Die schönen Tage von Elmau sind vorüber. Die selbsternannten großen sieben Demokratie-Beansprucher plus EU-Garnitur im Doppelpack haben ihr Show-Business absolviert. Bundeskanzler Olaf Scholz präsentierte per TV das Resümee mit der Mimik eines beim Abschreiben ertappten Schulbuben. Fast wie bestellt kam in Krementschuk ein russischer Raketeneinschlag in einem Einkaufszentrum als Stichwort zupass. US-Präsident Biden twitterte sogleich: »Der Angriff Russlands auf Zivilisten in einem Einkaufszentrum ist grausam.« In Madrid folgte mit dem Nato-Gipfel der 30 Staats- und Regierungschefs der nächste Akt.
Zuvor sei eine Erinnerung gestattet. Der Spanische Bürgerkrieg gilt als Auftakt zum zweiten Weltkrieg. Ab 1936 kämpften Truppen des putschenden Faschisten-Generals Franco gegen die 2. Spanische Republik, unterstützt vom faschistischen Italien Mussolinis und Nazi-Deutschland. Mit der Legion Condor wurden seit Ende des 1. Weltkriegs deutsche Soldaten erstmals wieder im Ausland eingesetzt. Die Wehrmacht erhielt ein Experimentierfeld für moderne Waffen. Franco hatte sich zuvor mit einem Hilfeersuchen an das Deutsche Reich gewandt. Auffälligkeiten zum Szenario des Maidan-Putsches 2014 in Kiew, die westliche Regie der fortwährenden Waffenlieferungen und die aufdringlichen Video-Zuschaltungen Selenskyjs sind unverkennbar. Der Hauptfeind wie damals Russland – allerdings heute von alltäglicher und weltweiter Kriegspropaganda in Bild und Wort gleichgeschalteter Medien begleitet.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg machte im Vorfeld des Treffens in der spanischen Hauptstadt als Stimme seines eigentlichen Dienstherrn in Washington mit dem Wörtchen historisch Publicity. Es werde die »größte Neuaufstellung unserer kollektiven Verteidigung seit dem Kalten Krieg«. Das Ergebnis selbst war alsdann nicht mehr überraschend. Vorwärtsverteidigung wie ehemals gegen den nicht mehr existenten Warschauer Vertrag, nur beschönigt als Vorneverteidigung.
Mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine stellte die heutige Russische Föderation, das muss klar gesagt werden, den USA und der Nato einen Blankoscheck für das Hochfahren zu einem potenzierten vorerst(?) Kalten Krieg aus. In dem neuen Grundlagendokument für politische und militärische Planungen wird Russland deshalb als »größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum« apostrophiert sowie China als Herausforderung in Stoßrichtung II. Stoltenberg sprach von einem »grundlegenden Wandel in unserer Verteidigung und Abschreckung«. Man werde Vorneverteidigung wie Luftverteidigung stärken und die Kampftruppen im östlichen Bündnisgebiet ausbauen. Zudem werde man künftig mehr als 300.000 Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft halten.
An der Ostflanke sollen die existierenden multinationalen Nato-Gefechtsverbände auf Brigade-Niveau ausgebaut werden. Die Truppen spezialisieren sich auf jeweils ein Territorium, wo sie Manöver abhalten und Depots anlegen. In Litauen sind es zurzeit 1600 Soldaten. Eine Brigade besteht in der Regel aus etwa 3000 bis 5000 Soldaten. Die Bundesrepublik hat bereits angekündigt, dass die Bundeswehr diese Kampftruppen in Litauen führen will. Die US-Streitkräfte in Europa werden auf mehr als 100.000 Soldaten aufgestockt und erhalten in Polen ein neues festes Hauptquartier. Vielleicht fällt die Wahl gar auf Hitlers »Wolfsschanze«? Die britische Insel wird mit zwei zusätzlichen modernsten F-15-Tarnkappen-Geschwadern bedacht. Die Bundesrepublik wird Standort für 600 US-Luftverteidigungskräfte mehr, was immer die sein mögen. Seit Jahrzehnten bleiben Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz, die ehemals die amerikanische und französische Besatzungszone bildeten, mit US-Kommandozentralen und Stützpunkten reich gesegnet. Von der US-Airbase Ramstein aus werden die militärischen Drohneneinsätze gesteuert.
