sym­bol­rei­chen und vor allem inter­re­li­giö­sen Wer­ken wie geschaf­fen dafür, das blei­ben­de Andenken an Sarah zu gestal­ten. Sarahs Mut­ter, Lady Rose­ma­ry d’Avigdor-Goldsmid, gehör­te der angli­ka­ni­schen Kir­che an, Sarahs Vater, Sir Hen­ry Joseph d’Avigdor-Goldsmid, war jüdi­scher Her­kunft, ein Nach­fah­re von Sir Isaac Golds­mid, der unter ande­rem für die Eman­zi­pa­ti­on der Juden in Eng­land gekämpft hat­te und 1841 dort als erster Jude ohne vor­he­ri­ge Kon­ver­si­on zum Chri­sten­tum in den (erb­li­chen) Adels­stand erho­ben wor­den war.

Für sei­ne Dien­ste als Armee­of­fi­zier im Zwei­ten Welt­krieg wur­de Sir Hen­ry 1945 das Mili­ta­ry Cross ver­lie­hen. Er war eigent­lich Ban­kier von Beruf, dar­über hin­aus aber auch noch als Frie­dens­rich­ter und Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ter für sei­nen Wahl­kreis von Ton­bridge tätig. Zusam­men mit sei­nem Vater, Sir Oswald Elim d’Avigdor-Goldsmid, war er einer von vie­len Men­schen, die auf der berüch­tig­ten »Son­der­fahn­dungs­li­ste Groß­bri­tan­ni­en« – in Eng­land als Hitler’s Black Book bekannt – als Tod­fein­de gebrand­markt wur­den. Der Plan Hit­lers war es, nach erfolg­rei­cher Inva­si­on der Insel alle auf der Liste genann­ten Men­schen durch Son­der­ein­hei­ten der SS auf­zu­spü­ren und zu inhaf­tie­ren, wozu es zum Glück nie kam.

Nach anfäng­li­chem Zögern nahm Marc Chagall den Auf­trag an, das Gedenk­fen­ster zu ent­wer­fen. Als er 1967 schließ­lich das fer­ti­ge Ergeb­nis sah, war er so begei­stert, dass er sich ent­schloss, auch die elf ande­ren Fen­ster der Kir­che zu kre­ieren. »I will do them all!«, soll er eupho­risch aus­ge­ru­fen haben. So wur­de die eng­li­sche Dorf­kir­che All Saints von Tude­ley die ein­zi­ge Kir­che auf der gan­zen Welt, in der alle Fen­ster vom Mei­ster des Kir­chen­fen­ster­de­signs stam­men. Sie sind, wie immer bei Chagall, stark von der Bibel beein­flusst, wobei sich die Sym­bo­lik zumeist nicht auf den ersten Blick erschließt. Ange­fer­tigt wur­den sie von Charles und Bri­git­te Marq im Ate­lier Jac­ques Simon im fran­zö­si­schen Reims. Abge­schlos­sen wur­den die Arbei­ten in Tude­ley 1985, als das letz­te der zwölf Fen­ster ein­ge­setzt war. Nicht alle Gemein­de­mit­glie­der waren mit den neu­en Fen­stern ein­ver­stan­den gewe­sen, weil man dafür die alten vik­to­ria­ni­schen Fen­ster hat­te ent­fer­nen müs­sen, die schließ­lich in die Sakri­stei umzie­hen muss­ten. Als hät­te er noch auf die Fer­tig­stel­lung gewar­tet, starb Chagall kurz danach am 28. März des Jah­res in sei­ner Wahl­hei­mat Frankreich.

Bibli­sche Gestal­ten und Tie­re bevöl­kern die elf klei­ne­ren Fen­ster der Dorf­kir­che, ange­lehnt an Psalm 8 aus dem »Buch der Psal­men«: »All die Scha­fe und Rin­der, und die Tie­re des Fel­des, die Vögel des Him­mels und die Fische im Meer, und alles, was dahin­zieht die Pfa­de der Mee­re.« Und immer wie­der ist da die­ses unglaub­lich tie­fe Blau, das die Kir­che beson­ders im Son­nen­schein so über­na­tür­lich strah­len lässt. Der Sog des Mee­res war für Chagall nicht zuletzt auch ein Sym­bol für den Kreis­lauf des Lebens, der sich irgend­wann unwei­ger­lich sei­nem Ende zuneigt. Das war für ihn aber kein Grund zu ver­zwei­feln, und auch die Trau­er der Eltern über den Tod der Toch­ter wur­de durch die Ver­in­ner­li­chung des Bil­des mit sei­ner trö­sten­den Bot­schaft viel­leicht ein wenig gemildert.

Sechs Jah­re nach dem tra­gi­schen Tod ihrer Schwe­ster hei­ra­te­te Chloe d’Avigdor-Goldsmid James Tea­cher, einen Nach­fah­ren von Wil­liam Tea­cher, dem Grün­der der berühm­ten schot­ti­schen Whis­key­mar­ke. 1981 ver­kauf­te sie Som­erhill, das sie von ihren Eltern geerbt hat­te. Die Chagall-Fen­ster sind für die Ewig­keit. Sarah ist dort gut aufgehoben.