Vergegenwärtigen wir uns eine bekannte Personalie (vgl. Ossietzky 09/2021, Hans-Jürgen Nagel: Die Ambitionen des Mr. Cavoli). Lange vor dem 24. Februar 2022, auch vor 2014 diente von 2001 bis 2005 ein gewisser Christopher G. Cavoli im Führungsstab der US-Streitkräfte als Russland-Direktor. Auf seinem letzten Posten, als Oberbefehlshaber des US-Heeres für Europa und Afrika mit Sitz in Wiesbaden, plante er akribisch Großübungen, bei denen aufwändig tausende Soldaten samt Ausrüstung über den Atlantik gebracht und in Europa verlegt wurden. 2021 kam von ihm Klartext: »Wir treffen Vorbereitungen, um bereit zu sein, zu kämpfen und zu gewinnen«, und er legte knallhart eine straffe To-do-Liste für Nato und EU vor. Die U.S. Army katalogisiere und teste die bestehende europäische Infrastruktur in diesen Übungen, um dann der Nato mitzuteilen, welche Verbesserungen notwendig seien. Die wiederum leite die US-Wünsche an die EU weiter, um ihr zu »helfen, ihre Infrastrukturgelder in Dual-Use (…) Infrastruktur zu leiten«. Bei militärischen Aspekten der EU-Infrastrukturmaßnahmen hätten die US-Militärs »ein Wörtchen mitzureden«. Die Herausforderung bestehe darin, »dass wir, als die Nato expandierte, in Territorium expandierten, das vorher der anderen Seite angehörte und dessen Militärinfrastruktur für Equipment des Warschauer Paktes ausgelegt und durchweg nach Westen ausgerichtet war. Wir brauchen dagegen Infrastruktur, die auf westliches Equipment ausgelegt und nach Osten ausgerichtet ist.«
Mit der Madrider Strategie werden seine Direktiven Praxis. Warum z. B. erst langwierige Transporte von Militärgerät, anstatt sie gleich an Ort und Stelle in Depots zu lagern? Weshalb keine Befehlsstrukturen in vorderster Linie, wenn Litauen und Polen willige Helfer sein wollen? Der russisch-ukrainische Krieg liefert einem befähigten Militär wie ihm endlich für ein bereits angedachtes Gefechtsfeld real verwertbare Ergebnisse in Sachen Logistik, Zielauswahl, gegnerischer Taktik, Waffeneinsatz, der Zielgenauigkeit russischer Raketen über weite Entfernungen, Lücken in der Verteidigung sowie der Luftabwehr, Tote und Verwundete, Soldaten wie Zivilisten eingerechnet, andere vorgebliche Kollateralschäden aller Art ebenso.
Einer der G7 ist Patron dieses Vier-Sterne-Generals: Joe Biden! Vor Wochen nämlich stand Cavoli bereits als neuer Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa (Eucom) und Nato-Oberbefehlshaber fest. Die übrigen 29 Nato-Mitglieder durften die Ernennung zum Supreme Allied Commander Europe lediglich abnicken. Der US-Senat gab am 24. Juni endgültig seine Zustimmung. Der russische-ukrainische Krieg braucht Männer wie ihn. Cavoli darf jetzt als Oberbefehlshaber im sogenannten Zentrum der geopolitischen Zeitenwende in Europa knallhart die USA und vornehmlich ihr europäisches Gefolge an der Ostflanke der Nato mobil machen und provokant aufstellen – bis hin zu einer dauerhaften Marine-Präsenz im Schwarzen Meer.
Pro forma und scheinheilig betont die Nato, sie sei weiterhin willens, Kanäle der Kommunikation mit der Regierung in Moskau offenzuhalten, um Risiken einzudämmen, eine Eskalation zu verhindern und die Transparenz zu erhöhen. Diese Worte sind eigentlich die Druckfarbe nicht wert, sie zu Papier zu bringen. Die inszenierte Einladung an Schweden und Finnland zur längst feststehenden Aufnahme in den Kriegspakt ist eine weitere Farce für sich. In der Pazifik-Region steht ein Nato-Kurs für Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland an.
Angesichts der Personalie Cavoli und seines obersten Befehlshabers im Weißen Haus in Washington ist Schlimmes und Schlimmstes zu befürchten. Behaupte später nur niemand, nicht gewusst zu haben, worauf der altneue Nato-Kurs in letzter Konsequenz und wie gehabt abzielt.
In Elmau hätte Japans Premier den US-Präsidenten an Hiroshima und Nagasaki erinnern sollen. Und Agent Orange in Vietnam? Bis heute leiden Millionen Menschen unter Spätfolgen des von der US Air Force eingesetzten Entlaubungsmittels mit dem hochgiftigen Dioxin. Noch immer werden Kinder mit schwersten Fehlbildungen geboren. Grausamkeit kennt eben zweierlei US-Maß.
Noch Fragen, Herr Bundeskanzler Scholz?